Sonntag, 16. November 2014

Regen mal anders - Bertolt Brecht



Der, den ich liebe
Hat mir gesagt
Daß er mich braucht.
Darum
Gebe ich auf mich acht
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte mich vor jedem Regentropfen
Daß er mich erschlagen könnte. 


Bertolt Brecht
 

Ein Regentropfen!

Wie schnell ist ein Regentropfen?

Die Fallgeschwindigkeit eines Tropfens in Metern pro Sekunde 
ist gleich dem doppelten Tropfendurchmesser in Millimetern.
Bei einem Wolkenbruch prasseln vier Millimeter große Tröpfchen
mit einer Geschwindigkeit von acht m/s (= 29 km/h) auf die Erde.
http://www.gutefrage.net

Verachtet die klein scheinende Kraft nicht;
der Regentropfen, der von der Rinne fällt, 
durchlöchert den Felsen.
 
Pestalozzi

Freitag, 14. November 2014

Theaterwohnung 7 - Wichtige unwichtige Details


In den vielen, vielen Jahren meiner beruflichen Reisetätigkeit, und dem damit verbundenen kurzzeitigen Bewohnen verschiedenster Theaterwohnungen, habe ich vielfältige praktische persönliche Spuren hinterlassen. Keine der Unterkünfte hatte eine vernünftige Tasse für meinen morgendlichen Kaffee als Bestandteil seiner Grundausstattung. Aber jede deutsche Stadt hat, wenn sie ein Theater vorweisen kann, auch einen NANU NANA Laden und der hat billige Tassen im Angebot, und so stehen meine großen Kaffeetassen in vielen mittelgroßen deutschen Städten herum, manchmal treffe ich sie wieder, oft trinken unbekannte Regisseure oder Gastschauspieler aus ihnen das Getränk, das sie in die Lage versetzt, ab 10 Uhr morgens eine gute Probe zu leiten. Ob Kaffee, grüner Tee oder heißes Wasser, irgendeine Droge brauchen wir alle.
Und scharfe Messer, Wecker, Entkalker für den lebensnotwendigen Wasserkocher, Senf, Ketchup, Olivenöl, Essig, eine Gewürzgrundausstattung und KAFFEE, unbedingt Kaffee. Einige Vorbewohner hinterlassen vage Grüsse in Form von Kaffeeresten, Zuckertütchen und Teelichtern, wenn denn ein IKEA in der Nähe ist, andere ziehen aus und hinterlassen nichts als neue Brandflecken auf dem Schreibtisch und drei übriggebliebene Spaghettistangen.


Ein freundlicher Nachbewohner einer dieser Unterkünfte ständig wechselnder Bewohner, mußte unzählige Anti-Rauchkerzen abbrennen, um den quälenden Rauchgeruch auszutreiben, den meine Sucht ihm hinterlassen hatte.
Ich danke diesem heroischen Nichtraucher für sein Verständnis!
Und Kissen! Theaterwohnungskissen bestehen aus kleinen harten Knubbeln, und ich bin froh, dass ich keine Ahnung habe, woraus diese Knubbel bestehen. Deshalb reise ich mit Kopfkissen. Und mittlerweile auch mit eigener Bettdecke.

Man legt den Kopf auf lauter kühle Kissen
Und lächelt in den dunklen Raum hinein.
Wie schön das ist: Am Abend müde sein
Und schlafen dürfen und von gar nichts wissen!
Und alle Sorgen sind zwergklein.

Erich Kästner Lob des Einschlafens

Als Postscriptum noch ein spezifisch weibliches Problem, gänzlich unfeministisch, aber doch weiblich, also weibliche Männer einschließend: Nach sechs Wochen ununterbrochenen Gebrauches hasse ich den Inhalt meines Koffers mit hitziger Intensität. Nicht schon wieder diese Hose, diesen Rock. Ich sehne mich nach meinem Kleiderschrank. Völlig blödsinnig, aber wahr.

Dies alles ist Nebensache, aber an 260 Tagen im Jahr bestimmt sie meinen Alltag.

Donnerstag, 13. November 2014

Antigone 6 - Antigone & Interstellar


Vorgestern war ich im Kino und habe mir "Interstellar" angesehen, den neuen Film von Christopher Nolan. Ein langer Film, aber nicht langweilig. Äußerst verwickelt, nur manchmal spürt man die Anstrengung der Konstruktion und man erkennt die Quellen. "2001" und "Gravity", "Contact" lassen grüßen. Alles nicht schlimm, nur bemerkbar. 
Und dann, in der großen Wiederbegegnung von Vater und Tochter am Ende des Films, stammelt die im Sterben liegende, durch die Verzerrungen der Raumzeitlinie nun älter als der Vater seiende Tochter, den ultimaten, sentimentalen, alle bisher behauptete Psychologie wegwischenden Satz: (nicht wörtlich) "Ich habe gegen alle Widerstände an Dich geglaubt und alles Schwere ertragen, weil Du, mein lieber Papa, versprochen hast, zurückzukommen." Zum einen reduziert sich damit die Aussage des ganzen Films auf die simple Botschaft "Love is all you need", zum anderen habe ich genau in diesem Moment gewußt, warum ich mit dem Stückschluß von "Antigone" so uneins war. Dank dafür an Christopher Nolan!


KREON:
 Das wollt ich nicht. Ich wollt es nicht.
Ich wollt es nicht! Ach,
Alles gleitet aus der Hand mir,
Und ich bin nichts mehr, nichts als nichts.

In der letzten Szene von "Antigone" stottert Kreon, der Tyrann, diese berührenden letzte Worte. Er hat, ohne wirklich zu verstehen warum, alle verloren, die er liebte. Grauenhaft. Wir können uns der Rührung nicht erwehren. Auch Diktatoren sind Menschen und verdienen unser Mitgefühl. Mensch ist Mensch. What the fuck! Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber seine Opfer bleiben tot. Sein Leid erleichtert ihr Leiden nicht und gleicht es auch nicht aus. Zorn ohne Rachedurst, das wäre ideal, ist aber nicht immer möglich.


http://www.willisms.com/archives/saddamhussein.jpg


KREON:

Doch kein Erbarmen lass ich walten bei dem Neffen,
Polyneikes! , der mit fremder Heeresmacht,
Mit Schwert und Feuer vernichten wollte unsere Stadt!
Zur Äsung für die Geier und die Hunde hingeworfen,
soll sein Leichnam faulen in der Sonne!
Denn rücksichtslos straft König Kreon jeden,
Der Schaden zufügt dieser Stadt, und sei’s
Ein Blutsverwandter, sei’s mein eigner Sohn.
Vor dem Gesetz sind alle gleich.

http://www.romania-insider.com/wp-content/uploads/2013/09/executie-ceausescu-evz.jpgCeaucescu und seine Ehefrau bei ihrer Exekution


Mittwoch, 12. November 2014

Sprache und Zahlen

Ich liebe Worte und Wörter! Ob plump, gewitzt, mysteriös, direkt oder umständlich. Sie leben, schimmern, geben Bedeutung und stellen sie in Frage.
Poetisch oder krass, zart und grob. Wir Menschen sind Menschen, auch weil wir miteinander sprechen können. Nur oft wissen wir kaum, was wir sagen, geschweige denn, was der Andere sagt oder meint. 
Was zählt? Zahlen wir drauf. Kopf oder Zahl?

Nullkommanichts

Schneller als schnell, kürzer als kurz, null, nuller am nullsten, sofort, jetzt, praktisch schon geschehen. Schneller als der Blitz oder, wie ich es auf Proben manchmal sage, ein Mü schneller. Ein Mü dabei steht für eine unmeßbare Zeiteinheit, weniger als ein Bisschen und mehr als Nichts.

1A
Der höchsten deutschen Güteklasse zuzuordnen, oder einfach, auf gut Deutsch, besser geht's nicht.

Mit zweierlei Maß messen
Je nachdem, abhängig von Umständen oder Vorlieben, bewerten wir Dinge nach anderen Kriterien. Liebe macht z.B. blind, Erkenntnis öffnet uns die Augen. Wir gewähren Vorteile, wir erwarten Vorteile. Wir mißtrauen. Wir urteilen ungerecht.

Aller guten Dinge sind drei
Die Dreifaltigkeit, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.

Dreikäsehoch 
Das Benennungsmotiv dieser seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlichen Redewendung ist unklar. Eine Möglichkeit besteht in der scherzhaften Verwendung aufeinander gestapelter Käselaibe als Größenangabe für Kinder
Der Begriff wurde 2007 zum drittschönsten bedrohten Wort der deutschen Sprache gewählt. Andererseits wird vermutet, dass das Wort hingegen nichts mit Käse zu tun hat, sondern vom französischen Wort caisse (deutsch: Kiste, Kasten) abstammt. Demnach bezeichnet es jemanden, der so groß ist wie drei Kisten. (Wiki)
Drittschönstes bedrohtes Wort des Jahres 2007, was für ein poetischer Name!

Ergebnisse des Wettbewerbs "Das bedrohte Wort" 
Dezember 2006 bis Mai 2007

Platz 1: Kleinod
Platz 2: blümerant
Platz 3: Dreikäsehoch
Platz 4: Labsal
Platz 5: bauchpinseln
Platz 6: Augenstern
Platz 7: fernmündlich
Platz 8: Lichtspielhaus
Platz 9: hold
Platz 10: Schlüpfer


Alle viere von sich strecken
Sterben. Heute hat mich ein junger Mann, ein Vertreter meiner Krankenkasse angerufen und bot mir an, eine Sterbeversicherung zu erwerben, für den Fall, dass ich "vom Sterben mal Gebrauch machen will". 

Seine fünf Sinne nicht beisammen haben
Erklärt sich von selbst. Alle Fünfe auf einmal, das kommt selten vor. Und warum nur fünf?

Alle Fünfe gerade sein lassen
Andere Völker nenen das Laissez-faire oder cool sein, sich keinen Kopf machen, und wenn die Fünf auch nicht durch Zwei teilbar ist, kann man doch einfach behaupten, dass es doch ginge. Was soll's? Wen stört's? Warum nicht?

Sieben auf einen Streich 
Das tapfere Schneiderlein, der Fliegenkiller in heroischer Verteidigung seiner Pflaumenmusstulle oder seines Apfels. Aus solchen Irrtümern entstehen Heldenbilder.

In einem Städtlein Romandia war ein Schneider gesessen, welcher auf ein Zeit, als er gearbeitet, einen Apfel bei sich liegen gehabt, darauf viel Fliegen, wie dann Sommerszeiten gewöhnlich, gesessen; das thät dem Schneider Zorn, nahm einen Fleck von Tuch und schlug auf den Apfel und erschlug der Fliegen sieben. Als solches der einfältige Schneider gesehen, gedacht er bei sich selbst, sein Sach sollte gut werden, ließ sich bald einen sehr schönen Harnisch machen und darauf mit goldenen Buchstaben schreiben: sieben auf einen Streich geschlagen! zog mit seinem Harnisch auf der Gasse, wer ihn besahe, der meinte, er hätte sieben Menschen auf einen Streich zu todt geschlagen; ward darnach von jedermann übel gefürchtet. (Von einem tapfern Schneider Hausmärchen der Brüder Grimm 1812) 

Auf Wolke sieben schweben
Die Redensarten „auf Wolke sieben sein“ und „im siebten Himmel sein“ stehen für eine außergewöhnliche Hochstimmung, zum Beispiel das Gefühl von purer Freude oder Verliebtheit. Im Englischen gibt es im religionswissenschaftlichen Bereich den Ausdruck seventh heaven. Die außergewöhnliche Hochstimmung wird dagegen mit cloud nine bezeichnet, also „Wolke neun“. Der Ausdruck siebter Himmel stammt wahrscheinlich aus der Theorie des griechischen Philosophen Aristoteles. Dieser teilte den Himmel als Plural in sieben durchsichtige Gewölbe (Schalen) ein, in die die Himmelskörper eingebettet sind. In jeder der sieben Himmel oder Sphären bewegt sich je einer der sieben bekannten Planeten.

Talmud (Hagiga II, 1; 12b) heißt es:
„Es gibt sieben Himmel und zwar Vorhang, Veste, Dunstwolke, Wohnung, Burg, Stätte und Gewölk. … Auf Gewölk (dem siebten) befinden sich Gerechtigkeit, Reichtum und Heil, die Schätze des Lebens, die Schätze des Friedens und die Schätze des Segens, die Seelen der Gerechten, die Geister, die Seelen derer, die einst geboren werden, und der Tau, der einst die Toten beleben wird, Gerechtigkeit und Recht. Gefunden sind fernerhin: die Ophanim, die Seraphim, die Heiligen Tiere, die Dienstengel und der Thron der Herrlichkeit.“ (Wiki)


Ein Buch mit sieben Siegeln
"Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen". Offenbarung des Johannes 

 Apokalyptisches Lamm auf dem Buch mit den sieben Siegeln
Johann Heinrich Rohr, um 1775

Seine Siebensachen packen
Die besondere Beachtung, die der Zahl sieben seit der Antike gewidmet wird, geht wohl auf die Periode von jeweils sieben Tagen zurück, in denen der Mond eine seiner Formen (ab- und zunehmender Halbmond, Voll- und Neumond) zeigt. Über das Juden- und Christentum ist die Sieben auch in deutsches Recht und Brauchtum gekommen: Sieben Zeugen werden als glaubwürdig angesehen, es gibt sieben Kurfürsten, sieben Ratsherren, und am normalen großen Galgen ist Platz für sieben Gehenkte. Eine große Bedeutung hat die Sieben (auch in den Varianten sieben mal sieben, siebzig usw.) natürlich auch bei Fristen aller Art. Auch in der Sage und im Märchen dominiert die Sieben: Es gibt sieben Schwaben, sieben Geißlein, sieben Zwerge, und das tapfere Schneiderlein tötet sieben Fliegen auf einen Streich. Oft steht die Zahl sieben aber auch einfach ohne besondere Bedeutung als prototypische Zahl überhaupt. Dies trifft beispielsweise auf die Wendung "seine Siebensachen packen" zu. Hier hat die Sieben allerdings auch den Nebensinn des Kleinen und Armseligen. (www.redensarten.de)

08/15
Normal, üblich, gewöhnlich, aber eigentlich nur abschätzig gebraucht, im Sinne von nicht gut genug.
Das MG 08 war ein Maschinengewehr aus deutscher Produktion, das insbesondere im Ersten Weltkrieg verwendet wurde. Es wurde nach seinem Einführungsjahr 1908 benannt. Die Zusätze /15 und /18 geben die Modellvarianten ihres Erscheinungsjahres an. Ab dem Zeitpunkt der Einführung des MG 08/15 nahm die Materialqualität ab und die Fehlerhäufigkeit zu. Die Soldaten prägten den Ausdruck „Die Waffe ist 08/15!“ (Wiki) 

Ach Du grüne Neune!
Oder wie Pittiplatsch im Sandmännchen zu sagen pflegte: Ach, du meine Nase!
Die Redewendung bezieht sich eventuell auf eine Übertragung der französischen Spielkarten auf das deutsche Blatt. Die Pik-Neun entspricht der Gras-Neun, also dem Grünen Neuner, der Grünen Neune. Beim Kartenlegen gilt die Pik Neun traditionell als Karte, die nichts Gutes verheißt. (Wiki) 

4711
Meine Tante Gerda roch danach. Dem "Westpaket" entnahm sie Onko-Kaffee, HB-Zigaretten, Nesquicks schnelllösliches (drei l!!!) Kakao Pulver, Seife der Marke Lux und eben 4711 im Schmuckkarton, innen mit seidigem Stoff ausgeschlagen. Sie roch wunderbar, klar und sicher. Verlässlich. 

Einer Legende nach erhielt der Kaufmann Wilhelm Mülhens im Jahr 1792 die Rezeptur für ein „aqua mirabilis“ von Franz Maria Carl Gereon Farina, einem Kartäusermönch, zur Hochzeit geschenkt. Gesichert ist jedoch nur, dass Wilhelm Mülhens seit 1797 in der Kölner Glockengasse ansässig war und seit 1799 „Kölnisch Wasser“ vertrieb. Das Haus in der Glockengasse erhielt zur Zeit der französischen Besatzung die Nummer „4711“.  (Wiki)


falscher Fuffziger 
Berliner Slang für einen Täuscher, einen Scharlatan, eine Lügner, wahrscheinlich erst im letzten Jahrhundert entstandene Wendung auf den Umlauf von gefälschten Fünfzig-Pfennig-Stücken zurückgehend.
Eine andere Deutung sieht die Entstehungszeit früher, als zwischen 1840 und 1850 eine Berliner Bande die preußischen 50-Taler-Scheine fälschte. (Wiki)
 
180prozentig
Oh, nein, kein Schnaps, aber Menschen, die gläubiger als gläubig sind, gehorsamer als notwendig, gefährliche Menschen!

Sonntag, 9. November 2014

Ältere Frauen zuerst


Mein Wochenende in umgekehrter Reihenfolge

Die Lichtgrenze - 8000 Ballons fliegen in leicht unregelmäßigen Abständen in den Berliner Abendhimmel, ein jeder von einem persönlichen Ballonpaten aus seiner Verankerung befreit, Barenboim und die Berliner Staatskapelle musizieren die "Ode an die Freude" und ich weine - schon wieder. Vor wenigen Tagen erst hat mich "Bornholmer Strasse" ein Fernsehfilm über "den Mann der die Grenze öffnete" mit voller Wucht erwischt und ließ mich überrascht schluchzend vor meinem Fernseher zurück und heute flenne ich bei einem Staatsakt. Was ist los? Ist das eine mit 25-jähriger Verspätung einsetzende Posttraumatische Belastungsstörung? Beiden Ereignissen ist gemeinsam, dass sie auf leichte Weise einen Moment von Glück beschreiben, purem Glück, weil das Vorher endlich, endlich vorbei war und das Nachher noch ganz unbekannt.

 
Das Weihnachtsmärchen - "Peterchens Mondfahrt" - Kinder zwischen vier und acht sind einfach das allerbeste Publikum.
 
Der Streik - Die Nachwehen des rechtmäßigen und berechtigten Arbeitskampfes der GDL finden mich und viele andere Reisende weit nach Mitternacht auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof ohne heimwärtsfahrenden Zug. Die freundliche Dame vom Service bietet Taxis für alle an, schaut auf die Gruppe frierender Bahnkunden, fast ausschließlich schwäbische Jugendliche in Partylaune, fixiert mich und sagt: "Ältere Frauen zuerst". Die meinte mich.
Der Taxifahrer, Türke, ehemaliger Fischer, Olivenhändler und leidenschaftlicher Leser war ein wunderbarer Gastgeber, zwei Stunden durch das nächtliche Schwaben mit spannender Diskussion über die politische Lage in der Türkei. 
Er hat diesen Monat schon andere gestrandete Reisende auf Bahnkosten nach München und Karlsruhe gefahren, dass heißt, die Bahn hat gewaltige Extra-Kosten und wird wohl demnächst die Fahrkartenpreise erhöhen. Da werden die Lokführer bald wieder für höhere Löhne streiken müssen. Der wirrsinnige Kreislauf der gar nicht so freien Marktwirtschaft. 

Das politische Theater - Dirk Lauckes "Furcht & Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute am Staatstheater Stuttgart" beruft sich auf Brecht und Kroetz und ist doch nur hilflos irgendwelchezeitungsartikelzitierendes moralisierendes Kinder-Kabarett ohne Bewußtsein der eigenen Harmlosigkeit. Die Spieler sind teilweise wirklich gut, doch das hilft nicht. Ein Abend, der nichts erreicht, als dass wir einander ernsthaft und besorgt bestätigen, dass wir Nazis nicht leiden können, uns aber bemühen wollen, zu verstehen, wie sie zu Nazis wurden.  Was genau ist eigentlich ein Nazi? Einer mit Ideologie? Einer mit Wut? einer mit Sozialneid? Ein Relikt? Ein Idiot? Ein Verführter, ein Verführer? Was?
(Alle Nazi-Geschichten spielten übrigens im Osten.)  

Der erste Durchlauf - 90 Minuten, 6 Tote, das Stück ist 2500 Jahre alt. Wir lernen nichts dazu.

Freitag, 7. November 2014

Der Erwachsene, der Künstler und der Zirkus - e.e. cummings


Der Erwachsene, der Künstler und der Zirkus

So, unlieber Leser, (da du und ich das, was wir uns schämen sollten
--nachdem wir ein paar kleinere zirkuswunder erleben durften--unsere "leben" zu nennen, schätzen)laßt uns niemals dumm genug sein, die völlig oberflächliche unterscheidung, die gemeinhin zwischen einer zirkusrevue und der "kunst" oder den "künsten" gemacht wird, ernst zu nehmen. laßt uns nicht vergessen, dass jedes "kunstwerk" an und für sich lebendig ist und dass, wie auch immer die "künste" sich untereinander unterscheiden mögen, es ihre gemeinsame aufgabe ist das großartige lebendigsein auszudrücken, das "schönheit" genannt wird. und deshalb ist unsere zirkusrevue kunst--weil es genauso kindisch ist, zu behaupten, dass das benannte schauspiel keine authentische manifestation der "schönheit" ist, wie es idiotisch ist den zirkus zu verdammen, weil er kindisch ist.



The Adult, the Artist and the Circus

So, ungentle reader, (as you and I value what we should ashamed--after witnessing a few minor circus-marvels--to call our "lives,") let us never be fooled into taking seriously that perfectly superficial distinction which is vulgarly drawn between the circus-show and "art" or "the arts." Let us not forget that every authentic "work of art" is in and of itself alive and that, however "the arts" may differ among themselves, their common function is the expression of that supreme alive-ness which is known as "beauty." This being so, our three ring circus is art--for to contend that the spectacle in question is not an authentic manifestation of "beauty" is as childish, as to dismiss the circus on the ground that it is "childish," is idiotic.
 
e.e. cummings
The Adult, the Artist and the Circus.
Vanity Fair 25 (October 1925): 57 & 98.

Donnerstag, 6. November 2014

Ein Photo


Ich habe heute überraschend von einer ehemaligen Kollegin aus dem Abenddienst des DT eines ihrer privaten Photos geschenkt bekommen.
 Der Alexanderplatz Ecke Karl-Marx-Allee, die große Demonstration vom 4. November 1989 ist vorbei. Es regnet.
 
Am Abend habe ich Vorstellung im Deutschen Theater, "Ein Monat auf dem Lande" von Turgenjew. Eigentlich liebe ich diese Vorstellung, aber jetzt erscheint mir die Idee, den Zuschauern das russische Landleben und die Qualen seiner Bewohner ans Herz zu legen, völlig absurd und überflüssig.

Ich habe gerade das erste und wahrscheinlich einzige Mal einem geschichtlich wichtigen Moment beigewohnt, ohne annähernd zu begreifen, was er auslösen würde. Mein Land hat sich völlig verändert, aber es sieht noch genauso aus wie immer. Grau.

Eine Freundin hat das Photo angesehen und dachte, es wäre vor der Demonstration geschossen worden.( Geschossen, merkwürdig und merkwürdiger!) Aber ich bin sicher, es ist später entstanden, als sich die Menschen zerstreuten, auseinanderliefen, glücklich, verwirrt, hoffnungsvoll und in Erwartung von ungeahnter Zukunft.

Sie hat gesagt: Die Haltungen. Keiner sieht jemanden an. Seltsam angespannt und weggeduckt. Lauernd. Vorläufig. Beklemmende Stimmung. Steckt ganz viel DDR drin.

Sie hat Recht.

Ich und mein Mann rauchend im Regen, 
die anderen Menschen kenne ich leider nicht.
© Conny Schuerit

Mittwoch, 5. November 2014

Die letzte Rose


Weil das Wetter heute so grässlich feuchtkaltscheußlich war!


Johan Laurentz Jensen, Dänemark 1800-1856


Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
sie war, als ob sie bluten könnte, rot;
da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
so weit im Leben ist zu nah am Tod!

Es regte sich kein Hauch am heißen Tag,
nur leise strich ein weißer Schmetterling,
doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
bewegte, sie empfand es und verging.

Christian Friedrich Hebbel

Dienstag, 4. November 2014

Anmache, Belästigung, Flirt & Spaß

Mich hat diese intensive, wenn auch knappe, rein digitale Diskussion erst verblüfft, dann erstaunt, dann erschreckt.
Macht mein Alter mich schon unfähig, manche der geposteten Kommentare nachzuvollziehen? Ist es schon zu lang her, dass mir anerkennend nachgepfiffen wurde? Bin ich durch meine spezifische Geschichte desensilibisiert für die Übergriffigkeit mancher verbaler Äußerungen von offenem Sexualinteresse? Oder, und das wäre, zugegeben, die mir angenehmste Variante, bin ich durch Sozialisierung, Selbstverständnis und Erfahrung nur gelassener und unmißtrauischer (Ist das ein existierendes Wort?) gegenüber den Gelüsten meiner Mitbürgern gleich welchen Geschlechts?
Ich habe viel darüber nachgedacht, und mein Fazit ambivalent zu nennen, wäre höflich, aber hoffentlich auch gerecht. 
Nichts an dieser Diskussion ist einwandfrei. 
An einem Tag gehe ich, gut gelaunt und selbstbewußt, in der Gewissheit meiner eigenen Schönheit auf die Strasse und meine anerkennend reagierende Umwelt bestätigt nur dieses aktuelle glückliche Grundgefühl durch anerkennende Bemerkungen. Am nächsten Tag ist einer der Lobenden häßlich und unangenehm, mein Vergnügen wird empfindlich gestört. Oder ich habe einen der Tage, an dem ich mich lieber gänzlich unsichtbar durch die Stadt bewegen würde, nur leider weiß meine Umgebung nichts über meinen augenblicklichen Geisteszustand und baggert fröhlich weiter und nervt und stört. 
Kein Zusammentreffen von Mitgliedern der menschlichen Rasse ist völlig frei von sexuellen Untertönen, aber leider sind die meisten unsynchronisiert, ohne die erhoffte Empathie und dadurch voller Irritationen.
Männer grundsätzlich als potentielle, wenn auch, im besten Falle, nur verbale, Vergewaltiger zu empfinden, scheint mir äußerst ungerecht und unproduktiv. Frauen als wehrlos ausgelieferte potentielle Opfer zu beschreiben, wäre aber mindestens genauso unfair.
Wo genau sitzt die Grenze zwischen ungeschicktem ahnungslosem Kontaktversuch und dem, was wir als machtmißbrauchende bedrohliche Attacke benennen müssen? 
Wir sprechen hier über menschliche Interaktionen, Was der eine tut, bewertet der andere, je nachdem, wie es ihm gerade geht. Die Reaktionen des anderen sind dem einen nur schwerlich lesbar.
In meiner Theaterwohnung hatte ich eine Dusche, die je nach Temperatur des Wassers, ihre Farbe wechselte. Rot = heiß, grün = lauwarm, blau = kalt. Ach, hätten wir Menschen doch solche Temperaturanzeiger, dann wären dummdreiste Angriffe, so viel leichter zu unterscheiden von sehnsüchtigen, aber möglicherweise ungeschickten Kontaktversuchen.
Wollen wir unsere Mitmenschen primär als Feinde betrachten? Nein. Wollen wir uns unentwegt belästigt fühlen? Sicherlich nicht. Gestehen wir unserem Gegenüber den Tatbestand des "begründeten Zweifels" zu. Und vielleicht wird er es eines Tages auch tun.

Montag, 3. November 2014

Chicago - das Musical



CHICAGO


    
    Chicago ist ein Musical des Komponisten John Kander, mit Liedtexten von Fred Ebb und 
    einem Buch von Ebb and Bob Fosse, nach einem 1926 geschriebenen Theaterstück von 
    Maurine Dallas Watkins, in dem sie ihre Zeit als Gerichtsreporterin im Chicago der 
    Zwanziger Jahre verarbeitete.
    Am Broadway lief Chicago ziemlich lang nach seiner Uraufführung und noch viel länger 
    und erfolgreicher läuft die Revivalproduktion seit jetzt über 18 Jahren.

    Die Geschichte spielt in Chicago in den 20ern: Die Nachtclubsängerin Roxie Hart 

    ermordet ihren Liebhaber. Im Gefängnis lernt sie die Aufseherin Mama Morton und 
    Velma Kelly kennen. Velma, ebenfalls Tänzerin und dank der Hilfe von Morton ein 
    Medienstar, plant die Fortsetzung ihrer Karriere nach ihrer Freilassung. Hierfür soll 
    sie der Staranwalt Billy Flynn aus dem Gefängnis boxen, der allerdings gleiches auch 
    für Roxie plant. Es beginnt ein undurchsichtiges Dreiecksspiel, bei dem die beiden 
    Tänzerinnen um die Gunst Flynns buhlen. Als dann die Boulevardjournalistin Mary 
    Sunshine dafür sorgt, dass Roxie als „Jazz-Mörderin“ zum Medienstar wird, beginnt 
    ein Verwirrspiel aus Tricks, Lügen und Eifersucht. Werden die Tänzerinnen ihre 
    Freiheit zurückgewinnen und Ruhm und Reichtum erlangen?
    
    Wer mehr Schlagzeilen hat, überlebt, mit steigender Berühmtheit, wachsen deine
    Chancen zum Sieg, nur leider währt ein Skandal nicht lang, also müssen ständig neue
    produziert werden.
    Es gibt in ganz Chicago keine Moral, oder wenn, dann als offen und erfrischend 
    schamlos eingesetztes Mittel zum gänzlich eigensüchtigen Zweck. Liebe, Leid, Lust,
    die harte Kindheit, das Glück der Mutterschaft, Tränen und Glück, all die sicheren 
    emotionalen Stützpfeiler der geliebten alten Musicals, hier werden sie benutzt, 
    ausgenutzt, abgenutzt und wir, die Zuschauer geraten in die Rolle der Komplizen, weil 
    die Musik so herrlich ist und die Choreographien noch viel herrlicher.

    Ann Reinking hat die Choreographien im Stil von Bob Fosse entwickelt und sie sind für 
    mich, die besten Tänze, die ich je in einem Musical gesehen habe. Immer die Szenen 
    bedienend oder sie unter der Hand (oder besser den Füssen) brechend, sehr sexy und 
    von unglaublicher Kunstfertigkeit. So schnell, cool und leicht und überraschend. 

    Die Songs sind unterschiedlichsten Vaudevillenummern nachempfunden, offensiv, wild, 

    rotzfrech. Und wenn die Musik mal ins Sentimentale kippt, kontern die Texte mit 
    harschem, realen Geschäftsdenken. All that Jazz, The Cell block Tango und When 
    you're good to Mama  haken sich in Ohr und Gehirn und verbleiben dort, auf immer. 
    Tolle Nummern!
    Aber noch viel interessanter ist der Inszenierungsstil. Es mag abgedroschen klingen, 
    aber stimmt trotzdem, das ist klassisches episches Theater. Titel für die Szenen, die 
    Figuren steigen ein und aus wie gerade nötig, manche Szenen werden "erzählt", andere 
    ganz normal gespielt. Wer nicht dran ist, sitzt am Bühnenrand, das Orchester nimmt 
    die ganze Bühnenmitte ein und auch der Dirigent wird manchmal als Mitspieler 
    verwickelt. Und so hat man drei Spielebenen auf der fast leeren und ziemlich kleinen 
    Bühne. Die behauptete kitschige mediengerecht zubereitete Geschichte, die sich 
    überschneidenden und bekämpfenden aggressiven Interessenkämpfe der Figuren und 
    die Spieler/Sänger/Tänzer mit ihrem Ehrgeiz und ihrer Spiellust. Wunderbar. Ein 
    großartiges Musical.

    Ich habe Chicago in Stuttgart gesehen, im Palladium, einem der zwei Stage 
    Entertainment Theater im Stuttgart International, das ist übrigens so etwas wie ein 
    nicht gelungener Las Vegas Supereinkaufszentrumabklatsch mit Spielbank, 
    Wellnessbereich, häßlichen Hotels, Riesenkino und eben zwei Musicaltheatern. Im 
    anderen Haus läuft Tarzan.
    Die Tänzer und die meisten der Sänger sind klasse, die Inszenierung auch, aber dass 
    eine der Hauptdarstellerinnen Deutsch mehr phonetisch als inhaltlich spricht, ist ein 
    Problem und die andere ist leider auch kein echter Clown.