Donnerstag, 23. April 2015

HEINRICH VON KLEIST - DIE HEILIGE CÄCILIE ODER DIE MACHT DER MUSIK



Martha Argerich



HEINRICH VON KLEIST

DIE HEILIGE CÄCILIE ODER DIE MACHT DER MUSIK

Um das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, als die Bilderstürmerei in den Niederlanden wütete, trafen drei Brüder, junge in Wittenberg studierende Leute, mit einem vierten, der in Antwerpen als Prädikant angestellt war, in der Stadt Aachen zusammen. Sie wollten daselbst eine Erbschaft erheben, die ihnen von Seiten eines alten, ihnen allen unbekannten Oheims zugefallen war, und kehrten, weil niemand in dem Ort war, an den sie sich hätten wenden können, in einem Gasthof ein. Nach Verlauf einiger Tage, die sie damit zugebracht hatten, den Prädikanten über die merkwürdigen Auftritte, die in den Niederlanden vorgefallen waren, anzuhören, traf es sich, daß von den Nonnen im Kloster der heiligen Cäcilie, das damals vor den Toren dieser Stadt lag, der Fronleichnamstag festlich begangen werden sollte; dergestalt, daß die vier Brüder, von Schwärmerei, Jugend und dem Beispiel der Niederländer erhitzt, beschlossen, auch der Stadt Aachen das Schauspiel einer Bilderstürmerei zu geben. Der Prädikant, der dergleichen Unternehmungen mehr als einmal schon geleitet hatte, versammelte, am Abend zuvor, eine Anzahl junger, der neuen Lehre ergebener Kaufmannssöhne und Studenten, welche, in dem Gasthofe, bei Wein und Speisen, unter Verwünschungen des Papsttums, die Nacht zubrachten; und, da der Tag über die Zinnen der Stadt aufgegangen, versahen sie sich mit Äxten und Zerstörungswerkzeugen aller Art, um ihr ausgelassenes Geschäft zu beginnen. Sie verabredeten frohlockend ein Zeichen, auf welches sie damit anfangen wollten, die Fensterscheiben, mit biblischen Geschichten bemalt, einzuwerfen; und eines großen Anhangs, den sie unter dem Volk finden würden, gewiß, verfügten sie sich, entschlossen keinen Stein auf dem andern zu lassen, in der Stunde, da die Glocken läuteten, in den Dom. Die Äbtissin, die, schon beim Anbruch des Tages, durch einen Freund von der Gefahr, in welcher das Kloster schwebte, benachrichtigt worden war, schickte vergebens, zu wiederholten Malen, zu dem kaiserlichen Offizier, der in der Stadt kommandierte, und bat sich, zum Schutz des Klosters, eine Wache aus; der Offizier, der selbst ein Feind des Papsttums, und als solcher, wenigstens unter der Hand, der neuen Lehre zugetan war, wußte ihr unter dem staatsklugen Vorgeben, daß sie Geister sähe, und für ihr Kloster auch nicht der Schatten einer Gefahr vorhanden sei, die Wache zu verweigern. Inzwischen brach die Stunde an, da die Feierlichkeiten beginnen sollten, und die Nonnen schickten sich, unter Angst und Beten, und jammervoller Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, zur Messe an. Niemand beschützte sie, als ein alter, siebenzigjähriger Klostervogt, der sich, mit einigen bewaffneten Troßknechten, am Eingang der Kirche aufstellte. In den Nonnenklöstern führen, auf das Spiel jeder Art der Instrumente geübt, die Nonnen, wie bekannt, ihre Musiken selber auf; oft mit einer Präzision, einem Verstand und einer Empfindung, die man in männlichen Orchestern (vielleicht wegen der weiblichen Geschlechtsart dieser geheimnisvollen Kunst) vermißt. Nun fügte es sich, zur Verdoppelung der Bedrängnis, daß die Kapellmeisterin, Schwester Antonia, welche die Musik auf dem Orchester zu dirigieren pflegte, wenige Tage zuvor, an einem Nervenfieber heftig erkrankte; dergestalt, daß abgesehen von den vier gotteslästerlichen Brüdern, die man bereits, in Mänteln gehüllt, unter den Pfeilern der Kirche erblickte, das Kloster auch, wegen Aufführung eines schicklichen Musikwerks, in der lebhaftesten Verlegenheit war. Die Äbtissin, die am Abend des vorhergehenden Tages befohlen hatte, daß eine uralte von einem unbekannten Meister herrührende, italienische Messe aufgeführt werden möchte, mit welcher die Kapelle mehrmals schon, einer besondern Heiligkeit und Herrlichkeit wegen, mit welcher sie gedichtet war, die größesten Wirkungen hervorgebracht hatte, schickte, mehr als jemals auf ihren Willen beharrend, noch einmal zur Schwester Antonia herab, um zu hören, wie sich dieselbe befinde; die Nonne aber, die dies Geschäft übernahm, kam mit der Nachricht zurück, daß die Schwester in gänzlich bewußtlosem Zustande daniederliege, und daß an ihre Direktionsführung, bei der vorhabenden Musik, auf keine Weise zu denken sei. Inzwischen waren in dem Dom, in welchem sich nach und nach mehr denn hundert, mit Beilen und Brechstangen versehene Frevler, von allen Ständen und Altern, eingefunden hatten, bereits die bedenklichsten Auftritte vorgefallen; man hatte einige Troßknechte, die an den Portälen standen, auf die unanständigste Weise geneckt, und sich die frechsten und unverschämtesten Äußerungen gegen die Nonnen erlaubt, die sich hin und wieder, in frommen Geschäften, einzeln in den Hallen blicken ließen: dergestalt, daß der Klostervogt sich in die Sakristei verfügte, und die Äbtissin auf Knieen beschwor, das Fest einzustellen und sich in die Stadt, unter den Schutz des Kommandanten zu begeben. Aber die Äbtissin bestand unerschütterlich darauf, daß das zur Ehre des höchsten Gottes angeordnete Fest begangen werden müsse; sie erinnerte den Klostervogt an seine Pflicht, die Messe und den feierlichen Umgang, der in dem Dom gehalten werden würde, mit Leib und Leben zu beschirmen; und befahl, weil eben die Glocke schlug, den Nonnen, die sie, unter Zittern und Beben umringten, ein Oratorium, gleichviel welches und von welchem Wert es sei, zu nehmen, und mit dessen Aufführung sofort den Anfang zu machen.
Cameron Carpenter 
@ Susanne Pfaller



Eben schickten sich die Nonnen auf dem Altan der Orgel dazu an; die Partitur eines Musikwerks, das man schon häufig gegeben hatte, ward verteilt, Geigen, Hoboen und Bässe geprüft und gestimmt: als Schwester Antonia plötzlich, frisch und gesund, ein wenig bleich im Gesicht, von der Treppe her erschien; sie trug die Partitur der uralten, italienischen Messe, auf deren Aufführung die Äbtissin so dringend bestanden hatte, unter dem Arm. Auf die erstaunte Frage der Nonnen. »wo sie herkomme? und wie sie sich plötzlich so erholt habe?« antwortete sie: gleichviel, Freundinnen, gleichviel! verteilte die Partitur, die sie bei sich trug, und setzte sich selbst, von Begeisterung glühend, an die Orgel, um die Direktion des vortrefflichen Musikstücks zu übernehmen. Demnach kam es, wie ein wunderbarer, himmlischer Trost, in die Herzen der frommen Frauen; sie stellten sich augenblicklich mit ihren Instrumenten an die Pulte; die Beklemmung selbst, in der sie sich befanden, kam hinzu, um ihre Seelen, wie auf Schwingen, durch alle Himmel des Wohlklangs zu führen; das Oratorium ward mit der höchsten und herrlichsten musikalischen Pracht ausgeführt; es regte sich, während der ganzen Darstellung, kein Odem in den Hallen und Bänken; besonders bei dem salve regina und noch mehr bei dem gloria in excelsis, war es, als ob die ganze Bevölkerung der Kirche tot sei: dergestalt, daß den vier gottverdammten Brüdern und ihrem Anhang zum Trotz, auch der Staub auf dem Estrich nicht verweht ward, und das Kloster noch bis an den Schluß des dreißigjährigen Krieges bestanden hat, wo man es, vermöge eines Artikels im westfälischen Frieden, gleichwohl säkularisierte.
Sechs Jahre darauf, da diese Begebenheit längst vergessen war, kam die Mutter dieser vier Jünglinge aus dem Haag an, und stellte, unter dem betrübten Vorgeben, daß dieselben gänzlich verschollen wären, bei dem Magistrat zu Aachen, wegen der Straße, die sie von hier aus genommen haben mochten, gerichtliche Untersuchungen an. Die letzten Nachrichten, die man von ihnen in den Niederlanden, wo sie eigentlich zu Hause gehörten, gehabt hatte, waren, wie sie meldete, ein vor dem angegebenen Zeitraum, am Vorabend eines Fronleichnamsfestes, geschriebener Brief des Prädikanten, an seinen Freund, einen Schullehrer in Antwerpen, worin er demselben, mit vieler Heiterkeit oder vielmehr Ausgelassenheit, von einer gegen das Kloster der heiligen Cäcilie entworfenen Unternehmung, über welche sich die Mutter jedoch nicht näher auslassen wollte, auf vier dichtgedrängten Seiten vorläufige Anzeige machte. Nach mancherlei vergeblichen Bemühungen, die Personen, welche diese bekümmerte Frau suchte, auszumitteln, erinnerte man sich endlich, daß sich schon seit einer Reihe von Jahren, welche ohngefähr auf die Angabe paßte, vier junge Leute, deren Vaterland und Herkunft unbekannt sei, in dem durch des Kaisers Vorsorge unlängst gestifteten Irrenhause der Stadt befanden. Da dieselben jedoch an der Ausschweifung einer religiösen Idee krank lagen, und ihre Aufführung, wie das Gericht dunkel gehört zu haben meinte, äußerst trübselig und melancholisch war; so paßte dies so wenig auf den, der Mutter nur leider zu bekannten Gemütsstand ihrer Söhne, als daß sie auf diese Anzeige, besonders da es fast herauskam, als ob die Leute katholisch wären, viel hätte geben sollen. Gleichwohl, durch mancherlei Kennzeichen, womit man sie beschrieb, seltsam getroffen, begab sie sich eines Tages, in Begleitung eines Gerichtsboten, in das Irrenhaus, und bat die Vorsteher um die Gefälligkeit, ihr zu den vier unglücklichen, sinnverwirrten Männern, die man daselbst aufbewahre, einen prüfenden Zutritt zu gestatten. Aber wer beschreibt das Entsetzen der armen Frau, als sie gleich auf den ersten Blick, so wie sie in die Tür trat, ihre Söhne erkannte: sie saßen, in langen, schwarzen Talaren, um einen Tisch, auf welchem ein Kruzifix stand, und schienen, mit gefalteten Händen schweigend auf die Platte gestützt, dasselbe anzubeten. Auf die Frage der Frau, die ihrer Kräfte beraubt, auf einen Stuhl niedergesunken war: was sie daselbst machten? antworteten ihr die Vorsteher: »daß sie bloß in der Verherrlichung des Heilands begriffen wären, von dem sie, nach ihrem Vorgeben, besser als andre, einzusehen glaubten, daß er der wahrhaftige Sohn des alleinigen Gottes sei.« Sie setzten hinzu: »daß die Jünglinge, seit nun schon sechs Jahren, dies geisterartige Leben führten; daß sie wenig schliefen und wenig genössen; daß kein Laut über ihre Lippen käme; daß sie sich bloß in der Stunde der Mitternacht einmal von ihren Sitzen erhöben; und daß sie alsdann, mit einer Stimme, welche die Fenster des Hauses bersten machte, das gloria in excelsis intonierten.« Die Vorsteher schlossen mit der Versicherung: daß die jungen Männer dabei körperlich vollkommen gesund wären; daß man ihnen sogar eine gewisse, obschon sehr ernste und feierliche, Heiterkeit nicht absprechen könnte; daß sie, wenn man sie für verrückt erklärte, mitleidig die Achseln zuckten, und daß sie schon mehr als einmal geäußert hätten: »wenn die gute Stadt Aachen wüßte, was sie, so würde dieselbe ihre Geschäfte bei Seite legen, und sich gleichfalls, zur Absingung des gloria, um das Kruzifix des Herrn niederlassen.«
Die Frau, die den schauderhaften Anblick dieser Unglücklichen nicht ertragen konnte und sich bald darauf, auf wankenden Knieen, wieder hatte zu Hause führen lassen, begab sich, um über die Veranlassung dieser ungeheuren Begebenheit Auskunft zu erhalten, am Morgen des folgenden Tages, zu Herrn Veit Gotthelf, berühmten Tuchhändler der Stadt; denn dieses Mannes erwähnte der von dem Prädikanten geschriebene Brief, und es ging daraus hervor, daß derselbe an dem Projekt, das Kloster der heiligen Cäcilie am Tage des Fronleichnamsfestes zu zerstören, eifrigen Anteil genommen habe. Veit Gotthelf, der Tuchhändler, der sich inzwischen verheiratet, mehrere Kinder gezeugt, und die beträchtliche Handlung seines Vaters übernommen hatte, empfing die Fremde sehr liebreich: und da er erfuhr, welch ein Anliegen sie zu ihm führe, so verriegelte er die Tür, und ließ sich, nachdem er sie auf einen Stuhl niedergenötigt hatte, folgendermaßen vernehmen: »Meine liebe Frau! Wenn Ihr mich, der mit Euren Söhnen vor sechs Jahren in genauer Verbindung gestanden, in keine Untersuchung deshalb verwickeln wollt, so will ich Euch offenherzig und ohne Rückhalt gestehen: ja, wir haben den Vorsatz gehabt, dessen der Brief erwähnt! Wodurch diese Tat, zu deren Ausführung alles, auf das Genaueste, mit wahrhaft gottlosem Scharfsinn, angeordnet war, gescheitert ist, ist mir unbegreiflich; der Himmel selbst scheint das Kloster der frommen Frauen in seinen heiligen Schutz genommen zu haben. Denn wißt, daß sich Eure Söhne bereits, zur Einleitung entscheidenderer Auftritte, mehrere mutwillige, den Gottesdienst störende Possen erlaubt hatten: mehr denn dreihundert, mit Beilen und Pechkränzen versehene Bösewichter, aus den Mauern unserer damals irregeleiteten Stadt, erwarteten nichts als das Zeichen, das der Prädikant geben sollte, um den Dom der Erde gleich zu machen. Dagegen, bei Anhebung der Musik, nehmen Eure Söhne plötzlich, in gleichzeitiger Bewegung, und auf eine uns auffallende Weise, die Hüte ab, sie legen, nach und nach, wie in tiefer unaussprechlicher Rührung, die Hände vor ihr herabgebeugtes Gesicht, und der Prädikant, indem er sich, nach einer erschütternden Pause, plötzlich umwendet, ruft uns allen mit lauter fürchterlicher Stimme zu: gleichfalls unsere Häupter zu entblößen! Vergebens fordern ihn einige Genossen flüsternd, indem sie ihn mit ihren Armen leichtfertig anstoßen, auf, das zur Bilderstürmerei verabredete Zeichen zu geben: der Prädikant, statt zu antworten, läßt sich, mit kreuzweis auf die Brust gelegten Händen, auf Knieen nieder und murmelt, samt den Brüdern, die Stirn inbrünstig in den Staub herab gedrückt, die ganze Reihe noch kurz vorher von ihm verspotteter Gebete ab. Durch diesen Anblick tief im Innersten verwirrt, steht der Haufen der jämmerlichen Schwärmer, seiner Anführer beraubt, in Unschlüssigkeit und Untätigkeit, bis an den Schluß des, vom Altan wunderbar herabrauschenden Oratoriums da; und da, auf Befehl des Kommandanten, in eben diesem Augenblick mehrere Arretierungen verfügt, und einige Frevler, die sich Unordnungen erlaubt hatten, von einer Wache aufgegriffen und abgeführt wurden, so bleibt der elenden Schar nichts übrig, als sich schleunigst, unter dem Schutz der gedrängt aufbrechenden Volksmenge, aus dem Gotteshause zu entfernen. Am Abend, da ich in dem Gasthofe vergebens mehrere Mal nach Euren Söhnen, welche nicht wiedergekehrt waren, gefragt hatte, gehe ich, in der entsetzlichsten Unruhe, mit einigen Freunden wieder nach dem Kloster hinaus, um mich bei den Türstehern, welche der kaiserlichen Wache hilfreich an die Hand gegangen waren, nach ihnen zu erkundigen. Aber wie schildere ich Euch mein Entsetzen, edle Frau, da ich diese vier Männer nach wie vor, mit gefalteten Händen, den Boden mit Brust und Scheiteln küssend, als ob sie zu Stein erstarrt wären, heißer Inbrunst voll vor dem Altar der Kirche daniedergestreckt liegen sehe! Umsonst forderte sie der Klostervogt, der in eben diesem Augenblick herbeikommt, indem er sie am Mantel zupft und an den Armen rüttelt, auf, den Dom, in welchem es schon ganz finster werde, und kein Mensch mehr gegenwärtig sei, zu verlassen: sie hören, auf träumerische Weise halb aufstehend, nicht eher auf ihn, als bis er sie durch seine Knechte unter den Arm nehmen, und vor das Portal hinaus führen läßt: wo sie uns endlich, obschon unter Seufzern und häufigem herzzerreißenden Umsehen nach der Kathedrale, die hinter uns im Glanz der Sonne prächtig funkelte, nach der Stadt folgen. Die Freunde und ich, wir fragen sie, zu wiederholten Malen, zärtlich und liebreich auf dem Rückwege, was ihnen in aller Welt Schreckliches, fähig, ihr innerstes Gemüt dergestalt umzukehren, zugestoßen sei; sie drücken uns, indem sie uns freundlich ansehen, die Hände, schauen gedankenvoll auf den Boden nieder und wischen sich – ach! von Zeit zu Zeit, mit einem Ausdruck, der mir noch jetzt das Herz spaltet, die Tränen aus den Augen. Drauf, in ihre Wohnungen angekommen, binden sie sich ein Kreuz, sinnreich und zierlich von Birkenreisern zusammen, und setzen es, einem kleinen Hügel von Wachs eingedrückt, zwischen zwei Lichtern, womit die Magd erscheint, auf dem großen Tisch in des Zimmers Mitte nieder, und während die Freunde, deren Schar sich von Stunde zu Stunde vergrößert, händeringend zur Seite stehen, und in zerstreuten Gruppen, sprachlos vor Jammer, ihrem stillen, gespensterartigen Treiben zusehen: lassen sie sich, gleich als ob ihre Sinne vor jeder andern Erscheinung verschlossen wären, um den Tisch nieder, und schicken sich still, mit gefalteten Händen, zur Anbetung an. Weder des Essens begehren sie, das ihnen, zur Bewirtung der Genossen, ihrem am Morgen gegebenen Befehl gemäß, die Magd bringt, noch späterhin, da die Nacht sinkt, des Lagers, das sie ihnen, weil sie müde scheinen, im Nebengemach aufgestapelt hat; die Freunde, um die Entrüstung des Wirts, den diese Aufführung befremdet, nicht zu reizen, müssen sich an einen, zur Seite üppig gedeckten Tisch niederlassen, und die, für eine zahlreiche Gesellschaft zubereiteten Speisen, mit dem Salz ihrer bitterlichen Tränen gebeizt, einnehmen. Jetzt plötzlich schlägt die Stunde der Mitternacht; Eure vier Söhne, nachdem sie einen Augenblick gegen den dumpfen Klang der Glocke aufgehorcht, heben sich plötzlich in gleichzeitiger Bewegung, von ihren Sitzen empor; und während wir, mit niedergelegten Tischtüchern, zu ihnen hinüberschauen, ängstlicher Erwartung voll, was auf so seltsames und befremdendes Beginnen erfolgen werde: fangen sie, mit einer entsetzlichen und gräßlichen Stimme, das gloria in excelsis zu intonieren an. So mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen Winterzeit, das Firmament anbrüllen: die Pfeiler des Hauses, versichere ich Euch, erschütterten, und die Fenster, von ihrer Lungen sichtbarem Atem getroffen, drohten klirrend, als ob man Hände voll schweren Sandes gegen ihre Flächen würfe, zusammen zu brechen. Bei diesem grausenhaften Auftritt stürzen wir besinnungslos, mit sträubenden Haaren auseinander; wir zerstreuen uns, Mäntel und Hüte zurücklassend, durch die umliegenden Straßen, welche in kurzer Zeit, statt unsrer, von mehr denn hundert, aus dem Schlaf geschreckter Menschen, angefüllt waren; das Volk drängt sich, die Haustüre sprengend, über die Stiege dem Saale zu, um die Quelle dieses schauderhaften und empörenden Gebrülls, das, wie von den Lippen ewig verdammter Sünder, aus dem tiefsten Grund der flammenvollen Hölle, jammervoll um Erbarmung zu Gottes Ohren heraufdrang, aufzusuchen. Endlich, mit dem Schlage der Glocke Eins, ohne auf das Zürnen des Wirts, noch auf die erschütterten Ausrufungen des sie umringenden Volks gehört zu haben, schließen sie den Mund; sie wischen sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, der ihnen, in großen Tropfen, auf Kinn und Brust niederträuft; und breiten ihre Mäntel aus, und legen sich, um eine Stunde von so qualvollen Geschäften auszuruhen, auf das Getäfel des Bodens nieder. Der Wirt, der sie gewähren läßt, schlägt, sobald er sie schlummern sieht, ein Kreuz über sie; und froh, des Elends für den Augenblick erledigt zu sein, bewegt er, unter der Versicherung, der Morgen werde eine heilsame Veränderung herbeiführen, den Männerhaufen, der gegenwärtig ist, und der geheimnisvoll mit einander murmelt, das Zimmer zu verlassen. Aber leider! schon mit dem ersten Schrei des Hahns, stehen die Unglücklichen wieder auf, um dem auf dem Tisch befindlichen Kreuz gegenüber, dasselbe öde, gespensterartige Klosterleben, das nur Erschöpfung sie auf einen Augenblick auszusetzen zwang, wieder anzufangen. Sie nehmen von dem Wirt, dessen Herz ihr jammervoller Anblick schmelzt, keine Ermahnung, keine Hülfe an; sie bitten ihn, die Freunde liebreich abzuweisen, die sich sonst regelmäßig am Morgen jedes Tages bei ihnen zu versammeln pflegten; sie begehren nichts von ihm, als Wasser und Brot, und eine Streu, wenn es sein kann, für die Nacht: dergestalt, daß dieser Mann, der sonst viel Geld von ihrer Heiterkeit zog, sich genötigt sah, den ganzen Vorfall den Gerichten anzuzeigen und sie zu bitten, ihm diese vier Menschen, in welchen ohne Zweifel der böse Geist walten müsse, aus dem Hause zu schaffen. Worauf sie, auf Befehl des Magistrats, in ärztliche Untersuchung genommen, und, da man sie verrückt befand, wie Ihr wißt, in die Gemächer des Irrenhauses untergebracht wurden, das die Milde des letzt verstorbenen Kaisers, zum Besten der Unglücklichen dieser Art, innerhalb der Mauern unserer Stadt gegründet hat.« Dies und noch Mehreres sagte Veit Gotthelf, der Tuchhändler, das wir hier, weil wir zur Einsicht in den inneren Zusammenhang der Sache genug gesagt zu haben meinen, unterdrücken; und forderte die Frau nochmals auf, ihn auf keine Weise, falls es zu gerichtlichen Nachforschungen über diese Begebenheit kommen sollte, darin zu verstricken.
Drei Tage darauf, da die Frau, durch diesen Bericht tief im Innersten erschüttert, am Arm einer Freundin nach dem Kloster hinausgegangen war, in der wehmütigen Absicht, auf einem Spaziergang, weil eben das Wetter schön war, den entsetzlichen Schauplatz in Augenschein zu nehmen, auf welchem Gott ihre Söhne wie durch unsichtbare Blitze zu Grunde gerichtet hatte: fanden die Weiber den Dom, weil eben gebaut wurde, am Eingang durch Planken versperrt, und konnten, wenn sie sich mühsam erhoben, durch die Öffnungen der Bretter hindurch von dem Inneren nichts, als die prächtig funkelnde Rose im Hintergrund der Kirche wahrnehmen. Viele hundert Arbeiter, welche fröhliche Lieder sangen, waren auf schlanken, vielfach verschlungenen Gerüsten beschäftigt, die Türme noch um ein gutes Dritteil zu erhöhen, und die Dächer und Zinnen derselben, welche bis jetzt nur mit Schiefer bedeckt gewesen waren, mit starkem, hellen, im Strahl der Sonne glänzigen Kupfer zu belegen. Dabei stand ein Gewitter, dunkelschwarz, mit vergoldeten Rändern, im Hintergrunde des Baus; dasselbe hatte schon über die Gegend von Aachen ausgedonnert, und nachdem es noch einige kraftlose Blitze, gegen die Richtung, wo der Dom stand, geschleudert hatte, sank es, zu Dünsten aufgelöst, mißvergnügt murmelnd in Osten herab. Es traf sich, daß da die Frauen von der Treppe des weitläufigen klösterlichen Wohngebäudes herab, in mancherlei Gedanken vertieft, dies doppelte Schauspiel betrachteten, eine Klosterschwester, welche vorüberging, zufällig erfuhr, wer die unter dem Portal stehende Frau sei; dergestalt, daß die Äbtissin, die von einem, den Fronleichnamstag betreffenden Brief, den dieselbe bei sich trug, gehört hatte, unmittelbar darauf die Schwester zu ihr herabschickte, und die niederländische Frau ersuchen ließ, zu ihr herauf zu kommen. Die Niederländerin, obschon einen Augenblick dadurch betroffen, schickte sich nichts desto weniger ehrfurchtsvoll an, dem Befehl, den man ihr angekündigt hatte, zu gehorchen; und während die Freundin, auf die Einladung der Nonne, in ein dicht an dem Eingang befindliches Nebenzimmer abtrat, öffnete man der Fremden, welche die Treppe hinaufsteigen mußte, die Flügeltüren des schön gebildeten Söllers selbst. Daselbst fand sie die Äbtissin, welches eine edle Frau, von stillem königlichen Ansehn war, auf einem Sessel sitzen, den Fuß auf einem Schemel gestützt, der auf Drachenklauen ruhte; ihr zur Seite, auf einem Pulte, lag die Partitur einer Musik. Die Äbtissin, nachdem sie befohlen hatte, der Fremden einen Stuhl hinzusetzen, entdeckte ihr, daß sie bereits durch den Bürgermeister von ihrer Ankunft in der Stadt gehört; und nachdem sie sich, auf menschenfreundliche Weise, nach dem Befinden ihrer unglücklichen Söhne erkundigt, auch sie ermuntert hatte, sich über das Schicksal, das dieselben betroffen, weil es einmal nicht zu ändern sei, möglichst zu fassen: eröffnete sie ihr den Wunsch, den Brief zu sehen, den der Prädikant an seinen Freund, den Schullehrer in Antwerpen geschrieben hatte. Die Frau, welche Erfahrung genug besaß, einzusehen, von welchen Folgen dieser Schritt sein konnte, fühlte sich dadurch auf einen Augenblick in Verlegenheit gestürzt; da jedoch das ehrwürdige Antlitz der Dame unbedingtes Vertrauen erforderte, und auf keine Weise schicklich war, zu glauben, daß ihre Absicht sein könne, von dem Inhalt desselben einen öffentlichen Gebrauch zu machen; so nahm sie, nach einer kurzen Besinnung, den Brief aus ihrem Busen, und reichte ihn, unter einem heißen Kuß auf ihre Hand, der fürstlichen Dame dar. Die Frau, während die Äbtissin den Brief überlas, warf nunmehr einen Blick auf die nachlässig über dem Pult aufgeschlagene Partitur; und da sie, durch den Bericht des Tuchhändlers, auf den Gedanken gekommen war, es könne wohl die Gewalt der Töne gewesen sein, die, an jenem schauerlichen Tage, das Gemüt ihrer armen Söhne zerstört und verwirrt habe: so fragte sie die Klosterschwester, die hinter ihrem Stuhle stand, indem sie sich zu ihr umkehrte, schüchtern: »ob dies das Musikwerk wäre, das vor sechs Jahren, am Morgen jenes merkwürdigen Fronleichnamsfestes, in der Kathedrale aufgeführt worden sei?« Auf die Antwort der jungen Klosterschwester: ja! sie erinnere sich davon gehört zu haben, und es pflege seitdem, wenn man es nicht brauche, im Zimmer der hochwürdigsten Frau zu liegen: stand, lebhaft erschüttert, die Frau auf, und stellte sich, von mancherlei Gedanken durchkreuzt, vor den Pult. Sie betrachtete die unbekannten zauberischen Zeichen, womit sich ein fürchterlicher Geist geheimnisvoll den Kreis abzustecken schien, und meinte, in die Erde zu sinken, da sie grade das gloria in excelsis aufgeschlagen fand. Es war ihr, als ob das ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte rauschend daherzöge; sie glaubte, bei dem bloßen Anblick ihre Sinne zu verlieren, und nachdem sie schnell, mit einer unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht, das Blatt an ihre Lippen gedrückt hatte, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl zurück. Inzwischen hatte die Äbtissin den Brief ausgelesen und sagte, indem sie ihn zusammen faltete: »Gott selbst hat das Kloster, an jenem wunderbaren Tage, gegen den Übermut Eurer schwer verirrten Söhne beschirmt. Welcher Mittel er sich dabei bedient, kann Euch, die Ihr eine Protestantin seid, gleichgültig sein: Ihr würdet auch das, was ich Euch darüber sagen könnte, schwerlich begreifen. Denn vernehmt, daß schlechterdings niemand weiß, wer eigentlich das Werk, das Ihr dort aufgeschlagen findet, im Drang der schreckenvollen Stunde, da die Bilderstürmerei über uns hereinbrechen sollte, ruhig auf dem Sitz der Orgel dirigiert habe. Durch ein Zeugnis, das am Morgen des folgenden Tages, in Gegenwart des Klostervogts und mehrerer anderen Männer aufgenommen und im Archiv niedergelgt ward, ist erwiesen, daß Schwester Antonia, die das Werk dirigieren konnte, während des ganzen Zeitraums seiner Aufführung, krank, bewußtlos, ihrer Glieder schlechthin unmächtig, im Winkel ihrer Klosterzelle darniedergelegen habe; eine Klosterschwester, die ihr als leibliche Verwandte zur Pflege ihres Körpers beigeordnet war, ist während des ganzen Vormittags, da das Fronleichnamsfest in der Kathedrale gefeiert worden, nicht von ihrem Bette gewichen. Ja, Schwester Antonia würde ohnfehlbar selbst den Umstand, daß sie es nicht gewesen sei, die, auf so seltsame und befremdende Weise, auf dem Altan der Orgel erschien, bestätigt und bewahrheitet haben: wenn ihr gänzlich sinnberaubter Zustand erlaubt hätte, sie darum zu befragen, und die Kranke nicht noch am Abend desselben Tages, an dem Nervenfieber, an dem sie danieder lag, und welches früherhin gar nicht lebensgefährlich schien, verschieden wäre. Auch hat der Erzbischof von Trier, an den dieser Vorfall berichtet ward, bereits das Wort ausgesprochen, das ihn allein erklärt, nämlich, ›daß die heilige Cäcilie selbst dieses zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche Wunder vollbracht habe‹; und von dem Papst habe ich soeben ein Breve erhalten, wodurch er dies bestätigt.« Und damit gab sie der Frau den Brief, den sie sich bloß von ihr erbeten hatte, um über das, was sie schon wußte, nähere Auskunft zu erhalten, unter dem Versprechen, daß sie davon keinen Gebrauch machen würde, zurück; und nachdem sie dieselbe noch gefragt hatte, ob zur Wiederherstellung ihrer Söhne Hoffnung sei, und ob sie ihr vielleicht mit irgend etwas, Geld oder eine andere Unterstützung, zu diesem Zweck dienen könne, welches die Frau, indem sie ihr den Rock küßte, weinend verneinte: grüßte sie dieselbe freundlich mit der Hand und entließ sie.
Hier endigt diese Legende. Die Frau, deren Anwesenheit in Aachen gänzlich nutzlos war, ging mit Zurücklassung eines kleinen Kapitals, das sie zum Besten ihrer armen Söhne bei den Gerichten niederlegte, nach dem Haag zurück, wo sie ein Jahr darauf, durch diesen Vorfall tief bewegt, in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrte: die Söhne aber starben, im späten Alter, eines heitern und vergnügten Todes, nachdem sie noch einmal, ihrer Gewohnheit gemäß, das gloria in excelsis abgesungen hatten.


Jimi Hendrix



Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik ist eine Erzählung von Heinrich von Kleist. Sie wurde zuerst in den Berliner Abendblättern vom 15. bis 17. November 1810 veröffentlicht, und zwar mit der Widmung „Zum Taufangebinde für Cäcilie M.“. Gemeint ist die Cäcilie Müller, die älteste Tochter von Adam Müller. (Wiki)


Dienstag, 21. April 2015

Erotic Crisis am Maxim Gorki Theater und meine Krise auch


Man war das ein Quatsch. 
Zwei jeweils rechtwinklige Plastewände, fahrbar, zwei Betten, ebenfalls fahrbar, fünf Schauspieler, ach wären sie nur fahrbar gewesen.

Ich zitiere die Muppetshow - Waldorf, Schauspieler & Statler:


Statler: Weißt Du, was Du falsch machst?

Schauspieler: Was mache ich falsch?
Statler: Du stehst zu nah am Publikum.
Schauspieler: O, ja? Wie ist es so?
Statler: Du bist immer noch zu nah.
Schauspieler:  Oh, tut mit leid. Ist es so ok?
Statler: Noch ein bisschen mehr.
Schauspieler: Wie weit zurück willst du, dass ich gehe?
Statler: Hast Du ein Auto?

(In anderem Zusammenhang sind die fünf ganz sicher wunderbare Schauspieler.)

Ein Abend zum gemeinsam kichernden Nicken. Wir sind uns ja soooo einig. Und lustig ist es auch, aber auch riskant! Allerdings ohne Geheimnis, ohne Magie, ohne Zorn. Ficken wird gesagt, Kichern erfolgt, Ein Hoden hängt aus der Hose, Kichern erfolgt. Mann kränkt Frau, die Situation könnte erschreckend werden, nein, besser nicht, lieber eine simple Pointe und Kichern erfolgt. 
Ausziehen, anziehen, küssen, texten, grabschen, monologisieren - alles eins, alles nix. Dazu über den Abend hinweg der Wettbewerb um das häßlichste Kostüm. Spießiges Yuppie Zeugs. So "authentisch", wie es verlogen ist. Nicht jung, nicht sexy, nicht böse, nicht schön. Wozu dann? 
Aber die Zuschauer waren amüsiert, dass gebe ich zu. Wegen des Kabarettcharakters? Weil Sexwitze immer funktionieren? Weil wir alle viel verklemmter sind, als wir zugeben?

Sorry, wenn ich wüte, aber ich bin Mitte 50 und muß mit meiner Lebenszeit sorgsam sein.


Weil es so ein niedlicher Abend war, oder weil ich mich so wie der untere Hase gefühlt habe,
bedrückt und erschöpft.

Tagesspiegelkritik mit ganz anderem Eindruck: http://www.tagesspiegel.de/kultur/maxim-gorki-theater-startet-mit-fallen-und-erotic-crises-doppelpremiere-zwischen-bett-und-sandkasten/10699810.html

"Haben eigentlich alle aufregenden Sex, nur ich nicht? Leidenschaft ist ein Wettbewerb. Je provokativer die Bilder, desto größer der Umsatz. Pornogucken auf dem Smartphone ist okay, den Nachbarn beim Liebesakt zugucken ist nicht okay. Warum ist meine Sexualität an Schuldgefühle gebunden? Ich kann tolerant für alle anderen Liebeskonzepte sein, offen für die neue Welt. Ich kann mir viel vorstellen. Ich kann den Wettbewerb bestehen. Ich kann Kinder und trotzdem noch Sex haben. Ich kann nach all den Jahren meinen Partner noch anziehend finden. Warum nur tue ich es nicht? Gorki-Hausregisseurin Yael Ronen erforscht mit dem Ensemble Liebe, Beziehungen, Sex und deren Grenzen hier und heute in Berlin."
Stückankündigung auf der Website des Maxim-Gorki-Theaters

Witz:

Was ist der Unterschied zwischen erotisch und pervers?
Erotisch ist, wenn man eine Frau mit einer Feder kitzelt, bis sie kommt.
Pervers ist, wenn das Huhn noch dranhängt!
 

Sonntag, 19. April 2015

Grunewald - Frühsommer in Berlin 2



Im Zuge meines, durch eine Freundin sanft-nachdrücklich verstärkten, Vorhabens,
wenigstens einmal wöchentlich an die "frische Luft" zu gehen und darin herumzulaufen, 
waren wir heute im Grunewald. So lerne ich einig emir bisher unbekannte Gegenden Berlins 
doch noch kennen. Das Publikum war reicher als in Rehberge, die Hunde schicker und unglaublich zahlreich. Man konnte an mehreren Ständen Bio-Hundekekse erwerben.

Eine Dame in rosa T-Shirt mit "Yeah Friday"-Aufdruck, rosa Hose und rosa Schuhen,
etwa Mitte 60, sehr bauchlastig, der Mann dazu ebenfalls sehr jugendlich-sportlich gekleidet, 
aber mit dem kahlen Kopf und Schnurrbart eines Pickelhaubenträgers,
ihr Hund, ein verängstigter Terrier, hieß Alberto. 

Im Jagdschloß eine Ausstellung mit vielen Renaissanceporträts, einige davon geradzu 
überraschend schlecht gemalt, wobei es sicher auch nicht einfach gewesen sein kann,
die meist außerordentlich häßlichen Mitglieder der Famile derer zu Brandenburg
mit Farbe auf Leinwand zu bringen. Die meisten flabberig fett, mit bösen kleinen 
dicklichen Mündern und dummen, weit auseinanderstehenden Augen. Die Männer
oft auch noch eingeklemmt in zu enge Rüstungen. Da haben wohl ein paar Cousinen
zuviel ihre Cousins geheiratet. Und auch bei einigen, der zahlreichen Cranachs, 
besonders des Älteren, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie in großer 
Eile, unter dem Einfluß von Alkohol oder schlechtgelaunt gemalt worden sein müssen.
Zitat Freundin: "Zweitklassige Kunst ist viel unterhaltsamer."
Das Brücke-Museum kommt ein andermal dran.

In den Grunewald, 
seit fünf Uhr früh, 
spie Berlin seine Extrazüge.
Ueber die Brücke von Halensee, 
über Spandau, Schmargendorf, über den Pichelsberg, 
von allen Seiten,
zwischen trommelnden Turnerzügen, zwischen Kremsern mit Musik,
entlang die schimmernde Havel,
kilometerten sich die Chausseeflöhe.
»Pankow, Pankow, Pankow, Kille, Kille« »Rixdorfer« »Schunkelwalzer« »Holzauktion«
Jetzt ist es Nacht.
Noch immer 
aus der Hundequäle 
quietscht und empört sich der Leierkasten. 
Hinter den Bahndamm, zwischen die dunklen Kuscheln, 
verschwindet 
eine brennende Cigarre, ein Pfingstkleid. 
Luna: lächelt. 
Zwischen weggeworfnem
Stullenpapier und Eierschalen 
suchen sie die blaue Blume
Arno Holz: Phantasus. Stuttgart 1978



Das Jagdschloss Grunewald 


Johann Friedrich Nagel
1788
Eigentlich wie heute, nur jetzt mit viel, sehr viel mehr Hunden


Heinrich Bollandt 
Erdmann August, Kronprinz zu Brandenburg-Bayreuth im Alter von drei Jahren
Erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
Früher Punk

 Lucas Cranach der Ältere
Judith mit dem Kopf des Holofernes
1530
Selbst der Tote guckt noch provozierend auf den Betrachter


Meister der Aachener Schranktüren  
Geißelung Christi 
  um 1480
Vier Volkstänzer geißeln Jesus,
man beachte bei der Figur vorne rechts 
die ungewöhnliche Anbringung des linken Knies!


 Herrlich grässlich!
Im Hof des Jagdsclosses Grunewald
Johannes Brixe
Wildsau wird von drei Jagdhunden gerissen.
In der Jagdausstellung steht auf der Liste der von einem der preussischen Könige
erlegten Tieren übrigens auch ein Wal!






Welcher Künstler hat die Wildschweinplastik im Hof erschaffen?
Im Innenhof befindet sich eine aus Metall (aus Gußeisen, laut Fontane 1894 und Berdrow 1902) hergestellte Wildschweinjagdplastik aus dem Jahre 1862, welche sich ursprünglich vor dem Schlosseingang befand, später dann aber vor den Jagdzeugschuppen verlegt wurde, wo sie auch heute noch steht. Auf dem Sockel steht der Name (des Künstlers?): “Johannes Brix – Berlin”. Leider konnte ich über diesen Künstler bisher nichts in Erfahrung bringen. Dafür, dass es sich um eine sehr “lebensechte” Plastik handelt, ist es sehr verwunderlich, dass von ihm nicht weitere Werke bekannt oder benannt sind.
Börsch-Suphan schrieb 1981/97, Seite 9: “An die Jagdromantik des 19. Jahrhunderts erinnert noch heute die in Zink gegossene Wildschweingruppe von Wilhelm Wolf, die 1862 im Hof aufgestellt wurde.”
Die naheliegende Frage ist nunmehr, weshalb der Name “Johannes Brix” auf dem Sockel der Plastik geschrieben steht und nich jener von Friedrich Wilhelm Wolf?
Anlässlich einer Schlossführung am 27.01.2013 wurde mir dazu die Auskunft gegeben, dass Wilhelm Wolf der Künstler, aber Johannes Brix der Gießer der Plastik ist. Zur damaligen Zeit stellte ich die Fertigkeit des Gießens für sich selbst schon eine herausragende Leistung dar.
 
Forst Grunewald website "Der GruneWald im Spiegel der Zeit"


Freitag, 17. April 2015

Topor - Todlustig

 
«Humor ist für mich die Geschichte von dem zum Tode Verurteilten, 
der die letzte Zigarette mit den Worten ablehnt: 
Nein danke, ich will doch aufhören!

ROLAND TOPOR

Illustration zu Le Locataire chimérique - Der trügerische Mieter

Trailer zu Polanskis "Der Mieter" nach Topors Roman "Le Locataire chimérique" von 1964
https://www.youtube.com/watch?v=ZmhIMbdecEU

Ius primae noctis

Dieses Jahr findet die Wahl der Miss World in Mexiko statt.
Bewerberinnen aus 32 Nationen landen am Flughafen und drängen sich in dem Bus, der sie zum "Palace Excelsior" bringen soll, dem Ort der Veranstaltung. Unglücklicherweise kommt der Bus unterwegs von der kurvigen Bergstraße ab und stürzt in eine Schlucht. Zwölf Konkurrentinnen sind solort tot, fünfzehn mehr oder weniger schwer verletzt.
Allgemeine Ratlosigkeit.
Soll man ein so bedeutendes Ereignis absagen, wo doch Fernsehsender aus aller Welt vor Ort schon ihre Kameras aufgebaut haben?
Die Veranstalter beschließen, so zu tun, als ob nichts wäre, und beschränken sich darauf, die Modalitäten der Zeremonie zu verändern: Das Defilé soll horizontal erfolgen, die Bewerberinnen, ob tot oder lebendig, werden – sorgfältig geschminkt und eine Banderole mit dem Namen ihres Herkunftslandes schräg über den entzückenden Badeanzug drapiert – von Herren im Abendanzug auf einer Liege getragen.
Und alles geht sehr gut, von den Gewissensproblemen der Jurymitglieder einmal abgesehen: Gibt es einen Punktabzug für ein fehlendes Bein? Kann man auf ein Gesicht verzichten? Müssen es unbedingt zwei Brüste sein?
Um nicht die einen auf Kosten der anderen zu bevorzugen, wurden die Lebenden vorsichtshalber betäubt und so den Toten gleichgestellt, außerdem konnte man auf diese Weise den zweifellos unerfreulichen Eindruck vermeiden, den Röcheln und Stöhnen hervorgerufen hätten.
Die Entscheidung ist allerdings durch den Umstand erschwert, dass die liegende Stellung, in der die prächtigen Anatomien der Jury präsentiert werden, die Begutachtung nicht gerade begünstigt. Auf Bitten der Herren wird also manchmal ein Kopf gedreht, ein Bein angehoben oder eine Wunde geschlossen. Zudem erscheint es unumgänglich, die Körper umzudrehen, um nach der Vorder- auch die Rückseite in Augenschein zu nehmen.
Schließlich wird die Leiche einer 19-jährigen Blondine mit den Maßen 90-90-0, früher Wirtschaftsstudentin an der Universität von Princeton mit den Hobbys Yoga und Reiten, zur Miss Tod gekrönt.
Ein atemberaubendes Finale voller Spannung und unerwarteter Wendungen.
Einziger Makel: Böse Zungen behaupten, der Juryvorsitzende habe vor der Ausscheidung ihre Gunst genossen.


R. Topor im Glarean Magazin


Alle Bilder © Roland Topor

Topor als Renfield mit Klaus Kinski in Werner Herzogs Nosferatu 1979
https://trueoutsider.wordpress.com/2012/01/14/roland-topor-1938-1997/
 

Der Schlussstein, der alles zusammenhält.


Im Gewölbebau spielt der Schlussstein eine entscheidende Rolle: erst wenn er eingesetzt ist, wird die Konstruktion selbsttragend, und das Lehrgerüst kann entfernt werden. Wiki

HEINRICH VON KLEIST

An Wilhelmine von Zenge 
Berlin, 16. November 1800

Ich gieng an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spatzieren. Als die Sonne herabsank war es mir als ob mein Glück untergienge. Mich schauerte wenn ich dachte, daß ich vielleicht von Allem scheiden müßte, von Allem, was mir theuer ist. Da gieng ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen u. ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt

 Capua, Arkade der Fassade des Amphitheaters; der Schlussstein zeigt eine Büste der Diana.

Prothoe in Penthesilea:
Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht,
Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!
Beut deine Scheitel, einem Schlußstein gleich,
Der Götter Blitzen dar, und rufe, trefft!
Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,
Nicht aber wanke in dir selber mehr,
So lang ein Athem Mörtel und Gestein,
In dieser jungen Brust, zusammenhält.

Wiki schreibt: Der mittlere Stein im Bogen wird Schlussstein genannt und ist häufig dekorativ herausgearbeitet. Von der Statik her unterscheidet er sich nicht von den anderen Steinen. Die Basis des Bogens heißt Kämpfer. Sie muss sorgfältig gearbeitet sein, damit die Druckkräfte an die Umgebung weitergeleitet werden können. Sie definiert die Kämpferlinie. Oberhalb der Kämpferlinie beginnt der eigentliche Bogen. Die ersten Steine, die auf dem Kämpfer aufliegen, bezeichnet man als Anfänger. 

 Brücke von 1899

In einem Schlussstein

Sohn einer Zeit, die unsre Zeit nicht kennt,
Entfaltest Du dies graue Pergament,
Ist von der Hand, die diesen Spruch geschrieben,
Vielleicht noch kaum ein flücht‘ger Staub geblieben.
Das Haupt, das nach Unsterblichkeit getrachtet,
Ging namenlos dahin und unbeachtet.
Das Schicksal dessen, der Dir dieses weiht,
Ermahne Dich an eigne Sterblichkeit.
Genieß das Leben, wie der Schreiber dieses,
So nur erlangst Du Glück des Paradieses.
Sei mit den Guten gut, mit Frohen froh,
Bis Dir der Hauch des Erdenlebens floh.
Wenn Dich mein wohlgemeinter Spruch nicht wundert,
Sind Brüder wir, aus zweierlei Jahrhundert:
Wo meine Hand lag, fass des Blattes Rände —
So reichen wir uns brüderlich die Hände!

Adolf Böttger

* 21. Mai 1815 in Leipzig; † 16. November 1870 in Gohlis
Aus der Sammlung Vermischte Gedichte




 

Donnerstag, 16. April 2015

Die Welt verändert sich - Fernsehserien


Verrückt, ich bin alt, alt genug, um über historische Veränderungen nicht nur kühl-interessiert in Büchern zu lesen, sondern sie ganz direkt & körperlich zu durchleben. Die Umbrüche der menschlichen Geschichte verändern direkt mein Leben, meine Möglichkeit zu leben, mich. 
Der Zusammenbruch der sozialistischen Ideologiesysteme, die Digitalisierung unserer Kommunikation, wechselnde und sich doch nahezu wiederholende Moden & Musikstile, wissenschaftliche Fortschritte der bewundernswertesten und die der beängstigenden Art, die Neuformung unserer Alltagssprache, die blitzschnelle Umlenkung des Kalten Krieges von Ost gegen West zu Christlich-Jüdisch gegen Islam, gigantische Veränderungen innerhalb eines, weltgeschichtlich gesehen, doch ziemlich kurzen Lebens. 
Als ich 2007 für einige Zeit nach Kanada auswanderte, nahm ich all meine Musik auf einer Festplatte mit, noch zwanzig Jahren früher hätte ich dafür einen Großcontainer mit Schallplatten transportieren müssen und heute, acht Jahre später ist das Speichermedium um ein Vielfaches geschrumpft und die Möglichkeit des Speicherns in der Cloud lasse ich dabei schon beiseite.
War in meiner Jugend noch der Besitz eines eigenen Telephons ein Privileg, das ich mir noch 1979 mit einem grandios gespielten Weinkrampf in der anschlußvergebenden Amtsstelle der Deutschen Post (DDR) ergaunerte, bin ich heute beunruhigt, wenn ich mein tragbares Gerät für einen kurzen Erledigungsgang nicht bei mir habe. Gut, weil ich weiß, dass Hilferufe immer möglich sind, irritierend weil mir Unwichtiges immer schwerer von Wichtigem zu unterscheiden wird.
Heute habe ich einen Brief geschrieben, mit einem Kugelschreiber auf Briefpapier, und noch vor kurzem war mein Mailordner täglich prall gefüllt, heute errreichen mich Nachrichten meist über SMS, Chat, Skype, Face Time oder Facebook. Twitter mag ich nicht und Instagram ist mir zu bildreich.
Ja, und die Fernsehserien. Johanna, das Kind, guckte vielleicht zweimal die Woche in den Apparat mit dem flimmernden gläsernen Fenster. Meine Mutter nutzte das Fernsehguckendürfen noch als aktive Erziehungsmaßnahme. Vor wenigen Jahren noch fieberte ich guten Folgen meiner Lieblingsserien entgegen und erlitt geduldig oder genervt die peinigenden & unvermeidbaren Werbepausen, jetzt streame ich, was mich interessiert, genau das, was ich gerade sehen will, genau dann, wann ich es will. Sofortige Erfüllung meines Begehrens oder ein zunehmender Mangel an Konzentration & Interesse? Ich weiß es nicht. Ich liebe Veränderungen und mißtraue dem allgemeinen Kulturpessimismus. "Früher" war nix besser, es war nur anders. 
Aber wenn meine Mutter ergebnislos mit dem Finger auf ihren PC-Bildschirm tippt, weil sie mich bei der Bedienung meines iPhones beobachtet hat und meine zehnjährige Nichte selbstverständlich und viel schneller als ich, mein iPhone bedient, wird mir klar, wie hart es ist, nicht aus der Zeit zu fallen.
Kurz nach dem Ende der DDR, Geldautomaten waren noch neu, stand ich ungeduldig in einer Warteschlange, eine ältere Frau steckte ihre Karte in den richtigen Schlitz und beantwortete die auf dem Bildschirm erscheinende Frage nach ihrer Geheimnummer mit einem geflüsterten "3 7 9 1". Irgendwo in der Maschine sitzt doch ein Mensch, oder?
Gleichzeitig empört mich, die arrogant-dümmliche Annahme jugendlicher Personen, dass ich nicht in der Lage bin, ihre Jugendlichkeit, ihre Akutheit nachzuvollziehen.
Vielleicht bedeutet Älterwerden nur, dass man wenn man Acht gibt, besser auswählt.
 
Serien, die ich mag:
The Americans
Masters of Sex
Queer as Folks
Game of Thrones
Weeds
....
und die, die mir noch bevorstehen:
Lost
Breaking Bad
The Wire
....


http://www.stern.de/wissen/mensch/genetik-menschliche-evolution-nimmt-fahrt-auf-604988.html
nnn

Mittwoch, 15. April 2015

Theater hat auch Brillenträger


Ich war eins dieser süüüßen Kinder mit Schielkorrekturbrille, eine Seite zugeklebt, damals noch ohne lustiges Bildchen auf dem Pflaster. Mit fünf galt ich als geheilt und wurde das monströse Gerät los, wenn ich auch bis heute noch, wenn ich müde bin, ein wenig schiele. Die zweite Klasse und meine Zensuren fielen ins Bodenlose, es stellte sich heraus, dass meine Augen nunmehr entschieden hatten, kurzsichtig zu werden und ich keine blasse Ahnung hatte, was wirklich an der Tafel stand. Also wieder eine Brille, die ich gehaßt und deshalb regelmäßig verloren habe, bis meine Mutter mir ein besonders häßliches Sozialversicherungsmodell überhalf und mich so brutal aber durchschlagend dazu brachte, das verflixte Ding künftighin nicht überall liegen zu lassen. Bis dahin war das Fundbüro in der Torstrasse sozusagen mein zweites Wohnzimmer.

Die Brillengestelle wechselten und ich wurde geschlechtsreif. "Mein letzter Wille - eine mit Brille!" Man stelle sich vor, ich, 13-jährig, dürr, busenlos, aknegeplagt, die Stimme im unteren Baritonbereich und bebrillt - mein erstes Date hieß Bernd, war 1 Meter und neunzig, Brillenträger und wahrscheinlich noch verklemmter als ich.

14 Jahre, Wechsel zur Oberschule, Pubertät, erste Liebe, erste echte Jeans und meine kleine Schwester schwatzte wunderbarerweise einem Optiker für zehn Mark ihres mühselig ersparten Taschengeldes eine Nickelbrille aus den Rippen. Ich wurde ein anderer Mensch. Die Pickel verschwanden. Nur die Stimme blieb in den unteren Regionen.

Ich wurde Zwanzig und hatte mein erstes Vorsprechen bei Alexander Lang am Deutschen Theater; aber Johanna traute sich nicht, woraufhin Herr Lang verlangte das die Brille abgenommen wird. Halbblind war ich furchtlos, weil ich, orientierungslos und hilflos, keine Energie mehr übrig hatte, mich zu verstecken.

Ein DEFA-Film, einige Jahre später, ich spiele eine unglücklich verliebte Frau, die einen letzten heroischen Versuch unternimmt den Geliebten zu gewinnen, sie macht sich nackt. Ich sollte mich ausziehen. Stop. Ausziehen? Langweilig. Aber die Brille absetzen, das macht wehrlos. Der Regisseur, Lothar Warnecke, hat es gekauft. Es stimmte.

Wir Brillenträger sind mittlerweile eine aussterbende Gruppe. Ich gehöre nur deshalb noch dazu, weil meine Experimente mit Kontaktlinsen allesamt in blutroten tränentriefenden Augen oder anderen Katastrophen endeten, zum Beispiel habe ich einmal einen längeren Monolog nach hinten, vom Publikum weggewendet sprechen müssen, weil sich die Linse hinter meinen Augapfel geschoben hatte, so wahrhaft verzweifelt habe ich sicher nie wieder geklungen. 
 
Andere Kollegen waren da weit cooler, Dagmar Manzel hat in einer riesigen Tirade, ohne zu stocken, ihre Linse auf dem Bühnenboden ertastet, durch Spucke gereinigt und mit einer höchst eleganten Geste wieder eingesetzt. Allerdings hat sie auch eine große Gruppe von Darstellern im "Kaufmann von Venedig" dazu gezwungen, sich wie eine Volkstanzgruppe im Rundtanz zu bewegen. Dagmar, als Portia, hatte ihre Linsen vergessen und spielte also blind, aber bestimmt ihre Anklagerede gegen Shylock in die von ihr vermutete Richtung des Dogen von Venedig. Ihre Vermutung war allerdings falsch. Der Doge bewegte sich unmerklich auf ihre Position, aber Dagmar bestand auf ihren verschwommenen Ansprechpartner und bewegte sich ebenfalls. Der Doge rückte nach und Dagmar auch, und und und...

Der Weichzeichner, den eine Kurzsichtigkeit dem Brillenlosen bietet hat auch ungeahnte Vorteile, ich sehe zwar wenig, aber ich höre alles! Kollegen erscheinen faltenfrei und überirdisch schön. Blöde Grimassen lassen mich kalt, aber wehe einer verspricht sich!
Alles hören, heißt über alles lachen müssen, aber nicht lachen dürfen.

Und weil ich sowieso Schwierigkeiten mit dem Wechsel von Hellig- und Dunkelheit habe, meine Zusammenstöße mit Seitenwänden auf der Suche nach dem Abgang waren häufig und schmerzhaft, habe ich eine korrektive Operation, die möglicherweise Blendungsprobleme nach sich ziehen könnte, nie ernsthaft in Erwägung gezogen.

Ernst Busch mußte im Kaukasischen Kreidekreis die folgenden Worte ohne Lachkrampf sprechen, nachdem die Brille eines Beleuchters gerade von seinem Nasenrücken auf der Beleuchtungsbrücke direkten Weges auf die Bühne gefallen war.

O Blindheit der Großen! Sie wandeln wie Ewige
Groß auf gebeugten Nacken, sicher
Der gemieteten Fäuste, vertrauend
Der Gewalt, die so lang schon
gedauert hat.
Aber lang ist nicht ewig.
O Wechsel der Zeiten! Du Hoffnung des Volks!

Sonntag, 12. April 2015

Stalinismus, Analphabetismus und Sex


SERGEJ MERKUROW
1881 - 1952


Der Bildhauer Sergej Merkurow, armenisch-griechischer Abstammung, 
Direktor des Puschkins Museums in Moskau von 1944 bis 1949, 
Mitglied der KPdSU und der Freimaurerloge der "Vereinten Arbeiter-Brüderschaft", Schüler von Auguste Rodin und Erschaffer der drei 
größten Stalindenkmäler in der UdSSR. Er war auch berühmt für die 
Qualität seiner Totenmasken, und nahm die Gipsabdrücke vieler 
berühmter toter Russen ab, zum Beispiel: Leo Tolstoi, Wladimir Lenin 
und seiner Frau, Maxim Gorky & Wladimir Majakowsky.

Srgej Merkurows Moskauer Stalinstatue mit abgeschlagener Nase.

In Dörfern und in Städten, in Tälern und auf den Bergen,
wo frei über Gipfel der Adler sich schwingt,
von Stalin, dem weisen, dem eignen, geliebten,
ein herrliches Lied voll Begeist’rung erklingt.


Text: M. Injuschkin / Musik: A.W. Alexandrow 


Im Zuge einer Kampagne zur Alphabetisierung der sowjetischen Bevölkerung gestaltete er ein "erotisches" Alphabet:



Venus und Stalin

von Peter Hacks

Sie, ihre Füße badend, trägt kein Kleid,
Das zu durchnässen sie vermeiden müßte.
Sie zeigt dem All in Sommerheiterkeit
Den Hintern und die weltberühmten Brüste.

Er, nebst noch einer Schreibkraft, prüft, erwägt,
Am Saum des Quellbachs hingestreckt, Berichte.
Damit sie Zephir nicht von dannen trägt,
Benutzt er Kieselsteine als Gewichte.

Gelegentlich läßt er das Auge ruhn,
Das väterliche, auf den prallen Lenden
Der Göttin, die versunken in ihr Tun,
Ein Bein gewinkelt hebt mit beiden Händen.

Ein milder Glanz geht, eine stille Pracht
Unwiderstehlich aus von diesem Paar.
Die Liebe und die Sowjetmacht
Sind nur mitsammen darstellbar.




Aus: MERKUROV SERGEI DMITRIEVICH. 
First Edition Moscow-Leningrad: Iskusstvo, 1944



Postkarten: PAVILION der UdSSR 1939 in New York Weltausstellung