Samstag, 8. Oktober 2016

Tim Burton - Miss Peregrine's Home for Peculiar Children - Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder ist der neue Film von Tim Burton, nach einem Drehbuch von Jane Goldman, basierend auf dem Roman von Ransom Riggs. 
Um wiedereinmal kurz mein Steckenpferd zu reiten, wäre Fräulein Peregrines Heim für sonderbare Kinder ein schlechterer Titel gewesen? Besonders ist qualitativ wertend, sonderbar ist bemerkenswert. WTF?

Beetlejuice, Batman, Edward mit den Scherenhänden, Ed Wood, Mars Attacks, Corpse Bride - Mister Burton hat einige sehr gute Filme erdacht und Schauspieler zu wunderbaren Figuren-Erfindungen animiert. Aber dann, so ab 2007 mit Sweeney Todd und später auch mit Dark Shadows und der mir allzu niedlich erscheinenden Verfilmung von Alice im Wunderland, geriet er in das betrübliche, doch scheinbar unvermeidbare Sumpfgebiet der selbstverliebten Musterwiederholung. Auch sein Remake von Charlie und die Schokoladenfabrik reichte in keinster Weise, trotz der gut dazuerfundenen freudschen Vorgeschichte von Willie Wonka, an Mel Stuarts Original mit dem vor Kurzem verstorbenen Gene Wilder heran.  
Nun heute Abend im Neuköllner Rollbergkino, fast versteckt in einem ätzend unpersönlichen Einkaufszentrum, aber immerhin auf einer Leinwand, vor der ein herrlich glitzender, roter Vorhang hängt, die OV - Originalversion seines zur Zeit letzten Filmes.

Ein Großvater erzählt seinem Enkel Gutenachtgeschichten von Kindern mit besonderen Fähigkeiten, die sich verstecken müssen, da sie von Monstern verfolgt werden. Er, der Großvater, hat, wie wir später erfahren werden, auch ein außergewöhnliches Talent, er kann die, für alle anderen unsichtbaren, Monster sehen. Geboren wurde er 1930 in Polen als Kind jüdischer Eltern. Seiner Familie gelang die Flucht nach Amerika.
Viele Jahre später: der Enkelsohn findet den alten Mann, augenlos & sterbend, im Wald hinter seinem Haus und die letzten gestammelten Worte des Sterbenden, senden ihn auf seine Schicksalsreise.

Das Grundmuster war mir bekannt: unschuldiger herzensguter Held, der sich selbst  für einen Verlierer hält, trifft auf verängstigte Opfer, die durch sein überrraschendes Vorbild, erlernen ihr eigenes Potential zu nutzen. Aber, wie die Ereignisse sich entwickeln würden, wußte ich nie. Gut. Burton achtet auf jedes Detail, er befriedigt meine Neugier, aber er läßt mich auf die Befriedigung warten. Gut. Er hat eine dramaturgische Metaebene in der Hinterhand, aber wartet bis zum Abspann, mit den vorbeirollenden verblaßten Photographien von den begabten Kindern, um sie mir mitzuteilen. Gut. Er hat hervorragend besetzt. Gut.   

Mein neuester Kandidat für den superbesten Bösewicht: Samuel L. Jackson. Wie der, mit weißer Perücke und dentalem Horrorersatz, während starker Sturm seine Wangen flattern läßt, es schafft, cool zu erscheinen, ist schauspielerisches Genie.

Manche Kitiker verurteilen den Film für seine verwirrende Geschichte und fehlende emotionale Griffigkeit. Genau diese Eigenschaften waren es, die mir den Film liebenswert machten.

Ein absurdes Märchen. Die Einen sind gut, die Anderen schlecht. Schwarz ist schwarz und 
weiß ist weiß. Grau ist die Angst.

Florence & the Machine singen den Song überm Abspann.


Die sonderbaren Kinder im klassischen Portraitphoto





Kinderkreuzzug 1939
  
In Polen, im Jahr Neununddreißig
War eine blutige Schlacht
Die hat viele Städte und Dörfer
Zu einer Wildnis gemacht.

Die Schwester verlor den Bruder
Die Frau den Mann im Heer
Zwischen Feuer und Trümmerstätte
Fand das Kind die Eltern nicht mehr.

Aus Polen ist nichts mehr gekommen
Nicht Brief noch Zeitungsbericht
Doch in den östlichen Ländern
Läuft eine seltsame Geschicht.

Schnee fiel, als man sich’s erzählte
In einer östlichen Stadt
Von einem Kinderkreuzzug
Der in Polen begonnen hat.

Da trippelten Kinder hungernd
In Trüpplein hinab die Chausseen
Und nahmen mit sich andere, die
In zerschossenen Dörfern stehn.

Sie wollten entrinnen den Schlachten
Dem ganzen Nachtmahr
Und eines Tages kommen
In ein Land, wo Frieden war.

Da war ein kleiner Führer
Der hat sie aufgericht’.
Er hatte eine große Sorge:
Den Weg, den wusste er nicht.

Eine Elfjährige schleppte
Einen Jungen von vier Jahr
Hatte alles für eine Mutter
Nur nicht ein Land, wo Frieden war.

Ein kleiner Jude marschierte im Trupp
Mit einem samtenen Kragen
Der war das weißeste Brot gewohnt
Und hat sich gut geschlagen.

Und zwei Brüder kamen mit
Die waren große Strategen
Stürmten eine leere Bauernhütt
Und räumten sie nur vor dem Regen.

Es ging ein dünner Grauer mit
Hielt sich abseits in der Landschaft
Und trug an einer schrecklichen Schuld:
Er kam aus einer Nazigesandtschaft.

Da war unter ihnen ein Musiker
Der fand eine Trommel in einem zerschossenen Dorfladen
Und durfte sie nicht schlagen
Das hätt sie verraten.

Und da war ein Hund
Gefangen zum Schlachten
mitgenommen als Esser
Weil sie’s nicht übers Herz brachten.

Da war auch eine Schule
Und ein kleiner Lehrer für Kalligraphie
Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand
Lernte schreiben bis zu FRIE…

Da war auch ein Konzert:
An einem lauten Winterbach
Durfte einer die Trommel schlagen
Da wurd er nicht vernommen, ach.

Da war auch eine Liebe.
Sie war zwölf, er war fünfzehn Jahr.
In einem zerschossenen Hofe
Kämmte sie ihm sein Haar.

Die Liebe konnt nicht bestehen
Es kam zu große Kält:
Wie sollen die Bäumchen blühen
Wenn so viel Schnee drauf fällt?

Da war auch ein Krieg
Denn es gab noch eine andre Kinderschar
Und der Krieg ging nur zu Ende
Weil es sinnlos war.

Doch als der Krieg noch raste
Um ein zerschossenes Bahnwärterhaus
Da ging, wie es heißt, der einen Partei
Plötzlich das Essen aus.

Und als die andere Partei das erfuhr
Da schickte sie aus einen Mann
Mit einem Sack Kartoffeln, weil
Man ohne Essen nicht kämpfen kann.

Da war auch ein Gericht
Und brannten zwei Kerzenlichter
Und war ein peinliches Verhör.
Verurteilt wurde der Richter.

Da war auch eine Hilfe
(Hilfe hat nie geschadet)
Eine Dienstmagd hat ihnen gezeigt
Wie man ein Kleines badet

Sie hatte leider nur zwei Stunden
Ihnen beizubringen
Mußte  ihrer Herrschaft
Die Betten nachbringen.

Da war auch ein Begräbnis
Eines Jungen mit samtenem Kragen
Der wurde von zwei Deutschen
Und zwei Polen zu Grabe getragen.

Protestant, Katholik und Nazi war da
Ihn der Erde einzuhändigen
Und zum Schluß sprach ein kleiner Sozialist
Von der Zukunft der Lebendigen

So gab es Glaube und Hoffnung
Nur nicht Fleisch und Brot
Und keiner schelt sie mir, wenn sie was stahln
Der ihnen nicht Essen bot.

Und keiner schelt mir den armen Mann
Der sie nicht zu Tische lud:
Gleich ein halbes Hundert, da handelt es sich
Um Mehl, nicht um Opfermut.

Findet man zwei oder sogar drei
Tut man gern was dafür
Aber wenn es so viele sind
Schließt man seine Tür.

In einem zerschossenen Bauernhof
Haben sie Mehl gefunden.
Eine Elfjährige band sich die Schürze um
Und backte sieben Stunden.

Der Teig war gut gerühret
Das Feuerholz gut gehackt
Das Brot ist nicht aufgegangen
Sie wussten nicht, wie man Brot backt.

Sie zogen vornehmlich nach Süden.
Süden ist, wo die Sonn
Mittags um zwölf Uhr steht
Gradaus davon.

Sie fanden zwar einen Soldaten
Verwundet im Tannengries.
Sie pflegten ihn sieben Tage
Damit er den Weg ihnen wies.

Er sagte ihnen: Nach Bilgoray!
Muß stark gefiebert haben
Und starb ihnen weg am achten Tag.
Sie haben ihn auch begraben.

Und da gab es ja Wegweiser
Wenn auch vom Schnee verweht
Nur zeigten sie nicht mehr die Richtung an
Sondern waren umgedreht.

Das war nicht etwa ein grausamer Spaß
Sondern aus militärischen Gründen
Und als sie suchten Bilgoray
Konnten sie es nicht finden.

Sie standen um ihren Führer
Der sah in die Schneeluft hinein
Und deutete mit der kleinen Hand
Und sagte: es muß dort sein.

Einmal, nachts. sahen sie ein Feuer
Da gingen sie nicht hin.
Einmal rollten drei Tanks vorbei
Da waren Menschen drin.

Einmal kamen sie an eine Stadt
Da machten sie einen Bogen
Bis sie daran vorüber waren
Sind sie nur nachts weitergezogen.

Wo einst das südöstliche Polen war
Bei starkem Schneewehn
Hat man die fünfundfünfzig
Zuletzt gesehn.

Wenn ich die Augen schließe
Seh ich sie wandern
Von einem zerschossenen Bauerngehöft
Zu einem zerschossenen andern.

Über ihnen, in den Wolken oben
Seh ich andre Züge, neue, große!
Mühsam wandernd gegen kalte Winde
Heimatlose, Richtunglose.

Suchend nach dem Land mit Frieden
Ohne Donner, ohne Feuer
Nicht wie das, aus dem sie kommen
Und der Zug wird ungeheuer.

Und er scheint mir durch den Dämmer
Bald schon gar nicht mehr derselbe:
Andere Gesichtlein seh ich
Spanische, französische, gelbe!

In Polen, in jenem Januar
Wurde ein Hund gefangen
Der hatte um seinen mageren Hals
Eine Tafel aus Pappe hangen.

Darauf stand: BITTE  UM HILFE!
WIR WISSEN DEN WEG NICHT MEHR.
WIR SIND FÜNFUNDFÜNFZIG
DER HUND FÜHRT EUCH HER.

WENN IHR NICHT KOMMEN KÖNNT
JAGT IHN WEG!
SCHIESST NICHT AUF IHN
NUR ER WEISS DEN FLECK.

Die Schrift war eine Kinderhand.
Bauern haben sie gelesen.
Seitdem sind eineinhalb Jahre um.
Der Hund ist verhungert gewesen.

b.b.

Freitag, 7. Oktober 2016

REMMIDEMMI = BAMBULE = HALLIGALLI ???

REMMIDEMMI   BAMBULE   HALLIGALLI 

Geschäftigkeit, Chaos, Lärm, Trubel, Party

Verwendung der Wörter mit freundlicher Genehmigung durch Thomas Wiesenberg.

Der Inbegriff von Bambule bleibt für mich der gewöhnliche Kindergeburtstag, vor Erfindung der organisierten Bespaßung. Eine Feier ohne sorgfältig designte Einladungen, ohne Clownsauftritte, ohne eine Liste ernährungspolitisch korrekter Verbote, mit wenig Planung und nichts als der Vorahnung von herrlichem, beängstigendem, weil unbeherrschbarem Chaos.

Dazu braucht es: Sechs bis zehn Kinder, Torte & Kekse & Würstchen & Kakao (unbedingt ganz ungesund, voll mit Gluten, Laktose, Zucker, Allergenen - ih baba), Eltern in der Rolle von Kellnern und Erste-Hilfe-Personal, Möbel von denen herunterspringen werden kann, ein alter Topf mit Kochlöffel fürs Topfschlagen, die Gewinne dürfen drei Bonbons nicht übersteigen. Eine Steigerungsmöglichkeit wäre das Kinderzimmer mit ausgeschaltetem Licht, Dunkelheit als Quelle der Angt und der Lust, und der Hummelflug von Rimski-Korsakow erschallt, viel zu laut, als Untermalung zum Gespensterspielen. Der Spaß am Lärm um des Lärmens willen.
Nur minderjährige Kinder können diese quietschenden, kreischenden, schrillende Töne erzeugen, erwachsend aus reiner Lebensfreude, sehr viel Zucker, noch ziellos produzierten Hormonen und verschiedensten Kleinverletzungen, die ein wahrhaftes Bambule definieren. Mit einer Ausnahme: angetrunkene Frauen bei Stripshows. 
Das Halligalli klingt mir mehr nach Faschingsparty, schließt Alkohol, mittelalte tanzende Männer/Frauen, Kostümierung und lustige Ansprachen ein. Und ein Remmidemmi? Laut ist es auch. Aber die Stimmlage ist unkindlich tiefer, die Luft dicker, die Körper hitziger. 

Es gäbe auch noch Radau. Reiner Lärm mit einem Anteil von Gewalt. Und was ist ein Gaudi? Nur ein harmloser Spaß?

Merkwürdig wie Klang von Wörtern, eine Definition in meinem Hirn hervorruft, die durch nichts, als das mir eigene Laut-Gefühl, untermauerbar ist.
    
    
WIKIS ERKLÄRUNGEN IN AUSZÜGEN

Remmidemmi oder Remmi Demmi - Das Wort gilt als vor dem oder im 20. Jahrhundert entstanden. Seine Etymologie ist nicht geklärt. Vermutlich ist es eine Weiterentwicklung der lautmalerischen Bezeichnung Rammerdammer für den Steinmetz und Pflasterarbeiter. Die weitere Entwicklung zu Remmidemmi geschah dann wahrscheinlich unter dem Einfluss des in Norddeutschland verbreiteten Verbs rementen, 
ramenten, ramentern für „Unruhe verbreiten, lärmen, toben". Als semantisch verwandt oder auch in der Entstehung verwandt gilt außerdem das österreichisch-bairische Remisuri, Remasuri, Ramasuri „Ausgelassenheit der Kinder bei Abwesenheit der Eltern"...
Bambule ist ein Begriff aus der deutschen Gaunersprache, der das Trommeln mit allen möglichen Gegenständen innerhalb und außerhalb von Gefängniszellen als eine von Gefangenen praktizierte Form des Protestes bezeichnet. Das Wort leitet sich von dem ursprünglich wohl afrikanischen Trommeltanz Bamboule (auch Bamboula) ab, der heute noch z. B. in Louisiana und auf Guadeloupe bekannt ist.
Über die auch von Jugendlichen in Erziehungsheimen (vor der Änderung des Jugendhilferechts in den 1970er Jahren) praktizierte Form des Protestes, Lärm mit allen zur Verfügung stehenden Gegenständen zu machen, bekam Bambule im Deutschen die Bedeutung Krawall. 1970 produzierte Ulrike Meinhof den Fernsehfilm Bambule...

Hully Gully (oder eingedeutscht "Halligalli") ist ein Wort aus dem englischen Sprachbereich. Es ist eine Verstärkungsform wie etwa bei uns holterdipolter oder drunter und drüber. Ursprünglich soll es von einem traditionellen Spiel mit Nüssen oder Murmeln kommen...

Radau für Lärm stammt aus der Berlinischen Umgangssprache des späten 19. Jahrhunderts ab ca. 1890 in die Schriftsprache eindringend. Das Wort ist höchwahrscheinlich lautnachahmenden Ursprungs.

Dienstag, 4. Oktober 2016

Mein Lieblingsregisseur war ein bisschen faul - Kruso in Leipzig

Armin Petras wird 1964 in Meschede im Sauerland geboren. 1969 siedeln seine Eltern mit ihm in die DDR über. Er wächst in Ostberlin auf, wo er von 1985 bis 1987 ein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin absolviert. 1988 geht Petras nach West-Berlin. (Wiki) 


1976 eine Schulfreundin stellt mir einen zarten, blassen Jungen, einen Schulfreund ihres kleinen Bruders, vor. Seine Eltern sind mit ihm 1969 aus dem bunten Westen in den grauen Osten ausgewandert. Mysteriös. Jahre später wird der kleine Bruder in Süd-Amerika mit Hilfe riesiger Teleskope weitentfernte Galaxien erforschen, und der schon weit weniger blasse Armin schuftet sich durch die provinzielle theatralische DDR.
1992 - "Das Käthchen von Heilbronn" in Frankfurt/Oder - ein Freund und ich lachen einsam, und verlieben uns zeitgleich in einen jungen wilden Regisseur. Rahel Ohm als Kunigunde frißt Nüsse, als hinge alles Glück der Welt daran, gleichzeitig verzweifelt ihr Diätversagen beklagend.

1996 - Wolfgang Engel startet seine Leipziger Intendanz mit Konstanze Lauterbach, Armin Petras & mir.
2000 - "Hamlet" in Kassel, wiederum Rahel Ohm, Ophelia, die einzige der jungen Figuren, die nirgendwo hinfährt, immer in Helsingör bleiben soll, träumt vom Saxophonstudium in Wittenberg, von der Liebe als Ausbruchshilfe und vergeht schlußendlich an den Ambitionen ihrer Mitspieler.
In Armins "Minna von Barnhelm" drucken drei Generationen entlassener, überflüssig gewordener NVA Offiziere in hysterischer Eile auf Gelddruckpressen das wertvolle NEUE Geld. Nach der Pause sitzen wir, eine nunmehr merkbar kleinere, aber dadurch nur leidenschaftlicher verschworene Gemeinschaft und beschauen beglückt Armins anarchistische Sicht auf postsozialistische Verlorenheit & Panik. Das hat ihn interessiert. Minna und Tellheim blieben ein vernachlässigter Nebenschauplatz.
Etwas später: "Nach dem Regen" - in Windelhosen und Lederjacken zeigen Leipziger Halbstarke (ein nahezu archaisches Wort) mit "sozialen Kommunikationsproblemen" ihre kindliche, unschuldige Verletzlichkeit, die in ihre heutige Brutalität mündet.
"Rummelplatz", "Früchte des Zorns", "Fight City. Vineta", "zeit zu lieben zeit zu sterben" - Frankfurt/Oder, Nordhausen, Kassel, das Maxim-Gorki-Theater und Stuttgart. 

Habe ich schon erwähnt, dass ich sein Fan bin?

Am Samstag in Leipzig Premiere von "Kruso" nach dem Roman von Lutz Seiler in einer Bearbeitung von Petras & Ludwig Haugk. Vorangestellt sei, dass ich den Roman nicht gelesen habe. 
Dreieinhalb Stunden ohne Langeweile, das ist gut. 
Anja Schneider (Kruso) und Bernd Stübner (Chef des Klausners) sind stark und eigenartig, tolle Handwerker und leidenschaftliche Spieler ihrer Figuren. Stübners "Lob des Kommunismus" in Angst den eine Strandparty unterbrechenden Grenzern entgegengerufen, kam gänzlich überraschend und erwischte mich irgendwo zwischen Kichern, Wut und unbequemer Sentimentalität. Ich konnte das verflixte Gedicht auswendig mitsprechen! Und Anja Schneiders sich kunstvoll verheddernde Brandrede, wenn Kruso die kleine, die wärmende, die innere Freiheit - ihren Sieg über zutiefst menschenunfreundliche Verhältnisse - bedroht sieht durch die kommende "große" Freiheit nach dem Untergang der DDR, haute gerade und zielsicher in mein Hirn. 
((Das Ende der DDR - viele kleine Leute (wer ist schon groß) mit hart erarbeiteten kleinen Freiräumen, in denen sie sich Platz schaffen für ihre Träume, ihre Glückshoffnungen, stehen plötzlich im Offenen, ohne Deckung und das schließt kräftige Winde mit ein. Die Möglichkeiten sind nun vielfältig, aber man muß unentwegt auswählen, entscheiden, stark sein. Sichere, mittlere Sicherheit ist nicht mehr gegeben. Vielleicht sehnt sich mancher deshalb nach der zwar stickigen & schlechtriechenden, aber wenigstens bekannten Enge zurück. Und da will man halt auch nicht noch Fremdes von außen mitertragen müssen.)) 

Der gefeierte Theaterabend hatte aber auch einigen peinlichen Illustrationstanz durch engagierte Schauspielstudenten, Requisitengefälligkeiten der öden Art und, bei tiefem Verständnis für die Lebenslügen, mit denen wir uns alle durch die DDR gehangelt haben, schien mir die Verharmlosung der Staatsgewalt, und sie war gewalttätig, feig und unentschlossen. 
Olaf Altmann schuf das Bühnenbild aus hunderten senkrecht gespannten Drahtseilen. Es bedeutete. Nur gelegentlich spielte es. Zum Beispiel, wenn ein Petticoat durch es lief, oder ein Betrunkener sich in ihm verhakelte. 

Ich nehme Armin fast nichts übel, weil er immer mit mir spricht, mir Denkvorschläge macht, aber ich hoffe, dass er nicht gemütlich wird. Viel Bewegung und Opulenz sind nicht abendfüllend.

Fritz Kortner sah vor 1933 im Deutschen Theater Moissi als Shylock, der sich intensiv durch den Abend sang. Kortners Kommentar: "Jud allein, ist nicht abendfüllend.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-katerstimmung-1.3046086


Montag, 3. Oktober 2016

Nicolas Born - ein noch nie gehörter Name


Ich gebe zu, daß ich schöne Gedichte schreiben wollte, und einige sind zu meiner größten Überraschung schön geworden.

Mein zufälliger, nachlässiger Blick auf den Küchentisch eines Freundes, auf dem eine Hör-CD mit dem Photo eines schönen jungen Mannes auf dem Cover liegt. Dieser Mann starb mit nur 41 Jahren an Krebs. 

Müssen wir diesen Tod nicht besonders hassen, ganz egoistisch, weil er uns um einen Teil unseres eigenen Wesens gebracht hat, das, in uns nur latent, sich in ihm verwirklicht hatte?  
Günther Kunert


In den wenigen Jahren vor diesem Tod schrieb Nicolas Born Gedichte und Romane. Seine Tochter hat sie posthum veröffentlicht. 

 
Selbstbildnis

Oft für kompakt gehalten
für eine runde Sache
die geläufig zu leben versteht-
doch einsam frühstücke ich
nach Träumen
in denen nichts geschieht.
Ich mein Ärgernis
mit Haarausfall und wunden Füßen
einssechsundachtzig und Beamtensohn
bin mir unabkömmlich
unveräußerlich kenne ich
meinen Wert eine Spur zu genau
und mach Liebe wie Gedichte nebenbei.
Mein Gesicht verkommen
vorteilhaft im Schummerlicht
und bei ersten Gesprächen.
Ich Zigarettenraucher halb schon Asche
Kaffeetrinker mit den älteren Damen
die mir halfen
wegen meiner sympathischen Fresse und
die Rücksichtslosigkeit mit der
ich höflich bin.


aus: Gedichte, 2004, Wallstein-Verlag, hrsg. von Katharina Born

Eine Liebe

In Köln-Knapsack küßte ich eine Frau
unter einer Brücke 1963.
Wie ihr Gesicht war
so mag ich Gesichter.
Dann hieß sie Heidelinde
das sagte sie.
Ich möchte wissen
wie sie mich dabei ansah.
Draußen war es zu kalt.
Wir verabredeten uns auf einen Zufall.
So bald komme ich nicht mehr nach
Köln-Knapsack.


IM INNERN DER GEDICHTE


Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
und alles zurück kriegen
und durch Das Leben gehen
durch schnell verfallende Bilder
das warst du
du und Das Werdende Leben
Personen keuchend unter ihren Grabsteinen
Mit einer ungeheuren Anstrengung
von dir und allen Vorfahren
blendest du dich aus
Land und Wasser sind geblieben
der Himmel ist geblieben
und du bist geblieben
du hast dich auf nichts einzurichten
kleine Sonnen erleuchten deine Demokratie Und
du wählst das Leben und den Tod
du hast viele Schöne Stimmen
du bist Viele
deine Haut ist deine Haut Und endlich
nichts als Haut
du bist der Unternehmer des Lebens
der Veranstalter weißer Erscheinungen
du bist der RaumMensch im Freien
der Autor des Laufs der Geschichte
du bist imstande Zeit zu drucken wie Bücher
du wiegst und siebst und liebst

Und im Wind
wehen die Ruinen der Diktatmaschinen
die Unvernunft steht in voller Blüte
du bist die Blüte und die Unvernunft
du bist Tag und Nacht bei Tag und Nacht
du bist der Mörder
kreisend in der eigenen Blutbahn
du bist Vater und Sohn
du bist der ausgeschlachtete Indianer
und der registrierte Indianer
du bist alle Farben und Rassen
du bist die Witwen und Waisen
du bist die Rebellion der Gefangenen
du bist Geheul ohne Aufenthalt
Messerwürfe Schüsse
du bist der phantastische Sportler der TraumMeilen
der Bildersturm im Haupt der Demokratie
du bist der Sprengmeister aller Ketten
du bist die geheim leuchtende Parole
die Banderole
die Avantgarde der FreiKüchen
du bist Mensch Und
Tier wenn es den Tod fühlt
du bist allein und du bist Alle
du bist dein Tod und du bist der Große Wunsch
du bist der Plan den du ausbreitest Und
du bist dein Tod

Freitag, 30. September 2016

Jacques Brel - Le Moribond - Seasons In The Sun - Adieu Emile

Jacques Brel - Le Moribond

LE MORIBOND - DER DEM TODE NAHE 

Die deutsche Übersetzung von Klaus Hoffmann ist nicht gut, aber immerhin um Einiges besser, als die sehr erfolgreiche Englische von Terry Jacks, die das kleine, feine, böse Lied in ein weinerliches Abschiedsständchen verrührte. Gut und mit genügend wilder Verweiflung gesungen, hat es mich heute Abend zum Weinen gebracht. Ich will sehr alt werden. Wenn mein Hirn mitspielt.

Ne Me Quitte Pas - Verlass Mich Nicht

Ein Abend mit Chansons von Jacques Brel
Schauspielhaus-Foyerbühne
Musik: Steffan Claußner & Tom Bitterlich
Gesang: Grégoire Gros & Susanne Stein

DER STERBENDE

Adieu Emilè, ich liebte Dich
Adieu Emilè, ich liebte dich, Du weißt
wir saßen beide bei dem gleichen Wein
wir saßen bei denselben Mädchen
wir sangen mit der gleichen Pein.

Adieu Emile, ich sterbe nun
es ist schwer wenn man im Frühling stirbt, Du weißt
ich geh'mit Frieden in der Seele
weil du so rein wie weißes Brot
weiß ich mein Weib hat keine Not.

Ich will Gesang will Spiel und Tanz
will daß man sich wie toll vergnügt
Ich will Gesang will Spiel und Tanz
wenn man mich unter'n Rasen pflügt.


Adieu Curie, ich liebte Dich
Adieu Curie ich liebte Dich Du weißt
wir waren nicht vom gleichen Holz
wir hatten nicht den selben Weg
wir suchten nur den gleichen Ort

Adieu Curie, ich sterbe nun
es ist schwer wenn man im Frühling stirbt, Du weißt
ich geh'mit Frieden in der Seele
ich weiß man Weib hat keine Not
ihr war't vertraut vor meinem Tod.

Ich will Gesang will Spiel und Tanz
will daß man sich wie toll vergnügt
Ich will Gesang will Spiel und Tanz
wenn man mich unter'n Rasen pflügt.

Adieu Antoine, ich lieb' dich nicht
Adieu Antoine, ich lieb' dich nicht, Du weißt
es bringt mich zum Sterben heut
weil du lebst weiter und nicht schlecht mein Freund 
weil dich mein Tod doch sicher freut

Adieu Antoine ich sterbe nun
es ist schwer wenn man im Frühling stirbt, Du weißt
ich geh'mit Frieden in der Seele
weil du ihr Hausfreund warst du Chanot
weiß ich mein Weib hat keine Not 

Ich will Gesang will Spiel und Tanz
will daß man sich wie toll vergnügt
Ich will Gesang will Spiel und Tanz
wenn man mich unter'n Rasen pflügt.

Adieu mein Weib ich liebte dich
Adieu mein Weib ich liebt dich, Du weißt
ich nehm den Zug zum lieben Gott
den Zug der noch vor deinem geht
man nimmt grad' den der eben kommt.

Adieu mein Weib ich sterbe nun
es ist schwer wenn man im Frühling stirbt du weißt
ich drück'die Augen fester zu
dann weiß ich, du liest Messen
für meiner Seele Ruh

Ich will Gesang will Spiel und Tanz
will daß man sich wie toll vergnügt
Ich will Gesang will Spiel und Tanz
wenn man mich unter'n Rasen pflügt.

La di lai da la

Donnerstag, 29. September 2016

Und wäret Ihr verbannt wohin ginget Ihr? - Shakespeare

Ein Monolog aus "Sir Thomas Morus"
Nach dem Stand neuester Forschungen wird dieser Text Shakespeare zugeschrieben. 

Sir Thomas More ist ein elisabethanisches Theaterstück, das Sir Thomas More zum Gegenstand hat und die Frage nach Befolgung von Gesetzen und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und dem König. Es stammt ursprünglich von Anthony Munday (und Henry Chettle) aus der Zeit von 1596 bis 1601, erhielt aber keine Aufführungserlaubnis durch den Zensor Edmund Tillney und wurde durch mehrere Autoren überarbeitet, darunter wahrscheinlich auch William Shakespeare sowie Thomas Heywood und Thomas Dekker.
Wiki

Zu Shakespeares Zeiten waren es die hugenottischen Flüchtlinge aus Flandern und Frankreich, die nach England flohen und sich dreist benahmen, woraufhin die Londoner ihnen die Häuser anzündeten. Shakespeare schrieb dem Humanisten Thomas Morus einen Monolog, in dem er die Londoner wegen ihres Verhaltens zusammenstaucht und sie fragt: „Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr mit euren Kindern an fremden Küsten . . .?“
Frank Günther

Unvollständiger deutsche Text in der Übersetzung von Frank Günther
Gesetzt, sie gehn, gesetzt, dass euer Lärm
Ganz Englands Recht und Würde niederschrie. 
Dann stellt euch vor, ihr seht die Fremden, elend, 
Mit Lumpenbündeln, Kinder auf dem Rücken,
Wie sie zu Küsten und zu Häfen trotten, 
Und ihr sitzt da, als König eurer Wünsche, 
Die Staatsmacht starr verstummt vor eurer Wut, 
Und ihr gespreizt im Protzornat des Dünkels: 
Was habt ihr dann?
Ich sag's euch: ihr habt nur
Gelehrt, wie Frechheit und Gewalt obsiegt.

Ihr wollt die Fremden niedermachen,
Sie töten, ihnen ihre Häuser nehmen
Und das Gesetz an eine Leine legen,
damit ihr ihm, wie einem Hund, entkommt!
Weh euch! Weh euch! Stellt euch doch einmal vor,
Der König liesse Milde walten und
verbannte euch: wo suchtet ihr dann Zuflucht?
Bei welchem Volk, das sich verhält wie ihr,
bekamt ihr Schutz? Geht hin nach Frankreich, Flandern,
in deutsche Lande, Spanien, Portugal,
ja, irgendwohin, wo nicht England ist –
ihr wäret Fremde. Wie gefiels euch dann,
ein Volk zu finden, das, wie ihr Barbaren,
in furchtbare Gewalt ausbricht und euch
den Aufenthalt verwehrt, ja, euch stattdessen
das Messer wütend an die Kehle setzt
und euch wie Hunde fortjagt, so als ob
ihr nicht von Gott gemacht wärt und als fehlte
bei euch was, das nur sie alleine haben?
Was hieltet ihr von solcher Art Behandlung?
So ist das Los der Fremden hier bei uns,
und so ist euer Berg von Inhumanität!

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Grant them removed, and grant that this your noise
Hath chid down all the majesty of England;
Imagine that you see the wretched strangers,
Their babies at their backs and their poor luggage,
Plodding to the ports and coasts for transportation,
And that you sit as kings in your desires,
Authority quite silent by your brawl,
And you in ruff of your opinions clothed;
What had you got? I’ll tell you: you had taught
How insolence and strong hand should prevail,
How order should be quelled; and by this pattern
Not one of you should live an aged man,
For other ruffians, as their fancies wrought,
With self same hand, self reasons, and self right,
Would shark on you, and men like ravenous fishes
Would feed on one another….
Say now the king
Should so much come too short of your great trespass
As but to banish you, whether would you go?
What country, by the nature of your error,
Should give you harbour? go you to France or Flanders,
To any German province, to Spain or Portugal,
Nay, any where that not adheres to England,
Why, you must needs be strangers: would you be pleased
To find a nation of such barbarous temper,
That, breaking out in hideous violence,
Would not afford you an abode on earth,
Whet their detested knives against your throats,
Spurn you like dogs, and like as if that God
Owed not nor made not you, nor that the claimants
Were not all appropriate to your comforts,
But chartered unto them, what would you think
To be thus used? this is the strangers case;
And this your mountainish inhumanity.


Facsimile of a page of writing by "Hand D" from the Elizabethan play Sir Thomas More, 
believed by some scholars to be William Shakespeare's handwriting.

Frank Günther zu dem Text

Mittwoch, 28. September 2016

Besuch der Alten Dame - Schlamm, Schleim, Matsch

Ein Ensemble. Wie schön das klingt.

Ensemble von frz. ensemble‚ zusammen, miteinander, zugleich, insgesamt; das Ganze, die Gesamtheit... (Wiki)

Das Theater von Chemnitz in Sachsen, in dessen Schauspielsparte sich einundzwanzig Spieler & Spielerinnen den Arsch abarbeiten, um gemeinsam gutes Theater zu produzieren.

Heute abend: "Der Besuch der Alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt, einem Stückeschreiber, den ich eigentlich fürchte, weil er seine grandiosen Grundeinfälle, in der zweiten Stückhälfte meist zielsicher durch pädagogisch gutgemeinte, aufklärerische Entsinnlichung tötet. Er ersinnt einen wirklich überraschenden, spannenden Konflikt und exerziert ihn dann in die unerträgliche, öde Erklärbarkeit. Aufklärung um jeden Preis. In meiner Sprache ist das Propaganda.

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Besuch_der_alten_Dame 

Aber heute abend wurde aus Dürrenmatts Schwäche seine Stärke. Obwohl, nein, gerade weil ich lange im Voraus wußte, wie der endgültige Ausgang aussehen würde, wurde mir, absichtsvoll überdehnt und schwer erträglich verzerrt, die Verwirklichung der Katastrophe serviert, ohne dass ich je das Gefühl hatte, die Macher würden nicht ebenso darunter leiden wie ich. Denn sie spielten im Schlamm, im Matsch, in glitschigem, klebrigem Schleim. Er bedeckte den Bühnenboden, verschmutzte sie, gefährdete sie, behinderte sie. Er schmatzte durch den Abend, war Backgroundmusik, Störung und reale leibliche Gefährdung. 
Das Stück spielt in Güllen - in der Gülle?
Mittendrin, zentral, Claire Zachanassian, entschuldigungslos zornig. Sie verlangt Gerechtigkeit um jeden Preis. Ihr Preis wird gezahlt werden. Arm zu sein ist edel, aber Geld zu haben, ist genüsslich. Wir ersehnen, was wir nicht wollen sollten. 
Das Bühnenzeichen sind ebenso klar. Die Farbe Gelb im Kostüm ist Zeichen für Geld, das man nicht hat, aber, in uneingestandener Hoffnung auf baldigen Gewinn, schon mal ausgibt. Investition in künftige noch uneingestandene, aber bald begangene Verbrechen. Scheinbar einfach, dennoch unerträglich. Wir wollen nicht so erkannt werden.

Wozu sind wir imstande, um das zu bekommen, was wir uns nicht eingestehen können, es haben zu wollen?

Wann erfinden wir einsehbare Begründungen für unsere Verbrechen, damit wir sie guten Gewissens begehen können?

 Die goldene Geldkugel mühselig im Griff gehalten im Morast
© Dieter Wuschanski

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Malte Kreutzfeldt (* 1969 in Lübeck) ist ein deutscher Regisseur.
Er studierte von 1993 bis 1998 Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Von 1999 bis 2003 war er Oberspielleiter des Schauspiels am Theater Quedlinburg/Halberstadt. Seit 2003 ist er freischaffend tätig und inszenierte seither unter anderem an den Staatstheatern in Darmstadt, Nürnberg, Mainz und Oldenburg, der Oper und dem Schauspielhaus in Kiel sowie in Stuttgart, Ulm, Würzburg und am Theater Chemnitz.

Sonntag, 25. September 2016

PTBS in Senftenberg

Ich habe in vieler Hinsicht ein ungewöhnlich beschütztes Leben geführt, und, entscheidender Punkt, ich, Bürgerin der DDR, durfte ungehindert seit meinem 16. Lebensjahr ins nichtsozialistische Ausland reisen, ohne Rentner zu sein und lange bevor die Mauer endlich fiel. Eine, durch keine Leistung meinerseits verdiente, also privilegierte, Ausnahmesituation. 

Und trotzdem habe ich, als ich zufällig im Fernsehen den Film "Bornholmer Strasse" gesehen habe, allein auf meinem Sofa, heftig und unerwartet geweint. 

Heute, in Senftenberg, einer deutschen Kleinstadt, die sich 1989, von einem blühenden Zentrum ostdeutscher Braunkohleförderung in eine arbeitsplatzlose Ödnis mit neuerdings hoffnungsvollen Zukunftsplänen als Naturparklandschaft, verwandelte. Kein Kuss verzauberte den Frosch zum Prinzen, nein, er machte den selbstbewußten Grundausstatter östlicher Ernergieerzeugung zum akuten sozialen Notfall. 
Senftenberg, keine wirkliche Stadt, eine Hauptstrasse mit dem üblichen irischen Pub, REWE ist bis 24 Uhr geöffnet, zwei Dönerläden gibt es, im "Sahneschnittchen" serviert man Kuchen bis 18 Uhr, zwei oder drei andere Cafes lungern, sonst praktisch nichts. Doch. Ein Theater. Die neue Bühne.

Auf der Bühne eben dieses Senftenberger Theaters, später "Theater der Bergarbeiter" genannt, heute die "Neue Bühne Senftenberg", die in diesem Jahr ihre 70. Spielzeit, sozusagen ihren 70. Geburtstag feiert, hatte gestern, die Bühnenfassung der "Bornholmer Strasse" Premiere.


Grenzübergang Bornholmer Strasse 9. November 1989,
 Unscharfes Photo aus Zeiten bevor man Handys mit Kameras hatte.
Ein guter, intelligenter, ernsthafter Theaterabend. Und ich weine wieder.  Warum? 
Weil geliebten Menschen Lebenszeit, Unschuld, Vertrauen geraubt wurde. Weil dieser Staat ein verkommenes Monstrumskind großer Hoffnungen war, das seine Kinder in Angst und Demütigung verkrüppelte.

Wiedereinmal formuliert Wiki die Ausgangsdefinition: Kommunismus (lat. communis „gemeinsam“) ist ein um 1840 in Frankreich entstandener politisch-ideologischer Begriff in mehreren Bedeutungen: Er bezeichnet .... gesellschaftstheoretische Utopien, beruhend auf Ideen sozialer Gleichheit und Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder, auf der Basis von Gemeineigentum und kollektiver Problemlösung.

Wtf!!!!! 

U-topie, nach Christa Wolf, Kein-Ort-Nirgends, ist beseeligte, notwendige Hoffnung auf Nichterreichbares. Hoffnung, wenn sie ihre Wurzeln in der Seele, das Hirn geschlagen hat, ist eine Kraft. Hoffnung, als sichere Bank vorgegaukelt, als hehres Gefühl verkauft, als moralische Zwangsjacke mißbraucht, ist tödlich. Zynisch enttäuschte Hoffnung - manchmal denke ich, dass die mir monströs erscheinenden Auswüchse ostdeutschen Politikgebarens hier ihren Ursprung haben.

Was ist eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)?

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt als eine verzögerte psychische Reaktion auf ein extrem belastendes Ereignis, eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes auf. Die Erlebnisse (Traumata) können von längerer oder kürzerer Dauer sein, ... wobei die Betroffenen dabei Gefühle wie Angst und Schutzlosigkeit erleben und in Ermangelung ihrer subjektiven Bewältigungsmöglichkeiten Hilflosigkeit und Kontrollverlust empfinden. 


http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/erkrankungen/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/was-ist-eine-posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/


Harald Jäger (* 27. April 1943) war bis 1990 stellvertretender Leiter der DDR-Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße (GÜSt Bornholmer Straße) in Ost-Berlin im Dienstgrad eines Oberstleutnants der Passkontrolleinheit (PKE), die dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterstellt war. Am 9. November 1989 ließ er als diensthabender Leiter am Grenzübergang Bornholmer Straße befehlswidrig die Kontrollen einstellen. Er gilt daher als der Mann, welcher faktisch die Berliner Mauer öffnete.

Könnt ihr euch noch erinnern, dass wir einstmals unentwegt in idiotischen Abkürzungen geredet haben?

Freitag, 23. September 2016

Terror der gewöhnlichen Art - Häusliche Gewalt - 08000 116 016

Seit drei Wochen wohne ich im ersten Stock eines dreistöckigen Chemnitzer Neubaus. Es ist ein Haus ohne besondere Eigenschaften und ohne eigenem Geruch. Es ist weißlich verputzt, hat Fenster und Türen und einen Extraeingang mit abschließbaren Mülltonnen. Die Wände sind sehr dünn.

Einen Stock über mir wohnt eine Familie mit fernklingendem Namen. Die Frau trägt Schwarz, ein Kopftuch, aber hautenge Kleidung. Mit ihr eine andere Frau, vermutlich ihre Mutter. Zwei zarte blasse Kinder, vielleicht drei Jahre alt, Mädchen, gehören dazu. Ich habe die vier nur einmal vor der Haustür gesehen. 

Aber ich höre sie jede Nacht. 

Trampeln, Schritte, Möbelrutschen, Hämmern, ein Mann, den ich nur als Kopf im Fenster kenne, sagt etwas, ihm wird aufgeregt geantwortet, er schreit in unerwarteteten Abständen, die Frau kreischt plötzlich schrill. Schläge, Geheul, noch mehr Schläge. Kinder weinen bitterlich. Lauteres Schluchzen begleitet einen Fluchtversuch in den Hausflur, wieder barsche Schlaggeräusche, die Flucht wird unterbunden. Es ist plötzlich stiill. Und dann wieder laut. Der Rhythmus ist nicht vorhersehbar. 
Vorgestern klang es, als würde der Mann die Frau totschlagen. Ich habe die Polizei gerufen und nach einer halben Stunde kamen zwei Beamte ohne Eile. Sie gingen hinauf und waren nach etwa drei Minuten wieder weg.  Sie, die Frau, hat offensichtlich keine Anzeige ertstattet. 
Die zuständige Frau beim Jugendamt war heute nicht erreichbar. 
Ich bin zu feige, um selber die Teppe hochzusteigen und zu klingeln und Fragen zu stellen.
Mein Hirn produziert unablässig Horrorszenarien.
Ein Vormieter, den ich zufällig traf, dies ist eine Theaterwohnung, er ist auch Regisseur, beschreibt ähnliche Erlebnisse und Reaktionen ohne Ergebnis. Er fand Blut auf der Treppe und vermutet, verschiedene Männer gingen in die Wohnung, eine Crackhöhle.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die beiden kleinen Kinder weinen jede Nacht!

WELT 24
... in Deutschland ist das Phänomen weit verbreitet. Jede vierte Frau hat nach Angaben des Bundesfamilienministeriums schon mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt von Seiten des Partners erfahren. Nur jede vierte bis siebte Frau holt sich Hilfe.

Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen
365 Tage im Jahr, rund um die Uhr erreichbar: Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist das erste bundesweite Beratungsangebot für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung können sich Betroffene, aber auch Angehörige, Freunde sowie Fachkräfte anonym und kostenfrei beraten lassen. Qualifizierte Beraterinnen stehen den Anrufenden vertraulich zur Seite und vermitteln sie auf Wunsch an Unterstützungsangebote vor Ort. Bei Bedarf werden Dolmetscherinnen in 15 Sprachen zum Gespräch hinzugeschaltet.



https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltschutzgesetz

Donnerstag, 22. September 2016

Penthesilea 6 - Krieg & Grammatik

Seit Tagen grüble ich über die ver-rückte Grammatik des Herrn Kleist. Warum reden sich Figuren beim größten deutschen Sprachkünstler immer wieder in die völlige Unverständlichkeit? Viele freundliche Menschen haben versucht Antworten zu finden. Kleistsche Eklipsen, der possessive Dativ, die Weiterentwicklung der deutschen Grammatik in den letzten 200 Jahren. Alles hilfreich, nichts klärend. 

Es bleiben, wie irritierende Nußstücken in Zahnlücken, unter anderem, Dative, die keinen Sinn machen, bzw. die Zuordnung von Freund und Feind dem Zuhörenden unmöglich machen. 

Was für ein Haß den Priamiden längst
Entbrannt sei in der Griechen Brust...


Jetzt hat die Freundin einer Freundin mir in wenigen Worten klargemacht, dass mein grammatikalisches Problem, genau das zentrale Problem des Stückes trifft.
Der Krieg "infiziert" alles, auch die Sprache. Wer wessen Feind ist zweitrangig, Herr Kleist verwirrt die Possesivbeziehungen absichtsvoll, weil Tötungswut sich alles und jedes aneignet, um es zu vernichten.
"Die Sprache ein Schlachtfeld und daraus folgt die Auflösung des Possesiven."


In Abwandlung eines Gedichtes von Gertrude Stein: Der Feind ist ein Feind ist ein Feind ist der Feind.
Wenn Hass und Liebe ununterscheidbar werden, muß auch die Grammatik dem erliegen. Was brüllen, bläken, schreien, hecheln, kreischen wir, wenn wir gänzlich außer uns sind? 


Sprache, unsere so sehr verletzliche Ortung in der Zivilisation.


http://videos.huffingtonpost.de/politik/in-heidenau-du-fotze-nazi-goere-poebelt-gegen-merkel_id_4909778.html 

Allein die Tonhöhe ist unfaßbar!

 
Dich, Mars, dich ruf ich jetzt, dich Schrecklichen,
Dich, meines Hauses hohen Gründer, an!
Oh! – – deinen erznen Wagen mir herab:
Wo du der Städte Mauern auch und Thore
Zermalmst, Vertilgergott, gekeilt in Straßen,
Der Menschen Reihen jetzt auch niedertrittst;
Oh! – – deinen erznen Wagen mir herab:
Daß ich den Fuß in seine Muschel setze,
Die Zügel greife, durch die Felder rolle,
Und wie ein Donnerkeil aus Wetterwolken,
Auf dieses Griechen Scheitel niederfalle!
Du ganzer Schreckenspomp des Kriegs, dich ruf' ich,
Vernichtender, entsetzlicher, herbei!


 
Henriette Vogel
an Heinrich von Kleist


Berlin, November 1811
Mein Heinrich, mein Süßtönender, mein Hyazinthenbeet, mein Wonnemeer, mein Morgen- und Abendrot, meine Äolsharfe, mein Tau, mein Friedensbogen, mein Schoßkindchen, mein liebstes Herz, meine Freude im Leid, meine Wiedergeburt, meine Freiheit, meine Fessel, mein Sabbath, mein Goldkelch, meine Luft, meine Wärme, mein Gedanke, mein teurer Sünder, mein Gewünschtes hier und jenseit, mein Augentrost, meine süßeste Sorge, meine schönste Tugend, mein Stolz, mein Beschützer, mein Gewissen, mein Wald, meine Herrlichkeit, mein Schwert und Helm, meine Großmut, meine rechte Hand, mein Paradies, meine Träne, meine Himmelsleiter, mein Johannes, mein Tasso, mein Ritter, mein Graf Wetter, mein zarter Page, mein Erzdichter, mein Kristall, mein Lebensquell, meine Rast, meine Trauerweide, mein Herr Schutz und Schirm, mein Hoffen und Harren, meine Träume, mein liebstes Sternbild, mein Schmeichelkätzchen, meine sichre Burg, mein Glück, mein Tod, mein Herzensnarrchen, meine Einsamkeit, mein Schiff, mein schönes Tal, meine Belohnung, mein Werther, meine Lethe, meine Wiege, mein Weihrauch und Myrrhen, meine Stimme, mein Richter, mein Heiliger, mein lieblicher Träumer, meine Sehnsucht, meine Seele, meine Nerven, mein goldner Spiegel, mein Rubin, meine Syringsflöte, meine Dornenkrone, mein tausend Wunderwerke, mein Lehrer und mein Schüler, wie über alles Gedachte und zu Erdenkende lieb ich dich.

Meine Seele sollst du haben.