Du ewiges Geschehen nutzloser
Katastrophen! Ihr ruft: Alles ist gut! Getäuschte Philosophen, kommt her und
schaut euch an: entsetzliche Ruinen, die Scherben und der Schutt, von Asche die
Lawinen, und Schicht auf Schicht gehäuft die Kinder und die Frauen, zerstreuter
Gliederstaub, von Marmorstein zerhauen.
Eine Oper nach dem
gleichnamigen Roman von Voltaire
Musik von Leonard Bernstein
Texte von Richard Wilbur,
Hugh Wheeler, Stephen Sondheim, John Latouche, Lillian Hellman, Dorothy Parker
& Leonard Bernstein
Die Natur hat zu allen Menschen gesprochen: Ich ließ
euch alle schwach und unwissend geboren werden, damit ihr einige Minuten auf
dieser Erde lebt und sie mit euren Leichnamen düngt. Da ihr schwach seid, klärt
euch auf und habt Nachsicht untereinander. Seid ihr alle derselben Meinung, was
sicher nie geschehen wird, so solltet ihr, wenn es auch nur einen einzigen
Menschen mit einer anderen Ansicht gibt, sie ihm zugute halten, denn ich bin
es, die ihn so denken lässt, wie er denkt. *
Es beginnt mit einer glücklichen
Adelsfamilie in ländlicher Idylle: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Auch das
Dienstmädchen und der Hauslehrer sind glücklich. Und Candide, der Bastard und
Titelheld, ist es auch.
Aber der uneheliche Junge
verliebt sich in die Tochter des Hauses, wird aus der Familie verstoßen und nur
kurze Zeit später werden Mama, Papa, ihre beiden Kinder und der liebenswürdige
Hofmeister von bulgarischen Soldaten massakriert. Die Eltern bleiben tot, aber
alle anderen erleben wundersame Wiederauferstehungen, manche sogar mehrmals,
und begegnen dann unserem Helden auf seinen im wilden Zickzack um die Welt verlaufenden
Reisen.
Sie erleben Stürme und
Schiffsuntergänge, Erdbeben, Kannibalen-Überfälle, rauschende Feste in Paris
und Nächte in einem Spielkasino in Venedig. Sie leiden, leben, kämpfen,
sterben, morden und währenddessen tanzen sie auch noch und singen außerordentlich viele wunderbare
Lieder.
Und dann beschließt dieser Candide
am Ende sein großes Abenteuer mit einem Satz: „ Wir müssen unseren Garten
bestellen.“
Wie bitte? Damit soll der Zuschauer, nach Hause gehen?
Was für ein verflixter
Garten überhaupt?
Keine großen Pläne und
Träume mehr? Keine riskanten Unternehmungen mehr? Keine Liebe ohne vernünftiges
Maß? Kein Hoffen auf das Unmögliche? Bleibt uns nichts übrig, als den kleinsten
gemeinsamen Nenner zu finden und uns damit zufrieden geben? Keine Utopie? Gibt
es wirklich keinen Ort, nirgends, für unsere Hoffnungen?
Sollen wir uns nur noch um
unsere ordentlich umrandeten Beete kümmern, das immer wieder nachwachsende Unkraut
pflichtbewusst auszupfen und still leidend hinnehmen, dass wir niemals sehr
glücklich sein werden?
Unser Held Candide hat sehr
lange gehofft, geglaubt und hingenommen und ist nun müde. Seine große Liebe ist
fett geworden und alt und hat meist schlechte Laune. Sein Lehrer, geschwächt
durch Syphilis und nasenlos, bleibt unbelehrbar, und um seine anderen
Weggefährten steht es nicht viel besser.
Wir sind nicht mehr
das, was wir einmal waren, und wollen es auch nicht mehr sein. Wie wir geliebt
haben, werden wir nicht mehr lieben. Lieben wir uns, wie wir jetzt sind. **
François-Marie Arouet, der sich selbst Voltaire nannte,
Franzose, Dichter und Aufklärer, schrieb seinen kurzen Roman „Candide oder der
Optimismus“ als erschütterte Reaktion auf das große Erdbeben, das 1755 Lissabon
in Schutt und Asche legte und mindestens 30 000 seiner Einwohner das Leben
kostete. Viele von ihnen starben, da es Allerheiligen war und sie als gute
Katholiken den Gottesdienst besuchten, unter den Trümmern über ihnen zusammenstürzender
Kirchen. Zwischen dieser Katastrophe und der zu jener Zeit verbreiteten
Philosophie, die behauptete, dass alles was ist, notwendigerweise gut sei, tat
sich für Voltaire ein Abgrund auf. Leibniz, Pope und andere erklärten diese
Welt zur besten möglichen Welt, da sie die einzig mögliche Welt sei. Candide
ist auch ein Aufschrei gegen diese zynisch erscheinende Weltsicht. Schon 1759 erscheint „Candide“ unter dem Pseudonym Doktor Ralph und kommt
sofort auf den Index, wurde von der Zensur verschiedener Länder verboten und
doch ein ‚Bestseller’.
200 Jahre später: Leonard Bernstein, einer der größten
Musiker des 20. Jahrhunderts, Komponist der West Side Story und von On The
Town, von Symphonien und Sonaten, Filmmusiken und auch des wunderbaren
Kaddisch, arbeitete sein halbes Leben lang an seiner großen Oper, an Candide.
Unzählige Librettisten schrieben und schrieben um, Szenen wurden eingefügt,
umgestellt, herausgenommen. Was entstand, ist ein reicher, überbordender und
überraschender Kosmos, in dem unterschiedliche Gattungen einander befruchten,
die Musik der ganzen Welt mitzuklingen scheint und Texte und Töne
gleichberechtigte Partner sein können.
Eines Tages
wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung.
Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion. ***
Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion. ***
* Voltaire „Über die Toleranz“ © Suhrkamp Verlag 2015
** & *** Voltaire „Candide“