Um wiedereinmal kurz mein Steckenpferd zu reiten, wäre Fräulein Peregrines Heim für sonderbare Kinder ein schlechterer Titel gewesen? Besonders ist qualitativ wertend, sonderbar ist bemerkenswert. WTF?
Beetlejuice, Batman, Edward mit den Scherenhänden, Ed Wood, Mars Attacks, Corpse Bride - Mister Burton hat einige sehr gute Filme erdacht und Schauspieler zu wunderbaren Figuren-Erfindungen animiert. Aber dann, so ab 2007 mit Sweeney Todd und später auch mit Dark Shadows und der mir allzu niedlich erscheinenden Verfilmung von Alice im Wunderland, geriet er in das betrübliche, doch scheinbar unvermeidbare Sumpfgebiet der selbstverliebten Musterwiederholung. Auch sein Remake von Charlie und die Schokoladenfabrik reichte in keinster Weise, trotz der gut dazuerfundenen freudschen Vorgeschichte von Willie Wonka, an Mel Stuarts Original mit dem vor Kurzem verstorbenen Gene Wilder heran.
Nun heute Abend im Neuköllner Rollbergkino, fast versteckt in einem ätzend unpersönlichen Einkaufszentrum, aber immerhin auf einer Leinwand, vor der ein herrlich glitzender, roter Vorhang hängt, die OV - Originalversion seines zur Zeit letzten Filmes.
Ein Großvater erzählt seinem Enkel Gutenachtgeschichten von Kindern mit besonderen Fähigkeiten, die sich verstecken müssen, da sie von Monstern verfolgt werden. Er, der Großvater, hat, wie wir später erfahren werden, auch ein außergewöhnliches Talent, er kann die, für alle anderen unsichtbaren, Monster sehen. Geboren wurde er 1930 in Polen als Kind jüdischer Eltern. Seiner Familie gelang die Flucht nach Amerika.
Viele Jahre später: der Enkelsohn findet den alten Mann, augenlos & sterbend, im Wald hinter seinem Haus und die letzten gestammelten Worte des Sterbenden, senden ihn auf seine Schicksalsreise.
Das Grundmuster war mir bekannt: unschuldiger herzensguter Held, der sich selbst für einen Verlierer hält, trifft auf verängstigte Opfer, die durch sein überrraschendes Vorbild, erlernen ihr eigenes Potential zu nutzen. Aber, wie die Ereignisse sich entwickeln würden, wußte ich nie. Gut. Burton achtet auf jedes Detail, er befriedigt meine Neugier, aber er läßt mich auf die Befriedigung warten. Gut. Er hat eine dramaturgische Metaebene in der Hinterhand, aber wartet bis zum Abspann, mit den vorbeirollenden verblaßten Photographien von den begabten Kindern, um sie mir mitzuteilen. Gut. Er hat hervorragend besetzt. Gut.
Mein neuester Kandidat für den superbesten Bösewicht: Samuel L. Jackson. Wie der, mit weißer Perücke und dentalem Horrorersatz, während starker Sturm seine Wangen flattern läßt, es schafft, cool zu erscheinen, ist schauspielerisches Genie.
Manche Kitiker verurteilen den Film für seine verwirrende Geschichte und fehlende emotionale Griffigkeit. Genau diese Eigenschaften waren es, die mir den Film liebenswert machten.
Ein absurdes Märchen. Die Einen sind gut, die Anderen schlecht. Schwarz ist schwarz und
weiß ist weiß. Grau ist die Angst.
Florence & the Machine singen den Song überm Abspann.
Die sonderbaren Kinder im klassischen Portraitphoto
Kinderkreuzzug
1939
In Polen, im
Jahr Neununddreißig
War eine
blutige Schlacht
Die hat viele
Städte und Dörfer
Zu einer
Wildnis gemacht.
Die Schwester verlor
den Bruder
Die Frau den
Mann im Heer
Zwischen Feuer
und Trümmerstätte
Fand das Kind
die Eltern nicht mehr.
Aus Polen ist
nichts mehr gekommen
Nicht Brief
noch Zeitungsbericht
Doch in den
östlichen Ländern
Läuft eine
seltsame Geschicht.
Schnee fiel,
als man sich’s erzählte
In einer
östlichen Stadt
Von einem
Kinderkreuzzug
Der in Polen
begonnen hat.
Da trippelten
Kinder hungernd
In Trüpplein
hinab die Chausseen
Und nahmen mit
sich andere, die
In
zerschossenen Dörfern stehn.
Sie wollten
entrinnen den Schlachten
Dem ganzen
Nachtmahr
Und eines Tages
kommen
In ein Land, wo
Frieden war.
Da war ein
kleiner Führer
Der hat sie
aufgericht’.
Er hatte eine
große Sorge:
Den Weg, den
wusste er nicht.
Eine Elfjährige
schleppte
Einen Jungen
von vier Jahr
Hatte alles für
eine Mutter
Nur nicht ein
Land, wo Frieden war.
Ein kleiner
Jude marschierte im Trupp
Mit einem
samtenen Kragen
Der war das
weißeste Brot gewohnt
Und hat sich
gut geschlagen.
Und zwei Brüder
kamen mit
Die waren große
Strategen
Stürmten eine
leere Bauernhütt
Und räumten sie
nur vor dem Regen.
Es ging ein
dünner Grauer mit
Hielt sich
abseits in der Landschaft
Und trug an
einer schrecklichen Schuld:
Er kam aus
einer Nazigesandtschaft.
Da war unter
ihnen ein Musiker
Der fand eine Trommel
in einem zerschossenen Dorfladen
Und durfte sie
nicht schlagen
Das hätt sie
verraten.
Und da war ein
Hund
Gefangen zum
Schlachten
mitgenommen als
Esser
Weil sie’s
nicht übers Herz brachten.
Da war auch
eine Schule
Und ein kleiner
Lehrer für Kalligraphie
Und ein Schüler
an einer zerschossenen Tankwand
Lernte
schreiben bis zu FRIE…
Da war auch ein
Konzert:
An einem lauten
Winterbach
Durfte einer
die Trommel schlagen
Da wurd er
nicht vernommen, ach.
Da war auch
eine Liebe.
Sie war zwölf,
er war fünfzehn Jahr.
In einem
zerschossenen Hofe
Kämmte sie ihm
sein Haar.
Die Liebe konnt
nicht bestehen
Es kam zu große
Kält:
Wie sollen die
Bäumchen blühen
Wenn so viel
Schnee drauf fällt?
Da war auch ein
Krieg
Denn es gab
noch eine andre Kinderschar
Und der Krieg
ging nur zu Ende
Weil es sinnlos
war.
Doch als der
Krieg noch raste
Um ein
zerschossenes Bahnwärterhaus
Da ging, wie es
heißt, der einen Partei
Plötzlich das
Essen aus.
Und als die
andere Partei das erfuhr
Da schickte sie
aus einen Mann
Mit einem Sack
Kartoffeln, weil
Man ohne Essen
nicht kämpfen kann.
Da war auch ein
Gericht
Und brannten
zwei Kerzenlichter
Und war ein
peinliches Verhör.
Verurteilt
wurde der Richter.
Da war auch
eine Hilfe
(Hilfe hat nie
geschadet)
Eine Dienstmagd
hat ihnen gezeigt
Wie man ein Kleines
badet
Sie hatte
leider nur zwei Stunden
Ihnen
beizubringen
Mußte ihrer Herrschaft
Die Betten
nachbringen.
Da war auch ein
Begräbnis
Eines Jungen
mit samtenem Kragen
Der wurde von
zwei Deutschen
Und zwei Polen
zu Grabe getragen.
Protestant,
Katholik und Nazi war da
Ihn der Erde
einzuhändigen
Und zum Schluß
sprach ein kleiner Sozialist
Von der Zukunft
der Lebendigen
So gab es
Glaube und Hoffnung
Nur nicht
Fleisch und Brot
Und keiner
schelt sie mir, wenn sie was stahln
Der ihnen nicht
Essen bot.
Und keiner
schelt mir den armen Mann
Der sie nicht
zu Tische lud:
Gleich ein
halbes Hundert, da handelt es sich
Um Mehl, nicht
um Opfermut.
Findet man zwei
oder sogar drei
Tut man gern
was dafür
Aber wenn es so
viele sind
Schließt man
seine Tür.
In einem
zerschossenen Bauernhof
Haben sie Mehl
gefunden.
Eine Elfjährige
band sich die Schürze um
Und backte
sieben Stunden.
Der Teig war
gut gerühret
Das Feuerholz
gut gehackt
Das Brot ist
nicht aufgegangen
Sie wussten nicht,
wie man Brot backt.
Sie zogen
vornehmlich nach Süden.
Süden ist, wo
die Sonn
Mittags um
zwölf Uhr steht
Gradaus davon.
Sie fanden zwar
einen Soldaten
Verwundet im
Tannengries.
Sie pflegten
ihn sieben Tage
Damit er den
Weg ihnen wies.
Er sagte ihnen:
Nach Bilgoray!
Muß stark
gefiebert haben
Und starb ihnen
weg am achten Tag.
Sie haben ihn
auch begraben.
Und da gab es
ja Wegweiser
Wenn auch vom
Schnee verweht
Nur zeigten sie
nicht mehr die Richtung an
Sondern waren
umgedreht.
Das war nicht
etwa ein grausamer Spaß
Sondern aus
militärischen Gründen
Und als sie
suchten Bilgoray
Konnten sie es
nicht finden.
Sie standen um
ihren Führer
Der sah in die
Schneeluft hinein
Und deutete mit
der kleinen Hand
Und sagte: es
muß dort sein.
Einmal, nachts.
sahen sie ein Feuer
Da gingen sie
nicht hin.
Einmal rollten
drei Tanks vorbei
Da waren
Menschen drin.
Einmal kamen
sie an eine Stadt
Da machten sie
einen Bogen
Bis sie daran
vorüber waren
Sind sie nur
nachts weitergezogen.
Wo einst das
südöstliche Polen war
Bei starkem
Schneewehn
Hat man die
fünfundfünfzig
Zuletzt gesehn.
Wenn ich die
Augen schließe
Seh ich sie
wandern
Von einem
zerschossenen Bauerngehöft
Zu einem
zerschossenen andern.
Über ihnen, in
den Wolken oben
Seh ich andre
Züge, neue, große!
Mühsam wandernd
gegen kalte Winde
Heimatlose,
Richtunglose.
Suchend nach
dem Land mit Frieden
Ohne Donner,
ohne Feuer
Nicht wie das,
aus dem sie kommen
Und der Zug
wird ungeheuer.
Und er scheint
mir durch den Dämmer
Bald schon gar
nicht mehr derselbe:
Andere Gesichtlein
seh ich
Spanische,
französische, gelbe!
In Polen, in
jenem Januar
Wurde ein Hund
gefangen
Der hatte um
seinen mageren Hals
Eine Tafel aus
Pappe hangen.
Darauf stand:
BITTE UM HILFE!
WIR WISSEN DEN
WEG NICHT MEHR.
WIR SIND
FÜNFUNDFÜNFZIG
DER HUND FÜHRT
EUCH HER.
WENN IHR NICHT
KOMMEN KÖNNT
JAGT IHN WEG!
SCHIESST NICHT
AUF IHN
NUR ER WEISS
DEN FLECK.
Die Schrift war
eine Kinderhand.
Bauern haben
sie gelesen.
Seitdem sind
eineinhalb Jahre um.
Der Hund ist
verhungert gewesen.
b.b.
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