Dienstag, 11. April 2017

Die andere Seite der Hoffnung - Aki Kaurismäki

Die andere Seite der Hoffnung, Aki Kaurismäki hat einen Film gedreht, einen Film über einen Syrer aus Aleppo, der sich eher zufällig, nach langer schwieriger Reise, in Finnland wiederfindet, dort Asyl beantragt, abgelehnt wird, wieder flieht und dann so Einiges erlebt. Das Ambiente stammt aus den häßlichn Siebzigern.
Was soll ich sagen? 
Ein großer Regisseur hat einen nicht guten Film gemacht, ja, gewisse Ähnlichkeiten mit einem öffentlich-rechtlichen gutgemeinten Fernsehfilm zur "Flüchtlingsproblematik" sind zu finden. Wenig filmisch-erzählende Bilder, viel Erklärtexte zwischen den langen bedeutungsvollen schweigenden Einstellungen, Gute sind gut, Schlechte sind schlecht. Die Typen sind eigenartiger, der Humor dunkler. Aber sonst? Ich bin viel lieber begeistert.

Merkwürdiges Interview mit dem Regisseur (zu einem anderen Film) 

Finnland. Ein Land über das ich nahezu nichts weiß und das mir sehr exotisch erscheint. Vor Jahren saß ich in Paris in einem Cafe und verfolgte fasziniert einen in äußerst aggressiv klingendem Finnisch geführten Ehekrach, bei dem die beiden beteiligten sehr blonden Finnen die ganze Zeit über, circa eine Stunde lang, ihre Nokia-Telefone nicht aus den Augen ließen. 
Was weiß ich über Finnland? Karusmäki, die Leningrad Cowboys, finnischer Tango, Apocalyptica, Männer-Schreichöre(supergeil!), finnische Schüler schneiden bei der Pisa-Studie exzellent ab, die Winter sind sehr dunkel, es wird heftigst getrunken, die Hauptstadt heißt Helsinki, der finnisch-russische Winterkrieg 1939, aber auch: über den zugefrorenen Ladogasee wurde Nahrung für das hungernde Leningrad transportiert, Nokia, die finnugrische Sprache völlig, gänzlich fremd klingend, Samen und Lappen wohnen dort und Rentiere, Brechts "Puntila" (ursprünglicher Titel: „Der Gutsherr Iso-Heikkilä und sein Knecht Kalle" Kritik der Uraufführung) wurde dort geschrieben und meine Mutter hat dort ein Jahr auf ihrer Flucht vor den Nazis überleben können, dank Hella Wuolijoki. Und sie konnte noch mit 80 auf Finnisch bis drei zählen. Iksi, kaksi, kolme.

Überraschende Fakten über Finnland




Zu dem finnischen Schreichor: Mieskuoro Huutajat (Männerchor Die Rufer) ist ein finnischer Männerchor, mit der Besonderheit, dass die Mitglieder nicht im klassischen Sinne singen, sondern überwiegend rufen, schreien, brüllen oder laut sprechen. 1987 in der nordfinnischen Industriestadt Oulu von etwa 20 Männern, die „offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten“, gegründet, hat es der Chor mittlerweile zu internationaler Berühmtheit und Auftritten in aller Welt gebracht. Charakteristisch für die Huutajat sind Krawatten aus schwarzem Gummi zu schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Geleitet wird der mittlerweile auf 30 Mitglieder gewachsene Chor von dem Dirigenten und Komponisten Petri Sirviö.

Kalinka - geschrien

Montag, 10. April 2017

der die mann

Die Lebenschancen eines so schmalen, so verstreuten, so provisorischen, so etüdenhaften Werkes sind gering. Die es kennen, werden es nicht so bald vergessen. Aber das hilft ihm (dem Autor) wenig.
E. Zimmer in Der ZEIT über Konrad Bayer

Werner Fritsch hilft ihm (Konrad Bayer) viel.

Meine Trauer über das Ende der Volksbühne, wie ich sie liebe, können wir als gegeben nehmen, darum heute hier nur über den Theaterabend. Nur. Haha. 

Sieben Schauspieler, vier Musiker, eine gelbe Riesentröte, eine rote Treppe, ein spiegelnder Bühnenboden, ein weiter weißer Gipshorizont, ein Bungee-Seil (grün), drei verbiegbare Mikrophone (rot, blau, gelb), ein nichtbiegbares (silber mit rotem Spuckschutz), eine riesige, elegante Drehbühne, gefühlte 100 unterschiedliche präzise Lichtstimmungen, Texte des österreichischen Nachkriegs-Dadaisten Konrad Bayer (nach dem zweiten, der beiden europäischen Großmetzeleien des zwanzigsten Jahrhunderts) und Handwerk, Timing, Denken, Musikalität, Furchtlosigkeit, Schwitzen, Kraft und Artistik. 
Der unbedingte Wille zu unterhalten auf höchstem Niveau, wobei überhalten, gäbe es das Wort, genauer beschreiben würde, was hier stattfindet.

Zwischendurch ein Meckerabsatz: Glätte passiert hier und da, zu genaues Wissen um Wirkung winkt aus der Zukunft, der Applaus war, für meinen Geschmack zu militant-zirzensisch organisiert. Der sehr verehrte Herr Fritsch könnte irgendwann einmal too cool for school werden. Too cool for school, a state in which a person thinks him or herself superior to everyone else in a given group or in general, sagt der Urban Ditionary. Hier am passendsten übersetzt, er könnte schlauer werden, als gut für ihn ist.

Aber, aber, aber, mannomann, können die gut, was sie tun. Sie können es, weil sie es geübt haben. Sprechen, singen, sich bewegen, nicht alle können alles gleich gut, aber jeder etwas sehr gut und jeder/jede bekommt den Raum, um sein/ihr Talent, ihren höchstpersönlichen Irrsinn, uns, zu unserem Vergnügen, anzubieten. 

Bedenkend, dass Komik, meines Erachtens, zu den verachteten Künsten des heutigen deutschen Theaters gezählt wird, könnte man Herbert Fritsch, wenn er nicht dennoch so erfolgreich wäre, zu den durch Harakiri gefährdeten Regisseuren unserer Zeit rechnen. Wäre er nicht so unverschämt, würde man ihn töten oder tiefmitleidig zur Selbsttötung überreden. Ich bin froh, dass Überdruß nicht sein Hauptthema ist. Und auch nicht der Mangel an Dramatik in unserer Zeit. Denn ich glaube, jede Zeit kann ihre Tragödien nur für sich selbst definieren. Postdramatik gibt es ausschließlich für angstgeschüttelte und gleichzeitig zutiefst gelangweilte Dramaturgen. Postdramatisch wird es erst dann werden, wenn wir alle verschwunden sind. Drama ist eine den Menschen eigene Sicht auf ihre Erlebnisse, die demnach erst mit den Menschen verschwinden wird. Das Hauptkennzeichen des Dramas nach Aristoteles ist die Darstellung der Handlung durch Dialoge, sagt Wiki. Und solange wir Menschen existieren reden wir miteinander, versuchen wir, uns zu verständigen, allen ungeheuren Widerständen zum Trotz. Mich macht dieses Gefasel über das Ende des Dramas, der Unmöglichkeit der Tragödie ganz kirre, was erlauben sich übersättigte Theaterwissenschaftler, wenn sie ihnen unbekannten Menschen, die Fähigkeit zum Leiden absprechen?

Wenn Annika Meier, nachdem sie noch am Gummiseil kopfüber hängend Poesie stotternd, wieder Boden unter den Füßen hat, macht sie noch die Entfesselung aus dem Seil zum Vorgang voll Witz und Würde. Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke, Hubert Wild - Hut ab, Augen auf, Danke sagen. Die Pilzkopfperücken saßen auch am Ende noch fest, aber die grauen Anzüge waren an einigen Körpern nur noch schweißdurchtränkte Lappen.
Dada. DADA. Konrad Bayer, geboren 1932 in Wien, sechs Jahre vor dem Anschluß, gestorben, durch Selbsttötung im Jahr 1964, im Alter von zweiunddreissig Jahren. Er konnte nicht mehr an die Möglichkeit der Verständigung glauben. Er befand sich im Zustand der Post-Dramatik.


http://www.deutschlandfunk.de/zum-50-todestag-von-konrad-bayer-die-qual-der-sinnlosigkeit.871.de.html?dram:article_id=299891

http://www.zeit.de/1964/43/erinnerung-an-konrad-bayer

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13845:grimmige-maerchen-herbert-fritsch-blaettert-am-schauspielhaus-zuerich-durch-vergessene-seiten-von-grimms-maerchen&catid=38&Itemid=40

Samstag, 8. April 2017

Charles III. an der bremer shakespeare company

Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.
Churchill, Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947, Sitzungsprotokoll

Was geschieht, wenn unsere demokratiefreie Vergangenheit, die gar nicht weit zurückliegt und noch heute Realtität in vielen Teilen unserer Welt ist, auf unsere verunsicherte mitteleuropäische Gegenwart trifft - es kommt es zu erschreckenden Verwerfungen. 
Demokratie ist anstrengend, verlangt Informiertheit, Interesse und ein Mindestmaß von Intelligenz und, UND ich muß aushalten, dass meine Überzeugungen mit vielen anderen koexistieren müssen.
Monarchie, Diktatur, da wo einer entscheidet und ich muß, will ihm vertrauen, kann dann wie eine Erleichterung erscheinen, Verantwortung wird mir abgenommen, ich kann mich jemandem anvertrauen, mich ihm faul und verantwortungslos überlassen. 
Das beschäftigt mich gerade sehr, weil ich an mir selbst unwillig, garstige, wütende , nur noch reagierende Züge bemerke. Es grämt mich.
Teile meiner Mitbevölkerung, irgendwann einmal aus der Türkei stammend, ich stamme ja auch irgendwann aus Vorderasien, laufen herum und bejubeln einen Diktator in spe, der die Türkei, in der sie selbst nie gelebt haben,  in eine Autokratie umwandeln möchte. Er weiß, was gut ist für sein Land und seine Bürger. Und sie jubeln. Warum? Warum? Sie wollen nicht zurück in das Land ihrer Eltern, Großeltern, nach Anatolien, aber aus der Ferne wünschen sie sich dort ein nur äußerlich modernisiertes Mittelalter und verachten gleichzeitig die ungelenke, fehlerhafte Neuzeit in der sie doch leben. Ja, wir haben es nicht geschafft, die Bedingungen für eine gute Integration zu schaffen, Aber, ja, auch sie haben sie nicht gewollt. Ich lerne die Sprache meines neuen Landes nicht, ich mißtraue ihren Gebräuchen, ich nehme, was mir geboten wird und nehme übel, was mir verwehrt wird. Auf der anderen Seite, der der sogenannten Schon-Immer-Deutschen ist es allerdings auch nicht besser.

Es gibt ein englisches Sprichwort, das besagt, das man seinen Kuchen nicht gleichzeitig behalten und essen kann. Das trifft es. Beide Seiten müssen Kompromisse eingehen. 

CHARLES III.

Queen Elisabeth stirbt, ihr Sohn Charles folgt ihr auf dem Thron.
Dies die Ausgangssituation des Stückes von Mike Bartlett, das 2014 in London Premiere hatte. Die Figuren sind mit wenigen Ausnahmen und auf eigenartige Weise bekannte Bewohner der Regenbogenpresse, die Worte aber in Blankversen. Die Rainer Iversen großartig, mit Melodie und Witz und wachem Ohr für modernen Slang, ins Deutsche hinübergetragen hat.

Die Realität: 1948 wurde Charles geboren, seit 1952 ist seine Mutter Königin von England,
Elisabeth die Zweite, von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Königreiche und Territorien, als da wären:
Antigua und Barbuda, Australien, die Bahamas, Barbados, Belize, Grenada, Jamaika, Kanada, Neuseeland, Papua-Neuguinea, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, die Salomonen und Tuvalu; Oberhaupt des Commonwealth, Verteidigerin des Glaubens. 
Charles ist also seit 65 Jahren Kronprinz, länger als ich lebe, und ich bin schon ziemlich alt. 

 
Das Stück: Warten, warten, warten. Die Königin ist tot, es lebe der König. Jetzt.

His Royal Highness The Prince Charles Philip Arthur George, Prince of Wales, Duke of Cornwall, Duke of Rothesay, Earl of Carrick, Earl of Chester, Baron of Renfrew, Lord of the Isles, Prince and Great Steward of Scotland, Royal Knight Companion of the Most Noble Order of the Garter, Extra Knight of the Most Ancient and Most Noble Order of the Thistle, Grand Master and Principal Knight Grand Cross of the Most Honourable Order of the Bath, Member of the Order of Merit, Knight of the Order of Australia, Companion of the Queen's Service Order, Member of Her Majesty's Most Honourable Privy Council, Aide-de-Camp to Her Majesty, noch nicht gekrönt, aber schon mit königlichen Aufgaben betraut, hat ein Problem. Ein Gesetz zum Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff der Presse ist vom Parlament verabschiedet worden und muß nun, ein rein formaler Akt, vom König unterzeichnet werden. Aber Charles kann nicht unterschreiben. Die Freiheit der Presse ist ihm ein so hohes Gut, dass er trotz schrecklicher eigener Erfahrungen, Diana, oder besser drei gespenstische Dianas erscheinen im Hintergrund, sich einfach nicht dazu bringen kann. Eine Lappalie, die sich zur Staatskrise auswächst, und zur privaten Sinnkrise des so sehr spät in das Amt gelangten Prinzen, auf das er sein ganzes Leben hin ausgebildet, ausgerichtet worden ist. Nicht mehr Erwartung, sondern Entscheidung.

Shakespearsche Konstellationen treffen auf demokratische Bürokratie und die Macht der Medien. Ein Zusammenstoß.



Das Bühnenbild ist gbestens geeignet für eine präzise, sezierende Versuchsanordnung, die Spieler, ungübt in Boulevardtheatercharme, aber zuhause bei Shakespeare, verweigern leichfertige Imitationen, spielen Theater. Das Publikum, gekommen, um die Bildzeitung oder Gala auf der Bühne zu sehen, bemerkt, erstaunt und erfreut, dass hier mehr verhandelt wird.
Ein paar Striche hätten gut getan, aber ich bin ungeduldig.
Der Applaus war heftig. Das Haus voll. So wie es sein soll.

Auch sehr zu empfehlen: THE QUEEN ein Film (2006) von Stephen Frears mit Helen Mirren in der Titelrolle.

Donnerstag, 6. April 2017

Axel Hacke, ein weißer Neger, ein kleiner König und dann auch noch Gott.

Mit Lesungen ist das so eine Sache. 
Schauspieler lesen manchmal Texte großer Dichter, manche zelebrieren sie, andere illustrieren sie, einige nuscheln sie, hasten sie, haspeln sie. Es gibt von starken Gefühlen geschüttelte Lesende und die in Heiner-Müller-Flächiger-Lese-Manier-Vortragenden. Die letzteren bevorzuge ich. Denke was Du sagst und überlaß den Rest den Zuhörenden. Nun ja, Geschmäcker, sagt der Bäcker und spuckte in die Semmeln.
Dichter und Autoren wiederum stellen ihre Werke vor und können dies ganz unterschiedlich gut. Ein in der DDR sehr geehrter Poet verfiel beim Lesen eigener Arbeiten in das tiefste vorstellbare Dresdnerisch seiner Kindheit, was sich unvorteilhaft auf die Verständlichkeit zum Einen und den Genuß seiner Lyrik zum Anderen auswirkte. Heiner Müller hat wirklich toll gelesen, zögerlich ohne langsam zu werden, als würde er nochmal überdenken, was er da verfasst hatte und es nur zitieren. Sehr klar, sehr ein Angebot zum Selberdenken.
Friedrich Schiller las seinen Mitkadetten "Die Räuber" vor und soll sich derartig in die tragischen Verwerfungen seiner Figuren hineingesteigert haben, dass er, zuerst verstärkt Spucke produzierte, zunehmend in Zuckungen verfiel und dann ohnmächtig zusammenbrach. Wenn man nun noch bedenkt, dass er gewiss eine Variante des Schwäbischen des 18. Jahrhunderts sprach...



https://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/schwaben/museen/wlb/schiller/vorlesenb.htm

Heute abend las Axel Hacke bei den Wühlmäusen. Ein Spaß. Der Mann ist charmant, klug, albern und liest die eigenen Worte mit Witz und Ironie. Ich liebe seinen "Weißen Neger Wumbaba" und habe mich furchtbar aufgeregt, als eine Gruppe leicht hysterisierter PCler das Einstampfen eben diesen Buches verlangten, weil auf dem Umschlag ein weiße Neger, wie Herr Hacke heute sagte, gerade im Begriff ist aus den Wiesen zu steigen.

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Neger Wumbaba. 



Hacke ist tricky, knifflig, was heißt, er arbeitet unterschwellig mit überraschenden Kontrasten, Absurdität, poetische Phantasie trifft hart auf größtmögliche Alltäglichkeit. Im Laufe des Abends ließ er immer mehr dunklen Humor zu. Ich ahne, dass eine Flasche Wein oder der richtige Gesprächspartner, sehr bald der Hackeschen Monty Python Variante begnen würde.

Für Interessierte: 
Der weiße Neger Wumbaba 1 - 3
Der Kleine König Dezember
Die Tage, die ich mit Gott verbrachte

Alle Bücher sind von Michael Sowa illustriert worden.

Es folgt, eine Kolumne zum fiktiven Flughafen Berlin-Brandenburg.

http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/45787/ 

Übrigens, das Bürgerbegehren zum Volksentscheid den Erhalt des real existierenden Flughafens Tegel betreffend, ist erfolgreich gewesen.
Ob der Flughafen Berlin Tegel auch nach der seit Jahren verzögerten Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) erhalten bleibt, sollen die Berliner in einem Volksentscheid bestimmen. Es lägen "204.263 gültige Zustimmungserklärungen" für ein Volksbegehren vor, sagte die Landesabstimmungsleiterin Petra Michaelis-Merzbach. Das seien 30.012 Unterschriften mehr, als nötig gewesen wären. Als möglicher Termin für den Volksentscheid gilt der Tag der Bundestagswahl am 24. September. (Zeit online) 

http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/liste/l/5

Montag, 3. April 2017

Moses ist auch so ein schwieriger Punkt


Ich finde mich immer noch tief eingebuddelt in die Bibel. Ein immenser Sog geht von diesem Buch auf mich aus. Dies ist meine Mythologie, jede dieser Geschichten wirkt bis in meine Zeit, in mein Leben hinein. Ein hallendes Echo aus Zeiten lange vor mir, ein Schatten der auf mir liegt, der ich doch Atheist bin. Wir alle, Juden, Christen, Muslime & Abtrünnige tragen diese Geschichten in unserem zutiefst verstrittenen Unterbewußtsein. Manche rühren mein Herz, andere lassen es erstarren.
 
Moses von Michelangelo Buonarroti, Grab von Julius II, San Pietro in Vincoli, Rom
 
Ein einsamer Gott schenkt einem Volk, dass er sich unter mehreren möglichen Völkern als sein bevorzugtes ausgesucht hat,  ein ziemlich großes Stück Land. Sie müssen Vieles erleiden, bevor sie das Land erreichen,  Hungersnot, Fronarbeit, Tötung der männlichen Kinder in Ägypten, vierzig Jahre Wanderung durch die Wüste, aber nun sind sie sicher, dass alles gut werden wird. Sie erreichen das versprochene Land, nur leider wohnen dort dummerweise schon andere Völker. Was folgt ist eine Landnahme voll wunderbarster Geschichten und blutiger Attacken, überdeckt von einer dicken Schicht roher Gewalt und selbstgerechter arroganter Fühllosigkeit.
 
(5. Mose 21,18-21)
Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe.
 
(4. Mose 31,14-15)
Und Mose wurde zornig über die Hauptleute des Heeres, die Hauptleute über tausend und über hundert, die aus dem Feldzug kamen, und sprach zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen leben lassen?

(4. Mose 31,17-18)
So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.

(5. Mose 20, 10-18)
Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir die Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung, die du dort vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören. Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat,damit sie euch nicht lehren, alle Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott, sündigt.

(5. Mose 7, l-3)
Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringet, darein du kommen wirst, dasselbe einzunehmen, und ausrottest viele Völker vor dir her, die Hethiter, Girgasiter, Amoriter, Kananiter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind denn du: Und wenn sie der Herr, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du sie verbannen, dass du keinen Bund mit ihnen machest, noch ihnen Gunst erzeigest. Und sollst dich mit ihnen nicht befreunden: eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen, und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen.

(5. Mose 32, 42)
Ich will meine Pfeile mit Blut trunken machen, und mein Schwert soll Fleisch fressen, mit dem Blut der Erschlagenen und Gefangenen, von dem entblößten Haupt des Feindes.

(5. Mose 6, 10 -11)
Dann wird er dir geben, große, schöne Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllt hast, und gemeißelte Brunnen, die du nicht gehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast; und du wirst essen und satt werden.

(3. Mose 24,16)
Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben;
die ganze Gemeinde soll ihn steinigen.
Ob Fremdling oder Einheimischer,
wer den Namen lästert, soll sterben.

Sonntag, 2. April 2017

Jewgenij Jewtuschenko ist gestorben.



Jewgenij Jewtuschenko
Babij Jar
übersetzt von Paul Celan

Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang - der eine unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch:
die Spuren der Nägel.
Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.
Ein Tritt! mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe - umsonst.
«Hau den Juden, rette Rußland!» -:
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Mein russisches Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde - ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die nieder-
trächtigen, daß
sie großtun mit diesem Namen:
«Bund des russischen Volks»!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-
durchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe,
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter - verboten.
Der Himmel - verboten.
Aber einander umarmen, leise,,
das dürfen, das können wir noch.
Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher...
Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum am,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.
Und bin - bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -:
ich. Jedes hier erschossene Kind -:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Jude.

Aus: Paul Celan: Gesammelte Werke.
Bd. 5. Übertragungen II. Frankfurt/M. 2000. S. 288ff.


Jewgeni Jewtuschenko

Bild: Morgenstern, Klaus (Fotograf) (2000)

Deutsche Fotothek

Samstag, 1. April 2017

Adlershof, berlinisches Ausland

Adlershof [-ˈhoːf] (Aussprache: endbetont, damit ungleich zum nahegelegenen Adlergestell) ist ein Berliner Ortsteil im Bezirk Treptow-Köpenick. Bis zur Verwaltungsreform 2001 war es ein Ortsteil des ehemaligen Bezirks Treptow. 
...
Nach Gründung der DDR wurde in Adlershof die Akademie der Wissenschaften der DDR angesiedelt, die viele Institute der angewandten Forschung (Chemie, Elektronik, Kosmosforschung) beherbergte. Ein Radioteleskop mit 36 Meter Durchmesser fand hier ebenfalls einen Standort.
Auch das Fernsehen wurde am Standort platziert – von 1950 bis 1952 entstand das Fernsehzentrum Adlershof nach Plänen von Wolfgang Wunsch. In den neuen Studios ging am 21. Dezember 1952 erstmals der Deutsche Fernsehfunk (DFF) auf Sendung. Bis Anfang 1990 war in Adlershof auch ein Teil des Wachregiments Feliks Dzierzynski der DDR-Staatssicherheit (Gesamtstärke 12.000 Mann) stationiert. Das Regiment nutzte den ehemaligen Flugplatz als Munitionslagerplatz, für die „militärische Körperertüchtigung“ und als Paradeübungsstrecke. Auch das Akademie- und das Fernsehgelände waren in dieser Zeit eingezäunt, sodass diese Flächen faktisch losgelöst von den Wohngebieten auf der nordöstlichen Seite des Bahndamms existierten.
Wiki

Für uns Schauspieler war Adlershof, endbetont, die S-Bahn-Station, an der man ausstieg, um dann beim Fernsehen der DDR zu arbeiten. Aufnahmestudios, Redaktionen, Einlass nur mit Personalausweis der DDR.

Heute klingt das viel schicker:
Am wichtigsten Wissenschafts-, Wirtschafts- und Medienstandort Berlins erwarten Sie zehn außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, sechs Institute der Humboldt-Universität und rund 1.000 technologieorientierte Firmen.
http://www.adlershof.de/

Ich, Bewohner der Berliner Mitte, nehme die U-Bahn Nummer 8 zur Hermannstrasse, steige irrtümlich am Herrmannplatz aus, korrigiere meinen Fehler, und nehme dann die Ringbahn in Richtung Schönefeld, in die Richtung unseres gefürchteten, geradezu mythisch-gehassten Flughafens, von niemandem hier erwünscht, ewig im Bau, unfassbar teuer, wahrscheinlich nie vollendet, Gott schütze Tegel! 
Adlershof, uneinladend, die Gebäude sind DDR-typisch, nur ist die Mauer, die das alte Fernsehgelände umgab, mit der anderen schrecklicheren Mauer weggegefallen. Neubauten, eigenschaftslos, die Strassen sind breiter, als es das Verkehrsaufkommen verlangt, Fußgänger gibt es nur im Rhythmus der ankommenden S-Bahnen.
Und hier, in der Moriz Seeler Strasse befindet sich ein kleines Theater. 

Moriz Seeler (geboren als Moritz Seeler; * 1. März 1896 in Greifenberg in Pommern; am 15. August 1942 in das Ghetto Riga deportiert) war ein deutscher Theaterregisseur, Schriftsteller, Filmproduzent und Opfer des Holocaust. Wiki

Was für eine Berufsliste. Als wäre Opfer des Holocaust nur ein weiterer Schritt auf seiner Karriereleiter gewesen. Er wurde von Else Lasker-Schüler geehrt, arbeitete mit Hollaender, Bronnen und Brecht zusammen, uraufführte Marie-Louise Fleisser, produzierte "Menschen am Sonntag", einen halbdokumentarischen Film, den man gesehen haben sollte.

In der von Seeler gegründeten und geführten Produktionsfirma „Filmstudio 1929“ wurde 1929 der halbdokumentarische Stummfilm "Menschen am Sonntag" hergestellt, das Filmplakat wies Moritz Seeler Leiter, Robert Siodmak Regisseur, Billie Wilder Manuskript, Eugen Schüfftan Kamera aus, weitere, auf dem Plakat ungenannte Mitarbeiter waren Curt Siodmak, Edgar G. Ulmer und Fred Zinnemann. Die Schauspieler waren außer Valeska Gert und Kurt Gerron Amateure. Wiki


Jüdische Flüchtlinge und spätere Hollywood-Größen in erstaunlich großer Zahl für nur einen Film. 
Wo wären wir heute, wenn all diese Leute nicht ermordet worden wären, oder in glaubhafter Furcht unser Land verlassen hätten müssen?
Und nun endet sein Name, Moritz Seeler, als Nebenstrasse in Adlershof, wo Kathrin Schülein und ihr Team ein kleines Theater am Leben halten. Gegen große Widerstände. Fürs erste scheinen sie gerettet und eine Freundin hat dort ein ganz überraschendes und beglückendes Konzert gegeben. In Love and Grave with Cash and Cave. Ich habe sie als gradlinige, unruhige und erfreulich ehrgeizige Spielerin vor vielen Jahren kennengelernt, jetzt hat sie ihre Stimme gefunden.

Freitag, 31. März 2017

Ein kleiner Italiener und Berlin-Mitte liebevoll gemischt

Giannis Pasta Bar in der Schönhauser Allee 186 A, 
nur zwanzig Meter weg vom Rosa-Luxemburg-Platz

Ganz klein, ganz fein. 
Eine Theke überfüllt mit verführerischen Antipasti, dahinter und drumherum Regale mit verkäuflichen Delikatessen und Weinflaschen, einige Tische, bei gutem Wetter auch draußen, alles ein bisschen eng und sehr heimelig. Es ist hier immer voll. 
Die Mahlzeiten kosten um die 10 Euro, werden frisch zubereitet und haben ohne Zweifel ihre Ursprünge in der Küche einer rundlichen Italienerin mit mehreren Kindern, wenn auch der Koch hier ein Mann ist. Das ist kein Sexismus, sondern eine Aussage meiner Geschmacksnerven. 
Nix besonderes, einfach nur gut. 
Meine Reinigung ist nebenan, die ist auch prima - Cleanteam Berlin - blödsinniger Name, aber guter Service zu halbwegs guten Preisen.
Meine Gegend, die Mitte von Berlin-Mitte hat einen dubiosen & schlechten Ruf als Touristenspielplatz, ist sie auch, aber sie ist auch sehr lebendig. 
Mein zauberhafter DHL-Postbote spricht perfektes Berlinerisch, mitlerweile eine Rarität und kennt die Namen aller seiner Kunden. Wohingegen überforderte Amazon-Zusteller ihre Pakete einfach irgendwo fallen lassen und ich lerne unfreiwillig beim Auffinden ihrer für mich bestimmten "Verluste" recht viele Leute kennen. 
In der Sophienstrasse führt ein junges Paar, die meines Wissens nach, beste Bäckerei der Stadtmitte, im Kaufvertrag mit der vorherigen uralten Bäckerin haben sie sich verpflichtet, deren Backrezepte beizubehalten. Ostbrötchen, ganz ohne Treibstoffe, wie die Werbung in den Neunzigern sagte. In der gleichen Strasse ein Musikinstrumentenreperateur, der da scheinbar schon immer ist. 
 
© gettyimages

Vor dem Haupteingang der Hackeschen Höfe steht immer der gleiche Bettler, ein freundlicher & gesprächiger Mann mit Hund, der seine Gipsbein nun endlich los ist und gerne seine Operationsnarbe zeigt. 
In der Torstrasse, Ecke Friedrichstrasse stopfen hilfreiche Frauen Löcher in Pullovern für einen Euro pro Loch. 
Mein Nachbar, ein Laden für die Produkte Berliner Manufakturen, kennt alle Anwohner der Höfe und nennt seine praktische Hilfsbereitschaft einfach Nachbarschaftlichkeit.
Und, ja, es gibt auch eine Menge überteuerter Chichi- und Tineffläden, mit Verkäuferinnen, die unglaubwürdig dünn und bemüht schick gekleidet, ihre überteuerten Waren nur widerwillig und herablassend in die Hände eifriger Kunden übergeben.  Oder sie verramschen das DDR-Ampelmännchen, was für ein Quatsch.
Dafür hat mein REWE die zwei nettesten Kassierer aller Supermärkte in der mir bekannten Welt. Die witzeln noch um 10 vor 9 mit Dir, also kurz vor Dienstschluß. 
Die rauchenden Bewohner des Altenheimes Pro Seniore nebenan, "Visavis der Hackeschen Höfe", qualmen in Rollstühlen und unter Benutzung verschiedenster Gehhilfen mitten im Gewimmel der meist jugendlichen Stadtbesucher. 
Die Sexarbeiter der Oranienburger, Obdachlose, hart arbeitende Leute aus aller Herren Länder, kindlich staunende Kinder aus den gleichen Ländern, Reisegruppen mit ihren Bildungsvortrag glühend erfüllendenden Reiseleitern, Rentner, Schulkinder, einfach alle laufen hier herum. Ich mag es sehr. 
Und dann sind da noch zwei tolle Kinos in nicht mehr als fünfzig Meter Entfernung.
Und der Eisladen im ersten Hof macht exzellentes Eis und wird demnächst auch Rumrosine, bzw. Malaga anbieten.
Glückseligkeit.
Und an meinem Fenster, das auf den Garnisonsfriedhof schaut, drängeln sich die Vögel, alles leicht räudige Stadtflieger, um mein stets wohlgefülltes Vogelhäuschen. 

Barrie Kosky a la Russe - Der Jahrmarkt von Sorotschinzi

Eine heftig grüne Schräge, eine erhöhte Brücke, fährt gelegentlich aus der Bühnentiefe bis an das Portal, die Kostüme zitieren in zitierter Annäherung erinnerte russische Klischees. Die Handlung, das Libretto, es wird russisch gesungen, ist zu vernachlässigen. Trunkene Visionen, poetische Klagechöre, burleske Duette, melancholische Chansons in loser Reihenfolge. Fragmentarisch, aber, weiß Gott, nicht im Musikalischen. 
Ist das schöne Musik! Sehr, sehr lange chorale Gesänge, die mit der russischen Volksmusik leichtfüßig Federball spielen, und die der Chor der Komischen Oper so filigran und durchscheinend singt, dass man vor Freude heulen könnte. Ist das ein Opernchor, spielfreudig und -fähig, von hoher kunstvoller Disziplin. 
Und die Spielersänger! Agnes Zwierko, Alexander Lewis, Jens Larsen, wie schafft Kosky es nur, dass sie so entspannt und miteinander und hochkonzentriert spielen? 
Schweine auf Stelzen, Schweineohren, Schweinemasken. 
Viele Sprünge,  Arme und Finger in Choreographie, harte Brüche, plötzliche Abgänge, lange Ruhe gefüllt mit Gesang.
Lohnt sich, wenn man schwelgen mag.



Trinklieder, Tänze, Volksgesänge und ein wilder Hexensabbat – das Volk als überschäumende Quelle der Energie steht im Mittelpunkt von Mussorgskis temporeicher und in der Sprung-haftigkeit ihrer Handlung überaus eigenwilliger Oper. Vom Komponisten unvollendet hinterlassen, konnte dieses komisch-groteske Meisterstück erst viele Jahre nach Mussorgskis Tod uraufgeführt werden. An der Komischen Oper und damit in Berlin zum letzten Mal im Jahre 1948 zu erleben, erscheint es jetzt in einer Neuinszenierung von Chefregisseur Barrie Kosky.
»Schlichte Geschehnisse« in loser, auf kausale Zusammenhänge verzichtender Folge sind es, die Mussorgski in seiner als Torso hinterlassenen Oper mit prallem, volkstümlichem Leben füllt. Dazu zitiert er nicht nur Volkslieder und -tänze, sondern breitet deren musikalische Faktur über die gesamte Komposition aus und fügt obendrein seine zum Chorstück erweiterte Orchesterfantasie Eine Nacht auf dem kahlen Berge von 1867 als Traum des Bauernburschen Grizko ein. Mehrere Komponisten versuchten, aus dem von Mussorgski hinterlassenen Material ein aufführbares Werk zu machen. Die zuletzt veröffentlichte Fassung von Lamm/Schebalin aus dem Jahre 1932 scheint den Absichten des Komponisten am nächsten zu kommen. Sie glättet nicht, sondern zollt dem »ungehobelten« Duktus des Werkes Rechnung.

Programm der Komischen Oper 
https://www.komische-oper-berlin.de/programm/spielplan/der-jahrmarkt-von-sorotschinzi/242/

Mittwoch, 29. März 2017

Wie kaputt bin ich - 2 Hollywoodfilme

Tom Ford & Barry Jenkins, "Nocturnal Animals" & "Moonlight", der eine Film ratschte am hochgelobten Oscar vorbei, der andere gewann ihn, nach idiotischer Verwirrung, doch. Unüberbrückbare Erzählwelten liegen dazwischen.

Der eine Film, "Moonlight", versichert sich seiner Glaubwürdigkeit ausschließlch aus sich selbst. Wir sind schwarz, aufgezogen von Müttern ohne anwesende Väter, wir sind Opfer, wir verdienen Besseres. Die Handlung verläuft gradlinig, die Figuren bleiben unantastbar, gut oder schlecht, Heilige, Märtyrer oder wderstandslose Täter, im schlimmsten Fall durch Drogen moralisch geschwächt, niemand lädt durch eigene Entscheidungen Schuld auf sich, das unaufhaltbare Rad der Rassenverachtung zermalmt jeden Mitspieler, blind und unvermeidlich. Der Widerstand, der geleistet wird, ist einer, der einem unantastbaren Kern von Gutsein, Bessersein entspringt. Jedermann leidet, aber niemand übernimmt zumindest anteilig Verantwortung. Täter, Opfer, Holzschnitt, Propaganda und Feststellung die keinen Widerspruch duldet. Die USA ist ein ungewöhnlich prüdes Land, dort macht der Film mehr Sinn, schwul & schwarz, eine harte Kombination in einer so konservativen Gesellschaft. Aber was ich sah, war quasi religiöse Verklärung von großem realen Leid.


Tom Ford, weiß, schwul, privilegiert und sich dieser Umstände außerordentlich bewußt, geht diffiziler vor. Er mutet jedem von uns alles zu. Hier ist Vertrauen das Thema, Vertrauen gegen alle Vermutungen. Wie existentiell kann eine Verwundung sein? Verwöhnte Weiße verlieren den Boden unter ihren Füßen. Ich war eben noch entspannt und erfolgreich, aber jetzt bin ich ohne jede Orientierung. Selbstgewißheit ist eine uns allen eingeimpfte Absicherung. Aber zwischen unserem Leben und dem Abgrund liegen nur Sekunden. Ich wollte immer wieder panisch ausschalten, gut, dass ich den Film ausgehalten habe.