Dienstag, 4. Oktober 2016

Mein Lieblingsregisseur war ein bisschen faul - Kruso in Leipzig

Armin Petras wird 1964 in Meschede im Sauerland geboren. 1969 siedeln seine Eltern mit ihm in die DDR über. Er wächst in Ostberlin auf, wo er von 1985 bis 1987 ein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin absolviert. 1988 geht Petras nach West-Berlin. (Wiki) 


1976 eine Schulfreundin stellt mir einen zarten, blassen Jungen, einen Schulfreund ihres kleinen Bruders, vor. Seine Eltern sind mit ihm 1969 aus dem bunten Westen in den grauen Osten ausgewandert. Mysteriös. Jahre später wird der kleine Bruder in Süd-Amerika mit Hilfe riesiger Teleskope weitentfernte Galaxien erforschen, und der schon weit weniger blasse Armin schuftet sich durch die provinzielle theatralische DDR.
1992 - "Das Käthchen von Heilbronn" in Frankfurt/Oder - ein Freund und ich lachen einsam, und verlieben uns zeitgleich in einen jungen wilden Regisseur. Rahel Ohm als Kunigunde frißt Nüsse, als hinge alles Glück der Welt daran, gleichzeitig verzweifelt ihr Diätversagen beklagend.

1996 - Wolfgang Engel startet seine Leipziger Intendanz mit Konstanze Lauterbach, Armin Petras & mir.
2000 - "Hamlet" in Kassel, wiederum Rahel Ohm, Ophelia, die einzige der jungen Figuren, die nirgendwo hinfährt, immer in Helsingör bleiben soll, träumt vom Saxophonstudium in Wittenberg, von der Liebe als Ausbruchshilfe und vergeht schlußendlich an den Ambitionen ihrer Mitspieler.
In Armins "Minna von Barnhelm" drucken drei Generationen entlassener, überflüssig gewordener NVA Offiziere in hysterischer Eile auf Gelddruckpressen das wertvolle NEUE Geld. Nach der Pause sitzen wir, eine nunmehr merkbar kleinere, aber dadurch nur leidenschaftlicher verschworene Gemeinschaft und beschauen beglückt Armins anarchistische Sicht auf postsozialistische Verlorenheit & Panik. Das hat ihn interessiert. Minna und Tellheim blieben ein vernachlässigter Nebenschauplatz.
Etwas später: "Nach dem Regen" - in Windelhosen und Lederjacken zeigen Leipziger Halbstarke (ein nahezu archaisches Wort) mit "sozialen Kommunikationsproblemen" ihre kindliche, unschuldige Verletzlichkeit, die in ihre heutige Brutalität mündet.
"Rummelplatz", "Früchte des Zorns", "Fight City. Vineta", "zeit zu lieben zeit zu sterben" - Frankfurt/Oder, Nordhausen, Kassel, das Maxim-Gorki-Theater und Stuttgart. 

Habe ich schon erwähnt, dass ich sein Fan bin?

Am Samstag in Leipzig Premiere von "Kruso" nach dem Roman von Lutz Seiler in einer Bearbeitung von Petras & Ludwig Haugk. Vorangestellt sei, dass ich den Roman nicht gelesen habe. 
Dreieinhalb Stunden ohne Langeweile, das ist gut. 
Anja Schneider (Kruso) und Bernd Stübner (Chef des Klausners) sind stark und eigenartig, tolle Handwerker und leidenschaftliche Spieler ihrer Figuren. Stübners "Lob des Kommunismus" in Angst den eine Strandparty unterbrechenden Grenzern entgegengerufen, kam gänzlich überraschend und erwischte mich irgendwo zwischen Kichern, Wut und unbequemer Sentimentalität. Ich konnte das verflixte Gedicht auswendig mitsprechen! Und Anja Schneiders sich kunstvoll verheddernde Brandrede, wenn Kruso die kleine, die wärmende, die innere Freiheit - ihren Sieg über zutiefst menschenunfreundliche Verhältnisse - bedroht sieht durch die kommende "große" Freiheit nach dem Untergang der DDR, haute gerade und zielsicher in mein Hirn. 
((Das Ende der DDR - viele kleine Leute (wer ist schon groß) mit hart erarbeiteten kleinen Freiräumen, in denen sie sich Platz schaffen für ihre Träume, ihre Glückshoffnungen, stehen plötzlich im Offenen, ohne Deckung und das schließt kräftige Winde mit ein. Die Möglichkeiten sind nun vielfältig, aber man muß unentwegt auswählen, entscheiden, stark sein. Sichere, mittlere Sicherheit ist nicht mehr gegeben. Vielleicht sehnt sich mancher deshalb nach der zwar stickigen & schlechtriechenden, aber wenigstens bekannten Enge zurück. Und da will man halt auch nicht noch Fremdes von außen mitertragen müssen.)) 

Der gefeierte Theaterabend hatte aber auch einigen peinlichen Illustrationstanz durch engagierte Schauspielstudenten, Requisitengefälligkeiten der öden Art und, bei tiefem Verständnis für die Lebenslügen, mit denen wir uns alle durch die DDR gehangelt haben, schien mir die Verharmlosung der Staatsgewalt, und sie war gewalttätig, feig und unentschlossen. 
Olaf Altmann schuf das Bühnenbild aus hunderten senkrecht gespannten Drahtseilen. Es bedeutete. Nur gelegentlich spielte es. Zum Beispiel, wenn ein Petticoat durch es lief, oder ein Betrunkener sich in ihm verhakelte. 

Ich nehme Armin fast nichts übel, weil er immer mit mir spricht, mir Denkvorschläge macht, aber ich hoffe, dass er nicht gemütlich wird. Viel Bewegung und Opulenz sind nicht abendfüllend.

Fritz Kortner sah vor 1933 im Deutschen Theater Moissi als Shylock, der sich intensiv durch den Abend sang. Kortners Kommentar: "Jud allein, ist nicht abendfüllend.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-katerstimmung-1.3046086


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