Sonntag, 5. Juni 2016

Voltaire - Candide - Bernstein


Du ewiges Geschehen nutzloser Katastrophen! Ihr ruft: Alles ist gut! Getäuschte Philosophen, kommt her und schaut euch an: entsetzliche Ruinen, die Scherben und der Schutt, von Asche die Lawinen, und Schicht auf Schicht gehäuft die Kinder und die Frauen, zerstreuter Gliederstaub, von Marmorstein zerhauen.



Eine Oper nach dem gleichnamigen Roman von Voltaire
Musik von Leonard Bernstein
Texte von Richard Wilbur, Hugh Wheeler, Stephen Sondheim, John Latouche, Lillian Hellman, Dorothy Parker & Leonard Bernstein

Die Natur hat zu allen Menschen gesprochen: Ich ließ euch alle schwach und unwissend geboren werden, damit ihr einige Minuten auf dieser Erde lebt und sie mit euren Leichnamen düngt. Da ihr schwach seid, klärt euch auf und habt Nachsicht untereinander. Seid ihr alle derselben Meinung, was sicher nie geschehen wird, so solltet ihr, wenn es auch nur einen einzigen Menschen mit einer anderen Ansicht gibt, sie ihm zugute halten, denn ich bin es, die ihn so denken lässt, wie er denkt. *


Es beginnt mit einer glücklichen Adelsfamilie in ländlicher Idylle: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Auch das Dienstmädchen und der Hauslehrer sind glücklich. Und Candide, der Bastard und Titelheld, ist es auch.
Aber der uneheliche Junge verliebt sich in die Tochter des Hauses, wird aus der Familie verstoßen und nur kurze Zeit später werden Mama, Papa, ihre beiden Kinder und der liebenswürdige Hofmeister von bulgarischen Soldaten massakriert. Die Eltern bleiben tot, aber alle anderen erleben wundersame Wiederauferstehungen, manche sogar mehrmals, und begegnen dann unserem Helden auf seinen im wilden Zickzack um die Welt verlaufenden Reisen. 
Sie erleben Stürme und Schiffsuntergänge, Erdbeben, Kannibalen-Überfälle, rauschende Feste in Paris und Nächte in einem Spielkasino in Venedig. Sie leiden, leben, kämpfen, sterben, morden und währenddessen tanzen sie auch noch und singen außerordentlich viele wunderbare Lieder.

Und dann beschließt dieser Candide am Ende sein großes Abenteuer mit einem Satz: „ Wir müssen unseren Garten bestellen.“
Wie bitte? Damit soll der Zuschauer, nach Hause gehen?
Was für ein verflixter Garten überhaupt? 
Keine großen Pläne und Träume mehr? Keine riskanten Unternehmungen mehr? Keine Liebe ohne vernünftiges Maß? Kein Hoffen auf das Unmögliche? Bleibt uns nichts übrig, als den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden und uns damit zufrieden geben? Keine Utopie? Gibt es wirklich keinen Ort, nirgends, für unsere Hoffnungen?
Sollen wir uns nur noch um unsere ordentlich umrandeten Beete kümmern, das immer wieder nachwachsende Unkraut pflichtbewusst auszupfen und still  leidend hinnehmen, dass wir niemals sehr glücklich sein werden?
Unser Held Candide hat sehr lange gehofft, geglaubt und hingenommen und ist nun müde. Seine große Liebe ist fett geworden und alt und hat meist schlechte Laune. Sein Lehrer, geschwächt durch Syphilis und nasenlos, bleibt unbelehrbar, und um seine anderen Weggefährten steht es nicht viel besser.

Wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren, und wollen es auch nicht mehr sein. Wie wir geliebt haben, werden wir nicht mehr lieben. Lieben wir uns, wie wir jetzt sind. **

François-Marie Arouet, der sich selbst Voltaire nannte, Franzose, Dichter und Aufklärer, schrieb seinen kurzen Roman „Candide oder der Optimismus“ als erschütterte Reaktion auf das große Erdbeben, das 1755 Lissabon in Schutt und Asche legte und mindestens 30 000 seiner Einwohner das Leben kostete. Viele von ihnen starben, da es Allerheiligen war und sie als gute Katholiken den Gottesdienst besuchten, unter den Trümmern über ihnen zusammenstürzender Kirchen. Zwischen dieser Katastrophe und der zu jener Zeit verbreiteten Philosophie, die behauptete, dass alles was ist, notwendigerweise gut sei, tat sich für Voltaire ein Abgrund auf. Leibniz, Pope und andere erklärten diese Welt zur besten möglichen Welt, da sie die einzig mögliche Welt sei. Candide ist auch ein Aufschrei gegen diese zynisch erscheinende Weltsicht. Schon 1759 erscheint „Candide“ unter dem Pseudonym Doktor Ralph und kommt sofort auf den Index, wurde von der Zensur verschiedener Länder verboten und doch ein ‚Bestseller’.
200 Jahre später: Leonard Bernstein, einer der größten Musiker des 20. Jahrhunderts, Komponist der West Side Story und von On The Town, von Symphonien und Sonaten, Filmmusiken und auch des wunderbaren Kaddisch, arbeitete sein halbes Leben lang an seiner großen Oper, an Candide. Unzählige Librettisten schrieben und schrieben um, Szenen wurden eingefügt, umgestellt, herausgenommen. Was entstand, ist ein reicher, überbordender und überraschender Kosmos, in dem unterschiedliche Gattungen einander befruchten, die Musik der ganzen Welt mitzuklingen scheint und Texte und Töne gleichberechtigte Partner sein können.

Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung.
Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.
***

* Voltaire „Über die Toleranz“ © Suhrkamp Verlag 2015

** & *** Voltaire „Candide“

Sonntag, 29. Mai 2016

Eine Störung im Blick

Es gibt Tage, da liegt ein Schatten über Dir, obwohl, das vielleicht weit aus dramatischer klingt, als ich es meine. 
Also: ich stehe auf und watschele durch die üblichen morgendlichen Verrichtungen - Kaffee kochen, duschen, Kaffee trinken, Zähne putzen, Mails gucken, aber irgendetwas ist verquer, uneben, aus der Mitte. 

An jedem gewöhnlichen Morgen bin ich grundlos heiter. Ein sonniges Gemüt, so oberflächlich das auch klingen mag. Meine Grundhaltung der Welt gegenüber ist, ob in Folge genetischer Konstellationen oder durch günstige Umweltbedingungen, hoffnungsvoll. Ich vergesse Kränkungen, Niederlagen und andere Nackenschläge schnell und erwarte deshalb meist eine günstige Einstellung der Welt mir gegenüber, glückliche Auswirkung meines das-Glas-ist-halb-voll-Blickes und der Gnade meines schlechten Gedächtnisses. Wenn ich es positiv formulieren will, habe ich ein leichtes Gemüt. Wohl ein Geschenk meiner Mutter, die unter weit schwierigeren Bedingungen, ähnlich empfand.

Der Wellenreiter

Der letzte Wellenreiter
Einer schöneren Zeit
Mir ward warm wo es schneit
Die mich lieben
Sind mir lang geblieben
Und auch so kleine Sorgen
Sind immer wieder – morgen
Die Kriege die die Welt zerfraßen
Haben mich und Meine in Ruh gelassen
Das Essen schön
Die Betten warm
Die Kinder kamen nicht zu Harm
Die Kindheit von Vater und Mutter umgeben
Mein Mann der liebt mich sein ganzes Leben
Und eigentlich froh und heiter
Ich bin der Wellenreiter
Zwischen Himmel und Hai  
Kam ich halb sorglos
Am Schlimmsten vorbei.

barbara brecht-schall

Aber dann dieser Morgen, der aus der Gewöhnung fällt. Es hackt. Es läuft nicht rund. Es ziept und zerrt. Selbst gutes Wetter ist das falsche, ein gestern noch schönes Kleid sitzt komisch, die vielleicht völlig harmlose Bemerkung eines Kollegen klingt wie eine Beleidigung, die Probe schleppt, das Talent ist nicht zu Hause. Alles, alles ist nicht richtig richtig. Nicht schlimm, nicht katastrophal, nur so ningelig doof.
Schlafen gehen und wieder aufstehen, jetzt geht es wieder, nur so ein komischer Geschmack bleibt zurück, als hätte ich in einen faulen Apfel gebissen.
 
Das Wort Kaleidoskop stammt aus dem Griechischen und bedeutet: schöne Formen sehen. Konkret lauten die drei Wörter: καλός (kalós) „schön“, εἴδος (eidos) „Form, Gestalt“ und σκοπεῖν (skopéin) „schauen, sehen, betrachten“.

Da 'aschimos' im Griechischen 'häßlich' heißt, wäre ein Aschimoskop, wohl das, was sich mir manchmal überraschend vor die Linse legt.

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Eine Empfehlung zum Schluß: bis zum 10. Juli kann man im Hamburger Bahnhof noch "Manifesto" von Julian Rosefeldt ansehen & anhören. 13 parallel laufende Videos mit Cate Blanchett in unterschiedlichen Rollen und Situationen Kunstmanifeste sprechend, darunter Texte von Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara, Kazimir Malevich, André Breton, Claes Oldenburg, Yvonne Reiner, Sturtevant, Adrian Piper, Sol LeWitt oder Jim Jarmusch.

 © VG Bild-Kunst, Bonn 2016


Samstag, 21. Mai 2016

Strichmännchen - Kindheit der Kunst -

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Hand mit drei kleinen Figuren 
Ägypten, Wadi Sura, zwischen 4400 bis 3500 v. Chr., 
Aquarell von Elisabeth Charlotte Pauli, 1933.

Eine Hand, der, der mit ihr griff, aß, streichelte, schlug, ist schon lange Staub, vielleicht jetzt Teil der gleichen rötlichen Erde, die den Hintergrund färbt. Das Abbild seiner Hand ist noch da. Hat der Besitzer der Hand die drei kleinen geduckten Figuren geschaffen? Oder war es jemand anderes, später? 
Schleichen sich die Drei an etwas an? Tanzen sie? Wer waren sie? 
Wie ist der längst Tote auf die Idee gekommen, sie zu zeichnen? 
Warum? Ich lese Diffuses über rituelle, religiöse Gründe. Aber der "Uranlass" für diese nie zuvor geschehene Tat - etwas abzubilden - bleibt mir ein Geheimnis. 
Mir wurden in Kinderzeiten Papier und Buntstifte angeboten, ich kritzelte und malte mich durch die Strichmännchenphase in die der Menschenähnlichkeit und hörte, in Folge völligen Talent- und somit Interessemangels, wenige Jahre später damit auf.
Aber irgendwann hat jemand ohne Vorbild, ohne Anleitung Tonerde und Wasser vermischt und ein Bild gezeichnet oder es mit einem spitzen Stein in eine Felswand gekratzt. Er hatte sein eigenes Abbild vielleicht im Wasser eines Sees, das Schattenbild seines Körpers von der Sonne auf die Erde geworfen, erblickt, und machte sich nun daran, selbst ein Abbild von etwas zu erschaffen. Und nicht etwa eins zu eins, sondern unter Weglassung von für seine Absicht unwesentlichen Einzelheiten, versuchte er etwas Wesentliches zu bannen, festzuhalten. Die Essenz? Die Schönheit? Die Kraft? Das Leben?
Ein Zeichen?
Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, dieser Akt war genauso revolutionär, wie der, als einer oder einige das erste Mal Feuer entfachten
Wir konnten nun Mitteilung von uns machen, die länger, viel länger blieb, als wir es selbst konnten, etwas, das unseren schnell vergänglichen Körper überlebte. 
Einen Rest, eine Nachricht, eine Verbindung. 
Und tausende Jahre später kamen Paul Klee, Franz Marc und andere, sahen die Abbilder dieser Bilder, fanden Erinnertes darin und malten es.

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Mühsame Arbeit: 
Die Malerinnen Elisabeth Paul und Katharina Marr beim Kopieren eines Felsbildes in El Richa, Algerien, im Jahr 1935.
© Frobenius-Institut Frankfurt am Main

Leo Frobenius (* 29. Juni 1873 in Berlin; † 9. August 1938 in Biganzolo, Italien) war ein deutscher Ethnologe, sagt Wiki. Eine sehr interessante Biographie, hochkonzentiert auf seine Arbeit nutzte er jedes gerade herrschende politische Sytem, scheinbar ohne Irritation, zur Förderung derselben.

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Drei hockende Gestalten, 
Simbabwe, um das Jahr 8000 bis 2000 v. Chr., Aquarell von Leo Frobenius, 1929.
© Frobenius-Institut Frankfurt am Main

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Liegender mit Hörnermaske
Agnes Schulz, Simbabwe, Rusape, Diana Vow, 1929. © Frobenius-Institut, Frankfurt am Main

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Männer
Simbabwe, Chinamora, Massimbura. 8.000-2.000 v. Chr.

--------------------------------------Aus dem Wikiartikel über Kinderzeichnungen:
 
Die ersten Gebilde auf Kinderzeichnungen, die für Erwachsene etwas Erkennbares darstellen, sind die sogenannten „Kopffüßler“. Sie bestehen zunächst aus einem Kreis mit fühler- oder tentakelartigen Gebilden, die nach allen Richtungen abstehen - dem sogenannten Tastkörper. Er hat zwar Ähnlichkeit mit Sonnendarstellungen auf späteren Kinderbildern, wird aber eher als Ausdruck der momentanen Entwicklungssituation des Kindes selbst, das nach allen Seiten hin Erfahrungen macht und seinen Horizont ausdehnt, angesehen. Später beschränkt sich die Anzahl an angehängten Gliedmaßen auf zwei bis vier und in den Kreis wird ein schematisches Gesicht eingefügt. Warum bei diesen frühen Menschendarstellungen regelmäßig der Rumpf fehlt, obwohl schon sehr viel jüngere Kinder wissen, dass es einen Bauch gibt, und diesen an sich selbst und anderen auch zeigen können, ist umstritten. Gegen Ende der Kopffüßlerphase, wenn sich auch die Strichmännchen entwickeln, werden auch andere Formen, etwa Rechtecke, in das Repertoire aufgenommen, so dass nun auch andere Bildinhalte als nur die „Urlebewesen“ dargestellt werden können.

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 Knabe mit einer Zeichnung
Giovanni Francesco Caroto
1. Hälfte 16. Jh.

Sonntag, 15. Mai 2016

Serien - Wie geht es weiter? - Ein Junkie beichtet.

Vor circa zehn Jahren habe ich, kurz entschlossen, aufgehört Fernsehen zu gucken. 
Nächte, in denen ich zum penetranten Klang von Dauerwerbesendungen aufwachte, in denen mir im halbwachen Zustand gräßliche Gestalten ihre unnützen Angebote in die schlafmüden Ohren brüllten, in denen ich angeschrien und bedrängt wurde jetzt und sofort irgendwelchen Dreck zu kaufen, solche Nächte hatten mich zu dieser Entscheidung gezwungen. Ich war offenbar nicht fähig, das übertragende Gerät auszuschalten, wenn es genug war. Irgendetwas an diesem Medium hypnotisierte mich in einen Zustand verteidigungsloser Willigkeit alles aufzusaugen, was mir visuell und akustisch zugemutet wurde, von inhaltlich und ästhetisch ganz zu schweigen. 
Schluß, aus, genug! 
Ich ging ersteinmal viel ins Kino, heute seltener, weil meine Mutter nicht mehr da ist, mit ihrer jungen und erfrischenden Begeisterungsfähigkeit für nahezu jedwede Form von beweglichen Bildern. Eine Kindheit in Los Angeles mit Triple-Shows am Samstag für einen Dollar hatte sie wohl lebenslang infiziert. Und durch genetische Übertragung dann mich. Mit wem soll ich jetzt in den nächsten Avenger gehen? X-Men Teil XV für mich und der neue Thor für sie. Die 3D-Brillen immer bereit in ihrem Täschchen, da spart man jedesmal 2 Euro, hat sie gesagt. Mist, Mist, Doppelmist!

Wenige, nahezu fernsehfreie Jahre später, haben mich Serien kalt erwischt.

SERIEN sind meine neue Droge. 
Nein, nein, nein, keineswegs alle. Keine Komödien, nix mit Vampiren und Zombies, und nichts aus deutscher Produktion (Mea culpa!). 
Aber eine komplizierte, langwierige, überraschende Geschichte gründlich und langsam, ja, nahezu bedächtig, durch Schauspieler,  Regisseure und ihre Kollaborateure, die ihr Handwerk verstehen, erzählt, packt mich, greift mich am Schlaffitchen, zwingt mich zum Zuschauen, Mitfiebern.
Manche gucke ich im Stück, eine Staffel im Schnelldurchlauf, wie ein Gelage: es ist zwei Uhr nachts, aber eine Episode geht doch noch. Andere ganz ordentlich im Wochenabstand, Happs für Happs mit Genuß und vorfreudiger Ungeduld. 

 
Game of Thrones war in seiner fünften Staffel, ich arbeitete in Heilbronn, das kein Wlan bietet, außer beim örtlichen Starbucks. Dort ist es laaaaaaangsaaaaaam, aber willig. Jeden Montag trank ich dort verlogen betulich anderthalb Stunden einen Latte, bis die neue Episode heruntergeladen war. Illegal und lächerlich, aber wahr.

Vor drei Tagen habe ich meine großartige und sehr ernsthafte Regieassistentin, eine Frau um die 40, tanzen gesehen, in Vorfreude auf Staffel 6.

Homer sang den Zorn des Achilles. 
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.

Zwischen der fünften und sechsten Staffel vergeht ein Jahr, übervoll von gelebtem Leben und lebendiger Arbeit, und doch weiß ich immer noch, wer wen haßt, wer mit wem bald zusammentreffen muß, wer gestorben ist (oder doch nicht?), wer wen liebt in Westeros. In einer Geschichte mit mindestens sieben Handlungssträngen, Drachen und äußerst unfeministischen Frauenkostümen. In meiner realen Welt macht es mir Mühe die Namen der Hauptakteure, Politiker, Bosse und Bankiers zu erinnern, in der mythischen Fernsehwelt nicht. Warum?

Als ein Grundmuster von Mythologien hat der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell das Motiv der Heldenfahrt erforscht.

Das "Abenteuer des Helden" nach Joseph Campbell

Die Stationen einer Heldenreise stellen sich nach Campbell wie folgt dar:
Der Ruf des Abenteuers (Berufung): Erfahrung eines Mangels oder plötzliches Erscheinen einer Aufgabe
Weigerung: Der Held zögert, dem Ruf zu folgen, beispielsweise, weil es gilt, Sicherheiten aufzugeben.
Übernatürliche Hilfe: Der Held trifft unerwartet auf einen oder mehrere Mentoren.
Das Überschreiten der ersten Schwelle: Er überwindet sein Zögern und macht sich auf die Reise.
Der Bauch des Walfischs: Die Probleme, die dem Helden gegenübertreten, drohen ihn zu überwältigen - zum ersten Mal wird ihm das volle Ausmaß der Aufgabe bewusst.
Der Weg der Prüfungen: Auftreten von Problemen, die als Prüfungen interpretiert werden können (Auseinandersetzungen, die sich als Kämpfe gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen können)
Die Begegnung mit der Göttin: dem Helden (oder der Heldin) wird die gegengeschlechtliche Macht offenbar.
Die Frau als Versucherin: die Alternative zum Weg des Helden kann sich auch als vermeintlich sehr angenehme Zeit an der Seite einer (verführerischen) Frau offenbaren

Versöhnung mit dem Vater: die Erkenntnis steht dem Helden bevor, dass er Teil einer genealogischen Kette ist. Er trägt das Erbe seiner Vorfahren in sich, bzw. sein Gegner ist in Wahrheit er selbst.
Apotheose: In der Verwirklichung der Reise des Helden wird ihm offenbar, dass er göttliches Potenzial in sich trägt (in Märchen oft symbolisiert durch die Erkenntnis, dass er königliches Blut in sich trägt).
Die endgültige Segnung: Empfang oder Raub eines Elixiers oder Schatzes, der die Welt des Alltags, aus der der Held aufgebrochen ist, retten könnte. Dieser Schatz kann auch aus einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen äußerlichen Gegenstand symbolisiert wird.
Verweigerung der Rückkehr: Der Held zögert in die Welt des Alltags zurückzukehren.
Die magische Flucht: Der Held wird durch innere Beweggründe oder äußeren Zwang zur Rückkehr bewegt, die sich in einem magischen Flug oder durch Flucht vor negativen Kräften vollzieht.
Rettung von außen: Eine Tat oder ein Gedanke des Helden auf dem Hinweg wird nun zu seiner Rettung auf dem Rückweg. Oftmals handelt es sich um eine empathische Tat einem vermeintlich "niederen Wesen" gegenüber, die sich nun auszahlt.
Rückkehr über die Schwelle: Der Held überschreitet die Schwelle zur Alltagswelt, aus der er ursprünglich aufgebrochen war. Er trifft auf Unglauben oder Unverständnis, und muss das auf der Heldenreise Gefundene oder Errungene in das Alltagsleben integrieren. (Im Märchen: Das Gold, das plötzlich zur Asche wird)
Herr der zwei Welten: Der Held vereint Alltagsleben mit seinem neugefundenen Wissen und damit die Welt seines Inneren mit den äußeren Anforderungen.
Freiheit zum Leben: Das Elixier des Helden hat die "normale Welt" verändert; indem er sie an seinen Erfahrungen teilhaben lässt, hat er sie zu einer neuen Freiheit des Lebens geführt.

Mittwoch, 11. Mai 2016

Das soll ich sein?

Ein kleiner Albtraum. Heute nacht nach einem heftigen Probentag weisen mich Facebookfreunde darauf hin , dass auf MDR ein alter DEFA-Film mit mir läuft. "Vernehmung der Zeugen" von Gunther Scholz. Ein junger Mann tötet seinen Mitschüler, die Zeugen werden befragt. Ich spiele eine Lehrerin namens Frau Schulenburg. In meinem Hirn herrscht nahezu völlige Amnesie. 
Ich erinnere mich an einen heißen Sommer, ich weiß, ich war sehr verliebt in einem Haus im Brandenburgischen, ein Tatra holte mich jeden Morgen zum Dreh ab. Das Kind war klein und erfand täglich exotische Gerichte aus frischen Blaubeeren, Gartensand und Schlagsahne. Die Knutschflecke am Hals mußten überschminkt werden. Das Gelächter der sehr jungen Kollegen am Set. Heute sind viele davon "gestandene" Spieler, aber einige sind aus dem Beruf verschwunden. Da war Hoffnung und dann war keine mehr.
Meine große Szene habe ich leider verpasst und hänge vor dem Fernseher und blicke fremd und verstört in eine längst vergangene Zeit. 
Diese verflixte kleine pissige DDR mit ihrer deprimierenden beigen Farblosigkeit. Der Film ist beklemmend hölzern und doch irgendwie rührend in seiner bemühten Ernsthaftigkeit. Alle versuchen so sehr ehrlich, so sehr wahrhaftig zu sein, hier und da ein gewagter Satz, gewagt nach den Regeln der Zensur, an die wir alle gewöhnt waren. 
Jeder berlinert was das Zeug hält, denn berlinern ist authentisch.
Zwischendurch tolle Schauspieler, Christine Schorn, Henry Hübchen, die unfaßbar wunderbare Gudrun Okras.
Und inmitten dieses Kuddelmuddels ich, im Jahr 1987. 29 Jahre alt. und ich erkenne mich nicht. Ich spiele das ganz gut. Nicht peinlich. Aber ich weiß ums Verrecken nicht mehr, wer die Frau war, die da agiert. 
Sicher im Theater verschwindest Du, wenn Du nicht mehr spielst, oder wie Schiller es besser formuliert, uns Mimen flicht die Nachwelt keinerlei Kränze, aber Dir selbst so zuzuschauen, wie Du ohne Deine jetzt gemachten Erfahrungen mit einem Gesicht frischer, doch fremder, Sätze, an die Du Dich nicht erinnerst, sprichst ist surreal. Wer war ich?


Montag, 9. Mai 2016

Monet & Manet

MONET & MANET

Claude Oscar Monet (* 14. November 1840 in Paris; † 5. Dezember 1926 in Giverny, geboren Oscar-Claude Monet) war ein französischer Maler, dessen mittlere Schaffensperiode der Stilrichtung des Impressionismus zugeordnet wird. Er starb mit mit 86 Jahren.

Édouard Manet (* 23. Januar 1832 in Paris; † 30. April 1883 ebenda) war ein französischer Maler. Er war eine der wichtigsten Wegbereiter des Übergangs von der realistischen zur impressionistischen Malerei. Er wurde nur 51 Jahre alt.


Auf dem ersten großen Filmplakat meines Lebens, außen am Kino International, stand in großen Lettern Johanna Schell. Auch eine interessante Familie, aber nicht meine.

Monet & Manet, wer ist wer? Helfen Eselsbrücken?

Monet ist der mit den Mohnfeldern.

1873

Aber Monet ist auch der mit den Wasserlillien. Oh.


Manet hat Olympia gemalt.

 1863

 Aber auch von Manet ist das Frühstück im Grünen. Verdammter Müst!
1863

Eselsbrücken helfen nicht wirklich. Hat jemand einen besseren Vorschlag?

NAME IST SCHALL UND RAUCH

Die Gretchenfrage 

Nun sag. Wie hast Du’s mit der Religion? 
Du bist ein herzlich guter Mann. Allein, 
ich glaub, du hältst nicht viel davon? 
Die Faustantwort

Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub’ ihn.
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: Ich glaub ihn nicht?

...
Nenn es dann, wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“

Freitag, 6. Mai 2016

e.e. cummings - ich werde weit waten - i will wade out

waten - auf nachgebendem Untergrund gehen, wobei man einsinkt und deshalb die Beine beim Weitergehen anheben muss, 
so definiert es Wiki
waten - im Wasser oder auf nachgebendem Untergrund langsam gehen, wobei die Beine bei jedem Schritt nacheinander angehoben werden, #
so beschreibt es Wiktionary
MYSTERIÖS - GEHEIMNISVOLL
ich werde weit hinaus waten
 bis meine hüften von brennenden blumen bedeckt sind
ich werde die sonne in meinen mund nehmen
und in die fette luft springen
Lebendig
mit geschlossenen augen
um gegen dunkelheit zu rasen
in den schlafenden kurven meines körpers
Werde finger verwenden von geschmeidiger Meisterschaft
mit keuschheit von meermädchen
Werde ich das rätsel
meines fleisches vollenden
ich werde auferstehen
blumen
küssend
und meine zähne in das silber des mondes versenken
 

 

i will wade out
till my thighs are steeped in burning flowers
I will take the sun in my mouth
and leap into the ripe air
Alive
with closed eyes
to dash against darkness
in the sleeping curves of my body
Shall enter fingers of smooth mastery
with chasteness of sea-girls
Will i complete the mystery
of my flesh
I will rise
After a thousand years
lipping
flowers
And set my teeth in the silver of the moon
e.e. cummings

brennende rose
© StainXY
 

Sonntag, 1. Mai 2016

Berlin im Frühling - Das Gallery Weekend

20 Grad, Berlin blüht, Berliner benehmen sich südländisch, Touristen benehmen sich noch touristischer als sonst, und die, die so tun, als sein sie Berliner - würde ich anderswo vielleicht auch versuchen  -  fallen noch mehr auf, weil sie nicht augenblicklich in berlinisch überbordende Sommerlaune verfallen. 
Und dann auch noch das durch und durch künstliche und doch funktionierende "Event" - das Gallery Weekend. Total English. Die Kreativszene bzw., hunderte Leute jeden Alters drängeln sich durch die engen Straßen, an denen sich Kunstgalerien gemeinhin ansiedeln, die Augen und das Hirn überfüllt mit einer Mischung aus Kunst, Kitsch, Angestrengtheit und den verzweifelten Versuchen von hoffnungsvollen Künstlern, sich auf dem völlig unübersichtlichen Markt zu positionieren. Yves Klein in weiß umd grau, Olafur Eliasson in Designerschick, aber eben auch unbekannter Otto Dix. 
In einer Ateliergalerie im ersten Stock des Seitenflügels erster Hinterhof die Zeichnung eines alten Mannes mit einer Gouache der zartesten Frühlingsblumen als Kranz ums Haupt, ein kleiner gelber König hockt auf einem zu großen Thron und ein weintrinkender Maler erkärt: Das Porträt brauchte 40 Minuten, die Gouache zwei ganze Tage. Der Maler war schmal, schön und nicht wohlhabend. Ein Maler. Sein "Manager" trank auch Weißwein und war noch schmaler.
In anderen Galerien gab es an der Rezeption gutaussehende Mädchen um die 20 und ihre männlichen Equvivalent, Praktikanten, unterbezahlt und professionell stilsicher und  unterkühlt.
Selbst die Ausstattung der Kunsteifrigen ist bemerkenswert. Bedachtes stilsicheres Ganzkörperkostüm neben hoffnungslos schlechtsitzendem H&M - Gemisch.
Mein Job ist schon recht erfolgs- und ergebnisorientiert. Aber die armen bildenden Künstler, allein in ihren mehr oder weniger komfortablen Ateliers, die haben es wirklich schwer.

Otto Dix "Soldat" mit Stahlhelm nach rechts blickend; Gouache 1917


 Otto Dix Selbstportät
 Otto Dix Frau

Einmal im Jahr, zum Gallery Weekend Berlin, schließen sich einige der renommiertesten Galerien Berlins zusammen, öffnen ihre Türen und laden nationale und internationale Sammler, Kuratoren und Kunstinteressierte in ihre Räumlichkeiten, um aktuelle Arbeiten ihrer Künstler zu präsentieren. 
... Mit seinem Zusammenspiel aus Ausstellungsbesuchen, Berlinerlebnis und gesellschaftlichem Ereignis zieht das Gallery Weekend Berlin für drei Tage Sammlern, Kuratoren und Kunstliebhabern aus aller Welt in die Stadt. Rund 1.200 geladene nationale und internationale Sammler, Kuratoren und Vertreter von Museen und Institutionen und um die 20.000 Kunstinteressierte besuchen die Ausstellungen des Gallery Weekends jedes Jahr.

Peter Puklus Einundeinhalb Meter

Die ehemalige Max-Planck-Oberschule, jetzt ein Galerienhaus

Freitag, 29. April 2016

Schädliche, schlechte Scheißgedichte

Die Lieblingsnichte besucht nunmehr die 6. Klasse und erlernt dort, unter anderem, auch den guten Gebrauch der deutschen Sprache. Ja. Tut sie. Dachte ich. Rechtschreibung, Grammatik, leider völlig unsystematisch und unspielerisch, und eben auch Lyrik.
Wenn die Lieblingsnichte mir ihre teils erlebten, teils aus der Luft gegriffenen Abenteuer erzählt,  zaubert sie die verblüffendsten Wörter aus ihrem Hirn, wie aus einer Wundertüte, aufgeschnappt, halbgehört, ausprobiert, gekostet. Und wenn ich ihr ein neues Wort vorschlage, freut sie sich geradezu diebisch. "Angsteinflößend" hat sie erst dreimal gesungen und dann als Pantomime dargestellt - ein großes Glas Angst die Kehle runter, die dabei krampfhaft schluckt.
Nun steht eine Gedichtsinterpretation an. Sowas habe ich schon immer gehaßt. Man nimmt ein wehrloses Gedicht, greift es an der Kehle, quetscht ihm seinen behaupteten eineindeutigen Sinn aus dem Maul und läßt es keuchend, poesieentleert und halbtot zurück. 
Und jetzt kommt der traurige Clou. Das zu interpretierende Gedicht selbst, hier zwei seiner scheußlichen drei oder vier Strophen, ist ein Scheißgedicht. Fremd reimt sich auf benennt, der Rhythmus ist marschmusikartig und der Inhalt... der Inhalt, die Aussage ist simpel, blöd und gutgemeint. Es gibt nix Schlimmeres als gutgemeint, weil man wegen der guten Absicht auch noch ein schlechtes Gewissen haben soll, wenn man Schund Schund nennt.
...

Das Fremde bleibt so lange fremd
bis es begrüßt berührt bekennt:
Du bist nicht fremd, du bist vertraut
Gefühle werden aufgetaut.

Das Fremde bleibt so lange fremd
bis es begrüßt berührt bekennt:
Das Anderssein ist interessant
Probieren wir`s, nimm meine Hand!

Erwin Grosche
Die armen, armen Kinder. 
Als ich meine kanadischen Schauspielstudenten im dritten Jahr nach ihrem Lieblingsgedicht fragte, antwortete mir ein gigantisches langes Schweigen. Gerade ein paar mittelgute Liedtexte konnte ich ihnen mühsam abringen. 
Ich liebe Gedichte, ich liebe gute Gedichte. Lange, kurze, klare, mysteriöse, gereimte, und solche freier Art. Traurige, absurde, spirituelle, kabarettistische, wortverspielte, strenge und alberne. Eingekochte Sprache, Dichte, Musik, Bilder, Wendungen, Melodie.
Aber manchmal fühle ich mich wie ein abgewrackter Handlungsreisender, der bettelnd und unterwürfig durch die Gegend rennt und Leuten eine Ware anbietet, die sie ums Verrecken nicht wollen.
Und dann muß ich auch noch erleben, wie man meiner süßen kleinen Sprachabenteurerin abgedroschene Klischees als Poesie verkauft und ihr möglicherweise ihre Spracheroberungslust zerstört. O weh. O weh.
 Das Bild einer Schlange, die einen Elefanten verdaut, einer Schlange mit äußerst dickem Bauch, erscheint Menschen, denen man die Poesie ausgetrieben hat, wie die Darstellung eines schiefen Hutes.
"Der Kleine Prinz" Antoine de Saint-Exupéry

DER MENSCH

Der Mensch Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret
Und nimmt des Trugs nicht wahr,

Gelüstet und begehret
Und bringt sein Tränlein dar,
Verachtet und verehret,
Hat Freude und Gefahr,

Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr,
Erbauet und zerstöret
Und quält sich immerdar,

Schläft, wachet, wächst und zehret
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
Wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.

Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.
 Matthias Claudius

Mittwoch, 27. April 2016

Alles rennet, rettet, flüchtet.

Heute im Radio ist mir das erste Mal aufgefallen, dass "wir" jetzt Geflüchtete anstatt Flüchtlinge sagen. Warum?

Als Kind begenete ich dem Wort Flucht zuerst durch Richard Kimble, dem Mann im Westfernsehen auf seiner nicht enden wollenden Flucht vor der Polizei, seinerseits einen fliehenden Einarmigen verfolgend. Meine Mutter war 1933 mit ihren Eltern aus Deutschland geflohen, 6 Länder in 6 Jahren. Sie sprach selten darüber. Emigrieren klingt so ganz anders als fliehen, irgendwie elegant, auch harmloser. Dann waren da Vertriebene, Deutsche, die in Schlesien gelebt hatten, Verwandte meiner Nenntante. Sie waren Kleinbauern, trauerten um ihre Felder und Häuser, die vertrauten Landschaften. Dann geflüsterte Gerüchte über Fluchtversuche aus der DDR in den Westen, die Spree durchschwimmend mit Pappschwänen auf dem Kopf. Rübermachen, abhauen. Den grauenerregenden Ernst dieser Geschehnisse begriff ich nicht sofort. Und als ich ihn verstand, wurde das Land in dem ich lebte mir vollends fremd.

Flucht, Zuflucht, Flüchtling, Fliehender, Geflüchteter, Asylant, Emigrant, Immigrant, Einwanderer, Vertriebener, Verjagter, 
flüchtig, verflucht   

 Berühmter Flüchtling: Volkspolizist Conrad Schumann 1961.
© Peter Leibing
 
Wiki sagt: Flucht ist eine Reaktion auf Gefahren, Bedrohungen oder als unzumutbar empfundene Situationen. Meist ist die Flucht ein plötzliches und eiliges, manchmal auch heimliches Verlassen eines Aufenthaltsortes oder Landes. Die eilige Bewegung weg von der Bedrohung ist oft ziellos und ungeordnet, eine Flucht kann aber auch das gezielte Aufsuchen eines Zufluchtsortes sein. Fluchtverhalten gehört zum natürlichen Verhaltensrepertoire von Tieren.

Was hat es also mit dem Wort Flüchtling auf sich? Beim Nachlesen habe ich gelernt, dass es keine weibliche Form hat, dass die Endsilbe "-ling" einen abwertenden Beigeschmack erzeugt, wie bei Schönling oder Hämpfling. Geflüchteter klingt auch aktiver. Trotzdem wäre ich eher für Verjagter oder, weiblich, Verjagte. Verjagt aus ihrer Heimat durch Krieg, Gewalt, Hass, Armut und Not, die eigentlichen Reiter der Apokalypse. 

Kritik am Begriff "Flüchtling"

Der Begriff „Flüchtling“ wird von einigen Initiativen kritisiert. Hinter der Versächlichung, die durch das Suffix „-ling“ entsteht, verschwinden persönliche Hintergründe von Personen, Bildungs- und Berufsgeschichten, persönliche Interessen und politische Meinungen. Daher ist es angebrachter, von „geflüchteten oder geflohenen Menschen“ zu sprechen.
Sächsischer Flüchtlingsrat

Hier endet das Gendern

Klingt das Wort „Flüchtling“ für sprachsensible Ohren abschätzig? Eine weibliche Form jedenfalls kann mit ihm nicht gebildet werden. Doch was gäbe es für Alternativen?
 

Wider den Begriff Flüchtling

 
Der Titel ist ein Zitat aus "Der Glocke" von F. Schiller