Sonntag, 19. April 2015

Grunewald - Frühsommer in Berlin 2



Im Zuge meines, durch eine Freundin sanft-nachdrücklich verstärkten, Vorhabens,
wenigstens einmal wöchentlich an die "frische Luft" zu gehen und darin herumzulaufen, 
waren wir heute im Grunewald. So lerne ich einig emir bisher unbekannte Gegenden Berlins 
doch noch kennen. Das Publikum war reicher als in Rehberge, die Hunde schicker und unglaublich zahlreich. Man konnte an mehreren Ständen Bio-Hundekekse erwerben.

Eine Dame in rosa T-Shirt mit "Yeah Friday"-Aufdruck, rosa Hose und rosa Schuhen,
etwa Mitte 60, sehr bauchlastig, der Mann dazu ebenfalls sehr jugendlich-sportlich gekleidet, 
aber mit dem kahlen Kopf und Schnurrbart eines Pickelhaubenträgers,
ihr Hund, ein verängstigter Terrier, hieß Alberto. 

Im Jagdschloß eine Ausstellung mit vielen Renaissanceporträts, einige davon geradzu 
überraschend schlecht gemalt, wobei es sicher auch nicht einfach gewesen sein kann,
die meist außerordentlich häßlichen Mitglieder der Famile derer zu Brandenburg
mit Farbe auf Leinwand zu bringen. Die meisten flabberig fett, mit bösen kleinen 
dicklichen Mündern und dummen, weit auseinanderstehenden Augen. Die Männer
oft auch noch eingeklemmt in zu enge Rüstungen. Da haben wohl ein paar Cousinen
zuviel ihre Cousins geheiratet. Und auch bei einigen, der zahlreichen Cranachs, 
besonders des Älteren, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie in großer 
Eile, unter dem Einfluß von Alkohol oder schlechtgelaunt gemalt worden sein müssen.
Zitat Freundin: "Zweitklassige Kunst ist viel unterhaltsamer."
Das Brücke-Museum kommt ein andermal dran.

In den Grunewald, 
seit fünf Uhr früh, 
spie Berlin seine Extrazüge.
Ueber die Brücke von Halensee, 
über Spandau, Schmargendorf, über den Pichelsberg, 
von allen Seiten,
zwischen trommelnden Turnerzügen, zwischen Kremsern mit Musik,
entlang die schimmernde Havel,
kilometerten sich die Chausseeflöhe.
»Pankow, Pankow, Pankow, Kille, Kille« »Rixdorfer« »Schunkelwalzer« »Holzauktion«
Jetzt ist es Nacht.
Noch immer 
aus der Hundequäle 
quietscht und empört sich der Leierkasten. 
Hinter den Bahndamm, zwischen die dunklen Kuscheln, 
verschwindet 
eine brennende Cigarre, ein Pfingstkleid. 
Luna: lächelt. 
Zwischen weggeworfnem
Stullenpapier und Eierschalen 
suchen sie die blaue Blume
Arno Holz: Phantasus. Stuttgart 1978



Das Jagdschloss Grunewald 


Johann Friedrich Nagel
1788
Eigentlich wie heute, nur jetzt mit viel, sehr viel mehr Hunden


Heinrich Bollandt 
Erdmann August, Kronprinz zu Brandenburg-Bayreuth im Alter von drei Jahren
Erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
Früher Punk

 Lucas Cranach der Ältere
Judith mit dem Kopf des Holofernes
1530
Selbst der Tote guckt noch provozierend auf den Betrachter


Meister der Aachener Schranktüren  
Geißelung Christi 
  um 1480
Vier Volkstänzer geißeln Jesus,
man beachte bei der Figur vorne rechts 
die ungewöhnliche Anbringung des linken Knies!


 Herrlich grässlich!
Im Hof des Jagdsclosses Grunewald
Johannes Brixe
Wildsau wird von drei Jagdhunden gerissen.
In der Jagdausstellung steht auf der Liste der von einem der preussischen Könige
erlegten Tieren übrigens auch ein Wal!






Welcher Künstler hat die Wildschweinplastik im Hof erschaffen?
Im Innenhof befindet sich eine aus Metall (aus Gußeisen, laut Fontane 1894 und Berdrow 1902) hergestellte Wildschweinjagdplastik aus dem Jahre 1862, welche sich ursprünglich vor dem Schlosseingang befand, später dann aber vor den Jagdzeugschuppen verlegt wurde, wo sie auch heute noch steht. Auf dem Sockel steht der Name (des Künstlers?): “Johannes Brix – Berlin”. Leider konnte ich über diesen Künstler bisher nichts in Erfahrung bringen. Dafür, dass es sich um eine sehr “lebensechte” Plastik handelt, ist es sehr verwunderlich, dass von ihm nicht weitere Werke bekannt oder benannt sind.
Börsch-Suphan schrieb 1981/97, Seite 9: “An die Jagdromantik des 19. Jahrhunderts erinnert noch heute die in Zink gegossene Wildschweingruppe von Wilhelm Wolf, die 1862 im Hof aufgestellt wurde.”
Die naheliegende Frage ist nunmehr, weshalb der Name “Johannes Brix” auf dem Sockel der Plastik geschrieben steht und nich jener von Friedrich Wilhelm Wolf?
Anlässlich einer Schlossführung am 27.01.2013 wurde mir dazu die Auskunft gegeben, dass Wilhelm Wolf der Künstler, aber Johannes Brix der Gießer der Plastik ist. Zur damaligen Zeit stellte ich die Fertigkeit des Gießens für sich selbst schon eine herausragende Leistung dar.
 
Forst Grunewald website "Der GruneWald im Spiegel der Zeit"


Freitag, 17. April 2015

Topor - Todlustig

 
«Humor ist für mich die Geschichte von dem zum Tode Verurteilten, 
der die letzte Zigarette mit den Worten ablehnt: 
Nein danke, ich will doch aufhören!

ROLAND TOPOR

Illustration zu Le Locataire chimérique - Der trügerische Mieter

Trailer zu Polanskis "Der Mieter" nach Topors Roman "Le Locataire chimérique" von 1964
https://www.youtube.com/watch?v=ZmhIMbdecEU

Ius primae noctis

Dieses Jahr findet die Wahl der Miss World in Mexiko statt.
Bewerberinnen aus 32 Nationen landen am Flughafen und drängen sich in dem Bus, der sie zum "Palace Excelsior" bringen soll, dem Ort der Veranstaltung. Unglücklicherweise kommt der Bus unterwegs von der kurvigen Bergstraße ab und stürzt in eine Schlucht. Zwölf Konkurrentinnen sind solort tot, fünfzehn mehr oder weniger schwer verletzt.
Allgemeine Ratlosigkeit.
Soll man ein so bedeutendes Ereignis absagen, wo doch Fernsehsender aus aller Welt vor Ort schon ihre Kameras aufgebaut haben?
Die Veranstalter beschließen, so zu tun, als ob nichts wäre, und beschränken sich darauf, die Modalitäten der Zeremonie zu verändern: Das Defilé soll horizontal erfolgen, die Bewerberinnen, ob tot oder lebendig, werden – sorgfältig geschminkt und eine Banderole mit dem Namen ihres Herkunftslandes schräg über den entzückenden Badeanzug drapiert – von Herren im Abendanzug auf einer Liege getragen.
Und alles geht sehr gut, von den Gewissensproblemen der Jurymitglieder einmal abgesehen: Gibt es einen Punktabzug für ein fehlendes Bein? Kann man auf ein Gesicht verzichten? Müssen es unbedingt zwei Brüste sein?
Um nicht die einen auf Kosten der anderen zu bevorzugen, wurden die Lebenden vorsichtshalber betäubt und so den Toten gleichgestellt, außerdem konnte man auf diese Weise den zweifellos unerfreulichen Eindruck vermeiden, den Röcheln und Stöhnen hervorgerufen hätten.
Die Entscheidung ist allerdings durch den Umstand erschwert, dass die liegende Stellung, in der die prächtigen Anatomien der Jury präsentiert werden, die Begutachtung nicht gerade begünstigt. Auf Bitten der Herren wird also manchmal ein Kopf gedreht, ein Bein angehoben oder eine Wunde geschlossen. Zudem erscheint es unumgänglich, die Körper umzudrehen, um nach der Vorder- auch die Rückseite in Augenschein zu nehmen.
Schließlich wird die Leiche einer 19-jährigen Blondine mit den Maßen 90-90-0, früher Wirtschaftsstudentin an der Universität von Princeton mit den Hobbys Yoga und Reiten, zur Miss Tod gekrönt.
Ein atemberaubendes Finale voller Spannung und unerwarteter Wendungen.
Einziger Makel: Böse Zungen behaupten, der Juryvorsitzende habe vor der Ausscheidung ihre Gunst genossen.


R. Topor im Glarean Magazin


Alle Bilder © Roland Topor

Topor als Renfield mit Klaus Kinski in Werner Herzogs Nosferatu 1979
https://trueoutsider.wordpress.com/2012/01/14/roland-topor-1938-1997/
 

Der Schlussstein, der alles zusammenhält.


Im Gewölbebau spielt der Schlussstein eine entscheidende Rolle: erst wenn er eingesetzt ist, wird die Konstruktion selbsttragend, und das Lehrgerüst kann entfernt werden. Wiki

HEINRICH VON KLEIST

An Wilhelmine von Zenge 
Berlin, 16. November 1800

Ich gieng an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spatzieren. Als die Sonne herabsank war es mir als ob mein Glück untergienge. Mich schauerte wenn ich dachte, daß ich vielleicht von Allem scheiden müßte, von Allem, was mir theuer ist. Da gieng ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen u. ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt

 Capua, Arkade der Fassade des Amphitheaters; der Schlussstein zeigt eine Büste der Diana.

Prothoe in Penthesilea:
Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht,
Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!
Beut deine Scheitel, einem Schlußstein gleich,
Der Götter Blitzen dar, und rufe, trefft!
Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,
Nicht aber wanke in dir selber mehr,
So lang ein Athem Mörtel und Gestein,
In dieser jungen Brust, zusammenhält.

Wiki schreibt: Der mittlere Stein im Bogen wird Schlussstein genannt und ist häufig dekorativ herausgearbeitet. Von der Statik her unterscheidet er sich nicht von den anderen Steinen. Die Basis des Bogens heißt Kämpfer. Sie muss sorgfältig gearbeitet sein, damit die Druckkräfte an die Umgebung weitergeleitet werden können. Sie definiert die Kämpferlinie. Oberhalb der Kämpferlinie beginnt der eigentliche Bogen. Die ersten Steine, die auf dem Kämpfer aufliegen, bezeichnet man als Anfänger. 

 Brücke von 1899

In einem Schlussstein

Sohn einer Zeit, die unsre Zeit nicht kennt,
Entfaltest Du dies graue Pergament,
Ist von der Hand, die diesen Spruch geschrieben,
Vielleicht noch kaum ein flücht‘ger Staub geblieben.
Das Haupt, das nach Unsterblichkeit getrachtet,
Ging namenlos dahin und unbeachtet.
Das Schicksal dessen, der Dir dieses weiht,
Ermahne Dich an eigne Sterblichkeit.
Genieß das Leben, wie der Schreiber dieses,
So nur erlangst Du Glück des Paradieses.
Sei mit den Guten gut, mit Frohen froh,
Bis Dir der Hauch des Erdenlebens floh.
Wenn Dich mein wohlgemeinter Spruch nicht wundert,
Sind Brüder wir, aus zweierlei Jahrhundert:
Wo meine Hand lag, fass des Blattes Rände —
So reichen wir uns brüderlich die Hände!

Adolf Böttger

* 21. Mai 1815 in Leipzig; † 16. November 1870 in Gohlis
Aus der Sammlung Vermischte Gedichte




 

Donnerstag, 16. April 2015

Die Welt verändert sich - Fernsehserien


Verrückt, ich bin alt, alt genug, um über historische Veränderungen nicht nur kühl-interessiert in Büchern zu lesen, sondern sie ganz direkt & körperlich zu durchleben. Die Umbrüche der menschlichen Geschichte verändern direkt mein Leben, meine Möglichkeit zu leben, mich. 
Der Zusammenbruch der sozialistischen Ideologiesysteme, die Digitalisierung unserer Kommunikation, wechselnde und sich doch nahezu wiederholende Moden & Musikstile, wissenschaftliche Fortschritte der bewundernswertesten und die der beängstigenden Art, die Neuformung unserer Alltagssprache, die blitzschnelle Umlenkung des Kalten Krieges von Ost gegen West zu Christlich-Jüdisch gegen Islam, gigantische Veränderungen innerhalb eines, weltgeschichtlich gesehen, doch ziemlich kurzen Lebens. 
Als ich 2007 für einige Zeit nach Kanada auswanderte, nahm ich all meine Musik auf einer Festplatte mit, noch zwanzig Jahren früher hätte ich dafür einen Großcontainer mit Schallplatten transportieren müssen und heute, acht Jahre später ist das Speichermedium um ein Vielfaches geschrumpft und die Möglichkeit des Speicherns in der Cloud lasse ich dabei schon beiseite.
War in meiner Jugend noch der Besitz eines eigenen Telephons ein Privileg, das ich mir noch 1979 mit einem grandios gespielten Weinkrampf in der anschlußvergebenden Amtsstelle der Deutschen Post (DDR) ergaunerte, bin ich heute beunruhigt, wenn ich mein tragbares Gerät für einen kurzen Erledigungsgang nicht bei mir habe. Gut, weil ich weiß, dass Hilferufe immer möglich sind, irritierend weil mir Unwichtiges immer schwerer von Wichtigem zu unterscheiden wird.
Heute habe ich einen Brief geschrieben, mit einem Kugelschreiber auf Briefpapier, und noch vor kurzem war mein Mailordner täglich prall gefüllt, heute errreichen mich Nachrichten meist über SMS, Chat, Skype, Face Time oder Facebook. Twitter mag ich nicht und Instagram ist mir zu bildreich.
Ja, und die Fernsehserien. Johanna, das Kind, guckte vielleicht zweimal die Woche in den Apparat mit dem flimmernden gläsernen Fenster. Meine Mutter nutzte das Fernsehguckendürfen noch als aktive Erziehungsmaßnahme. Vor wenigen Jahren noch fieberte ich guten Folgen meiner Lieblingsserien entgegen und erlitt geduldig oder genervt die peinigenden & unvermeidbaren Werbepausen, jetzt streame ich, was mich interessiert, genau das, was ich gerade sehen will, genau dann, wann ich es will. Sofortige Erfüllung meines Begehrens oder ein zunehmender Mangel an Konzentration & Interesse? Ich weiß es nicht. Ich liebe Veränderungen und mißtraue dem allgemeinen Kulturpessimismus. "Früher" war nix besser, es war nur anders. 
Aber wenn meine Mutter ergebnislos mit dem Finger auf ihren PC-Bildschirm tippt, weil sie mich bei der Bedienung meines iPhones beobachtet hat und meine zehnjährige Nichte selbstverständlich und viel schneller als ich, mein iPhone bedient, wird mir klar, wie hart es ist, nicht aus der Zeit zu fallen.
Kurz nach dem Ende der DDR, Geldautomaten waren noch neu, stand ich ungeduldig in einer Warteschlange, eine ältere Frau steckte ihre Karte in den richtigen Schlitz und beantwortete die auf dem Bildschirm erscheinende Frage nach ihrer Geheimnummer mit einem geflüsterten "3 7 9 1". Irgendwo in der Maschine sitzt doch ein Mensch, oder?
Gleichzeitig empört mich, die arrogant-dümmliche Annahme jugendlicher Personen, dass ich nicht in der Lage bin, ihre Jugendlichkeit, ihre Akutheit nachzuvollziehen.
Vielleicht bedeutet Älterwerden nur, dass man wenn man Acht gibt, besser auswählt.
 
Serien, die ich mag:
The Americans
Masters of Sex
Queer as Folks
Game of Thrones
Weeds
....
und die, die mir noch bevorstehen:
Lost
Breaking Bad
The Wire
....


http://www.stern.de/wissen/mensch/genetik-menschliche-evolution-nimmt-fahrt-auf-604988.html
nnn

Mittwoch, 15. April 2015

Theater hat auch Brillenträger


Ich war eins dieser süüüßen Kinder mit Schielkorrekturbrille, eine Seite zugeklebt, damals noch ohne lustiges Bildchen auf dem Pflaster. Mit fünf galt ich als geheilt und wurde das monströse Gerät los, wenn ich auch bis heute noch, wenn ich müde bin, ein wenig schiele. Die zweite Klasse und meine Zensuren fielen ins Bodenlose, es stellte sich heraus, dass meine Augen nunmehr entschieden hatten, kurzsichtig zu werden und ich keine blasse Ahnung hatte, was wirklich an der Tafel stand. Also wieder eine Brille, die ich gehaßt und deshalb regelmäßig verloren habe, bis meine Mutter mir ein besonders häßliches Sozialversicherungsmodell überhalf und mich so brutal aber durchschlagend dazu brachte, das verflixte Ding künftighin nicht überall liegen zu lassen. Bis dahin war das Fundbüro in der Torstrasse sozusagen mein zweites Wohnzimmer.

Die Brillengestelle wechselten und ich wurde geschlechtsreif. "Mein letzter Wille - eine mit Brille!" Man stelle sich vor, ich, 13-jährig, dürr, busenlos, aknegeplagt, die Stimme im unteren Baritonbereich und bebrillt - mein erstes Date hieß Bernd, war 1 Meter und neunzig, Brillenträger und wahrscheinlich noch verklemmter als ich.

14 Jahre, Wechsel zur Oberschule, Pubertät, erste Liebe, erste echte Jeans und meine kleine Schwester schwatzte wunderbarerweise einem Optiker für zehn Mark ihres mühselig ersparten Taschengeldes eine Nickelbrille aus den Rippen. Ich wurde ein anderer Mensch. Die Pickel verschwanden. Nur die Stimme blieb in den unteren Regionen.

Ich wurde Zwanzig und hatte mein erstes Vorsprechen bei Alexander Lang am Deutschen Theater; aber Johanna traute sich nicht, woraufhin Herr Lang verlangte das die Brille abgenommen wird. Halbblind war ich furchtlos, weil ich, orientierungslos und hilflos, keine Energie mehr übrig hatte, mich zu verstecken.

Ein DEFA-Film, einige Jahre später, ich spiele eine unglücklich verliebte Frau, die einen letzten heroischen Versuch unternimmt den Geliebten zu gewinnen, sie macht sich nackt. Ich sollte mich ausziehen. Stop. Ausziehen? Langweilig. Aber die Brille absetzen, das macht wehrlos. Der Regisseur, Lothar Warnecke, hat es gekauft. Es stimmte.

Wir Brillenträger sind mittlerweile eine aussterbende Gruppe. Ich gehöre nur deshalb noch dazu, weil meine Experimente mit Kontaktlinsen allesamt in blutroten tränentriefenden Augen oder anderen Katastrophen endeten, zum Beispiel habe ich einmal einen längeren Monolog nach hinten, vom Publikum weggewendet sprechen müssen, weil sich die Linse hinter meinen Augapfel geschoben hatte, so wahrhaft verzweifelt habe ich sicher nie wieder geklungen. 
 
Andere Kollegen waren da weit cooler, Dagmar Manzel hat in einer riesigen Tirade, ohne zu stocken, ihre Linse auf dem Bühnenboden ertastet, durch Spucke gereinigt und mit einer höchst eleganten Geste wieder eingesetzt. Allerdings hat sie auch eine große Gruppe von Darstellern im "Kaufmann von Venedig" dazu gezwungen, sich wie eine Volkstanzgruppe im Rundtanz zu bewegen. Dagmar, als Portia, hatte ihre Linsen vergessen und spielte also blind, aber bestimmt ihre Anklagerede gegen Shylock in die von ihr vermutete Richtung des Dogen von Venedig. Ihre Vermutung war allerdings falsch. Der Doge bewegte sich unmerklich auf ihre Position, aber Dagmar bestand auf ihren verschwommenen Ansprechpartner und bewegte sich ebenfalls. Der Doge rückte nach und Dagmar auch, und und und...

Der Weichzeichner, den eine Kurzsichtigkeit dem Brillenlosen bietet hat auch ungeahnte Vorteile, ich sehe zwar wenig, aber ich höre alles! Kollegen erscheinen faltenfrei und überirdisch schön. Blöde Grimassen lassen mich kalt, aber wehe einer verspricht sich!
Alles hören, heißt über alles lachen müssen, aber nicht lachen dürfen.

Und weil ich sowieso Schwierigkeiten mit dem Wechsel von Hellig- und Dunkelheit habe, meine Zusammenstöße mit Seitenwänden auf der Suche nach dem Abgang waren häufig und schmerzhaft, habe ich eine korrektive Operation, die möglicherweise Blendungsprobleme nach sich ziehen könnte, nie ernsthaft in Erwägung gezogen.

Ernst Busch mußte im Kaukasischen Kreidekreis die folgenden Worte ohne Lachkrampf sprechen, nachdem die Brille eines Beleuchters gerade von seinem Nasenrücken auf der Beleuchtungsbrücke direkten Weges auf die Bühne gefallen war.

O Blindheit der Großen! Sie wandeln wie Ewige
Groß auf gebeugten Nacken, sicher
Der gemieteten Fäuste, vertrauend
Der Gewalt, die so lang schon
gedauert hat.
Aber lang ist nicht ewig.
O Wechsel der Zeiten! Du Hoffnung des Volks!

Sonntag, 12. April 2015

Stalinismus, Analphabetismus und Sex


SERGEJ MERKUROW
1881 - 1952


Der Bildhauer Sergej Merkurow, armenisch-griechischer Abstammung, 
Direktor des Puschkins Museums in Moskau von 1944 bis 1949, 
Mitglied der KPdSU und der Freimaurerloge der "Vereinten Arbeiter-Brüderschaft", Schüler von Auguste Rodin und Erschaffer der drei 
größten Stalindenkmäler in der UdSSR. Er war auch berühmt für die 
Qualität seiner Totenmasken, und nahm die Gipsabdrücke vieler 
berühmter toter Russen ab, zum Beispiel: Leo Tolstoi, Wladimir Lenin 
und seiner Frau, Maxim Gorky & Wladimir Majakowsky.

Srgej Merkurows Moskauer Stalinstatue mit abgeschlagener Nase.

In Dörfern und in Städten, in Tälern und auf den Bergen,
wo frei über Gipfel der Adler sich schwingt,
von Stalin, dem weisen, dem eignen, geliebten,
ein herrliches Lied voll Begeist’rung erklingt.


Text: M. Injuschkin / Musik: A.W. Alexandrow 


Im Zuge einer Kampagne zur Alphabetisierung der sowjetischen Bevölkerung gestaltete er ein "erotisches" Alphabet:



Venus und Stalin

von Peter Hacks

Sie, ihre Füße badend, trägt kein Kleid,
Das zu durchnässen sie vermeiden müßte.
Sie zeigt dem All in Sommerheiterkeit
Den Hintern und die weltberühmten Brüste.

Er, nebst noch einer Schreibkraft, prüft, erwägt,
Am Saum des Quellbachs hingestreckt, Berichte.
Damit sie Zephir nicht von dannen trägt,
Benutzt er Kieselsteine als Gewichte.

Gelegentlich läßt er das Auge ruhn,
Das väterliche, auf den prallen Lenden
Der Göttin, die versunken in ihr Tun,
Ein Bein gewinkelt hebt mit beiden Händen.

Ein milder Glanz geht, eine stille Pracht
Unwiderstehlich aus von diesem Paar.
Die Liebe und die Sowjetmacht
Sind nur mitsammen darstellbar.




Aus: MERKUROV SERGEI DMITRIEVICH. 
First Edition Moscow-Leningrad: Iskusstvo, 1944



Postkarten: PAVILION der UdSSR 1939 in New York Weltausstellung



Samstag, 11. April 2015

Rehberge - Frühsommer in Berlin 1





Volkspark Rehberge Mitte April, zwanzig Grad, blauer Himmel,
siehe Hintergrundsfarbe, die Knospen, die im wunderschönen Monat knallen 
werden, sind schon ganz prall, lauter ganz unterschiedliche kleine Blumen liegen, wie zufällig verstreut auf den Wiesen herum. Die Rinde der Buchen hat, 
das habe ich erst heute bemerkt, eine ganz wunderbare Farbe.
Steingrau.



Ich bin nun wahrhaft kein Spaziergänger, aber erstens hat die
Lungenärztin einer Freundin, anstatt die Nichtraucher-Moralkeule
zu schwingen, einfach angesagt, dass wer raucht dann eben 10 000
Schritte täglich laufen sollte, (Schrittzähler wurde erworben!) und 
außerdem teile ich den kindischen Überschwang, der Berliner ergreift,
wenn das Wetter auch nur andeutungsweise schön wird. Und da ich
keine Kniestrümpfe mehr trage, muß ich dann halt rausgehen, Kaffee
trinken und, konterproduktiv aber herrlich, rauchen - im Freien.

Den Volkspark kannte ich gar nicht, zu weit von meinem Kiez, aber
er ist sehr schön, weitläufig, sauber aber unordentlich und voll mit
Berlinern. Was ich heute an Berlinerisch gehört habe! Das echte,
unangestrengte, gesprochen von älteren Herrschaften, die sich sicher 
schon seit Jahrzehnten im Lokal "Schatulle" zum nachmittäglichen 
Kaffee, respektive Bier und Schnäpperken treffen, gehüllt in die
Uniform des deutschen Rentners von pastellfarbener Windjacke und
Marga Scholls Gesundheitsschuhen. In Rehberge wird nicht gejoggt,
sondern geschlendert (Zitat meiner Freundin, die viel im Tiergarten 
unterwegs ist), die Hunde sind Mischlinge und beim Picknick wird Cola
getrunken. Man ist halt im Wedding und der Plötzensee ist nicht weit
mit Freibad und JVA und ehemaligem Zuchthaus.


Wie schön du bist

Du hast ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin
Du hast ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin.

In vielen andern Städten
Zieht über uns man her.
Man sagt, dass wir zu kess sind.
Das ist nur Neid - - nichts mehr.

Ein richtiger Berliner
Der macht sich nie was vor.
Sogar wenn alles schief geht,
Behält er den Humor.

Er hat das Herz am rechten Fleck.
Das nimmt ihm keiner weg.

Wer unsere schönen Strassen
Des Nachts noch nicht gesehn,
Benzin erfüllt die Nasen,
Der bleibt bewundernd stehn.
Wer nicht die kleinen Mädchen
Sah flott vorüberziehn,
Der hat ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin.
Der hat ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin. 

Jean Gilbert Text
Alfred Schönfeld Melodie 






Ringergruppe
Bildhauer Wilhelm Haverkamp 1906

Und das gibts auch!



Donnerstag, 9. April 2015

Soldat sieht den Krieg kommen - Chaval


Chaval, bürgerlich Yvan Le Louarn, geboren am 10. Februar 1915 in Bordeaux; gestorben am 22. Januar 1968 durch Suizid in Paris, war ein französischer Karikaturist und Cartoonist. (Wiki)

Seine letzte Notiz für die, die ihn tot auffinden würden, war " Gebt auf das Gas acht."

Während der Vichy-Regierungszeit hat er kollaboriert, nicht heftig, aber doch.

Mein Lieblingscartoon ist nirgendwo zu finden: ein Einhorn, weit entfernt und sehr klein auf Wellen die Arche Noah, der Untertitel: Warum es keine mehr gibt.






Mittwoch, 8. April 2015

Mein März und April in kulturellen Schnipseln


Christopher Marlowe - Doktor Faustus in der neue Übersetzung von Rainer Iwersen - (ein wahrhaft Gelehrter im ursprünglichen Sinn des Wortes) - ein neues aufregendes Projekt - ein neuer aufregender, mir bisher, unbekannter Autor - hochbegabt und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen - war er ein katholischer Spion? - Shakespeares Zeitgenosse erstochen in einer Kneipenschlägerei oder ermordet aus tagespolitischem Kalkül - ein Stück schwingend zwischen genialisch herzbrechender Frechheit und hingerotzten Szenen, denen Marlowe sich, vielleicht nur aus Fauheit, nicht länger widmen wollte - unser deutscher Faust aus derselben Quelle gespeist, Goethes lebenslängliches Martyrium, seiner, er hatte nur 29 Jahre, ein wutschnaubender Aufschrei gegen die Unfassbarkeit des Sterbenmüssens.

Mein Gott, mein Gott, sieh nicht so streng auf mich!
Nattern und Schlangen, lasst mich noch ein Weilchen atmen!
Grässliche Hölle, klaff nicht! Komm nicht, Luzifer!
Ich will meine Bücher verbrennen! Ah, Mephistopheles!


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Peter Hacks - Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe - ein witziger, intelligenter, böser Text, geschrieben von einem selbstgewissen, gnadenlosen Stalinisten der übelsten Sorte, abgeschottet in seinem neoklassizistischen Schloß lebend, verurteilte er bösartigst & wohlfein formuliert den endlich unvermeidbaren Zusammenbruch des grässlich verunstalteten Sozialismus.
O mein Gott, warum ist nur alles für uns alle so sehr viel zu schwer?
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Masters Of Sex - amerikanische Fernsehserie von Showtime - mit Lizzy Caplan & Michael Sheen bzw. Virginia E. Johnson & William Howell Masters - schon die bloße Vorstellung das ARD/ZDF/RTL/SAT1... eine Serie über die Arbeit zweier Sexualwissenschaftler, die in den 60er und 70er Jahren, die ersten ernsthaften Untersuchungen über das Sexualverhalten des Menschen starten, überhaupt in Erwägung zögen, wäre idiotisch - aber, dass sie auch noch so viel Sorgfalt auf Dialoge, zeitgemäße Details und psychologische Glaubwürdigkeit und Widersprüchlichkeit der Figuren verwendeten, wäre außerhalb aller möglichen Erwartungen.
Ich habe eines Abends um halb 9 den ersten Teil gesehen und, obwohl ich morgens um 7 nach Bremen los mußte, eine ganze Staffel durchgeguckt. Sowas passiert mir selten.

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The Americans - Fernsehserie - mit Keri Russell & Matthew Rhys - Schläfer sind Agenten, die, unerkennbar, weil perfekt angepasst, unter uns leben und für eine "feindliche Macht" spionieren - eine Prämisse, die es zulässt, das gewöhnliche Leben in der Lüge zu betrachten, welcher Art die Lüge ist, sei dahingestellt und ist auch eigentlich unwesentlich.

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ZERO - eine Ausstellung im Gropius Bau - sie beginnen ganz neu, von vorn - 12 Jahre nationalsozialistisch geprüfter "Kunst" lasten auf den Menschen, die restaurativen Kräfte, der Adenauer Ära verschmieren den unkittbaren Riss in der Zeit, einige junge Künstler versuchen ohne Stützen, ohne Tradition, ohne Sicherheiten, von vorn zu beginnen, die Stunde Null - ZERO.


Wiki sagt: ZERO war eine Düsseldorfer Künstlergruppe, die am 24. April 1958 von Heinz Mack und Otto Piene offiziell gegründet wurde. Im Jahr 1961 kam Günther Uecker hinzu. Mack und Piene sahen die Nachkriegskunst „mit einem Übermaß an Ballast befrachtet“. Die Künstler suchten einen neuen Anfang, eine „Stunde Null“, die von der Vergangenheit unbelastet sein sollte.


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Shame  - ein Film von 2011
Steve McQueen Michael Fassbender Carey Mulligan

Ein Mann braucht Sex, egal mit wem, auch allein, er sucht - Was sucht er? - Nähe oder Distanz? - Wie nah kann ich jemandem kommen, ohne ihn je an mich heran zu lassen? - Wie kann ich meine Einsamkeit durch möglichst viele Orgasmen zementieren? - Sex als Mittel um den Anderen fern zu halten. Wie traurig.
Auf iTunes kann man für 4 Euro Filme leihen. Für Freaks wie mich ist das günstig.

Dies ist ein großer Akt des Filmemachens. Ich glaube nicht, dass ich ihn ein zweites Mal ansehen könnte.
This is a great act of filmmaking and acting. I don't believe I would be able to see it twice. Roger Ebert

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Auction of souls - ein dokumentarischer Theaterabend im Maxim Gorki Theater

Das gibt es sonst nicht: Eine Intendantin steht auf der Bühne und spricht von Widerstand, redet davon, wofür dieses Theater kämpfe, ohne Wenn und Aber, ohne jede Einschränkung: für die offizielle Anerkennung des Völkermords an den Armeniern. Ja, dergleichen gibt es nur am Gorki: Shermin Langhoff, die Intendantin, erhebt ihr Theater zum Tempel des Widerstands.
Berliner Zeitung vom 8.April 2015
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/vierzig-tage-widerstand-das-gorki-theater-erinnert-an-den-voelkermord-in-armenien,10809150,30065608.html 
 
Unter dem Titel "Es schneit im April" widmet sich das Maxim Gorki Theater einen Monat lang einer international vereinbarten Lüge. In der BRD ist es bis heute offiziell unerlaubt den Mord an zwei Millionen Armeniern, als Völkermord zu bezeichnen. Ein Faktum. Eine Lüge, die wir alle mittragen.

Im Jahr 1918 löste Ravished Armenia, der Augenzeugenbericht der damals 18jährigen Aurora Mardiganian, die schonungslos ihren Leidensweg durch die Massaker des Völkermords an den Armeniern beschrieb, eine Welle der Betroffenheit aus. Von der Verfilmung, die 1919 mit Aurora in der Hauptrolle entstand, sind heute sind nur wenige Szenen und das Skript erhalten. Die Kopien verschwanden wie die Erinnerung an Aurora, die 92-jährig völlig verarmt und vergessen in Los Angeles starb. Arsinée Khanjian rekonstruiert die Geschichte eines verzweifelten Versuchs, das Unbeschreibbare zu erzählen und verbindet die Geschichte von Aurora Mardiganian mit Berichten anderer Überlebender.

GESCHÄNDETES ARMENIEN / RAVISHED ARMENIA der originale Holywood Film von 1919 auch unter dem Namen: Auction of Souls


https://www.youtube.com/watch?v=uTnCaW-Uo_s 

 Der kleine und der große Berg Arararat, der Berg auf dem Noahs Arche landete.
Auch wenn der Ararat heute in der Türkei liegt, ist er das Nationalsymbol der Armenier, 
die bis zum Völkermord an den Armeniern 1915 größtenteils in den sechs armenischen Ostprovinzen im Osmanischen Reich ihren Siedlungsraum rund um den Ararat hatten. 
So sagt Wiki. 
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Peter Hamilton Science-Fiction Autor -
Space opera, ein merkwürdiger Begriff, Hamilton gilt als Wiedererwecker dieses Genres. Vor dem Einschlafen gibt es nichts besseres.