Sonntag, 22. Juni 2014

HAMLET 2 - Willst du Krokodile essen?



Wieder ein Widerhaken.

Der dänische Prinz Hamlet erfährt von einem Geist, einer "Gestalt", einem "Ding" seinem toten Vater ähnelnd, dass sein Onkel, nun sein Stiefvater, seinen Vater getötet haben soll. 

Was tut er daraufhin?

Er gibt vor verrückt zu sein, ironisiert sich bösartig durch einige Dialoge mit Polonius und dem verdächtigten König-Onkel, gibt altklug vorlauten Laien-Schauspielunterricht, aber neidet den nur ihre Arbeit tuenden Schauspielern, die Glaubhaftigkeit ihrer gespielten Emotionen und beklagt den eigenen Mangel an tiefen, echten Gefühlen, für die er doch eigentlich Anlass genug hätte. 
HAMLET.
Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr,
Dass er so weint um sie? Was würd' er tun,
Hätt' er den Grund und Ruf zur Leidenschaft
Wie ich?

Er macht Ophelia, seine Ferien-in-Helsingör-Liebe, fertig, weil sie nicht ehrlich genug ist, und verlangt von ihr lebenslange Abstinenz, dasselbe verlangt er später von seiner Mutter, nunmehr Ehefrau des Vaterbruders.
Er schreibt ein Theaterstück und nutzt die Reaktionen der Zuschauer als Beweise ihrer Missetaten. Kurze Zeit später ersticht er den Lauscher Polonius, der nichts mit dem vermuteten Mord an seinem Vater zu tun hat, und kann auf die Frage "Was hast du getan?" nur mit "Ich weiß es nicht!" antworten.
Zwischenspiel: Abfahrt nach England, Rosenkranz & Güldenstern, die ihn umbringen sollen, werden von ihm in den Tod geschickt, es folgt die Rückkehr nach Dänemark.
Und------und------und------Ophelia, seine kleine Liebe und Tochter des abgestochenen Polonius, hat sich umgebracht, ertränkt.
Ihr Bruder, nunmehr Waise und schwesternlos trauert an ihrem Grab. Und hier kommt es zu einer der merkwürdigsten Szenen, des an Irritationen reichen Stückes:

HAMLET ins Grab springend.

             Wer ist der, dessen Schmerz
So hohen Tons erklingt? – Dies bin ich,
Hamlet der Däne.
LAERTES.
                  Hol' der Teufel dich!
HAMLET.
Ich bitte, lass die Hand von meiner Kehle!
Denn wenn ich auch nicht jäh und heftig bin,
Hab' ich doch was Gefährliches in mir.
KÖNIG.
Werft Euch dazwischen!
KÖNIGIN.
                        Hamlet! Hamlet!
HAMLET.
                                       Ich liebte
Ophelia; vierzigtausend Brüder hätten
Mit ihrer ganzen Liebe  doch die Summe
Der meinen nicht erreicht. Was willst du tun
Für sie?
KÖNIG.
        O, er ist toll, Laertes.
KÖNIGIN.
                  Um Gottes willen, schont ihn!
HAMLET.

Zum Henker, zeig' mir, was du für sie tun willst:
Willst weinen? Fechten? Fasten? Dich zerreißen?
Willst Wolfsmilch trinken? Krokodile essen?
Ich tu es. – Kommst du um zu winseln her?
Durch eine Sprung ins Grab mich zu verblüffen?
Lass dich mit ihr begraben, ich tu's auch.
Ich prahl' so gut wie du.

Was ist das? 
Er wirft dem trauernden Bruder die Tiefe seiner Verzweiflung vor, spricht ihm das Recht daran ab, nimmt es für sich in Anspruch. Aber er klingt unwahr. "Ich prahl' so gut wie du."
Der Kerl macht mich irre, kirre. Er ist nicht zu fassen, auch weil er selbst nicht weiß, was er fühlt, fühlen soll. 

Ich lese über politische Ungeheuerlichkeiten in Zeitungen, im Internet, ich höre unfaßbare Nachrichten im Fernsehen und im Radio und suche in mir nach der entsprechenden Reaktion. Fünfzehn Spendenaufrufe liegen im Email-Ordner, zehn Bettler auf hundert Meter Fußweg bitten um Hilfe, die Obdachlosenzeitung der jeweiligen Stadt wird mir angeboten und ich suche in mir nach dem notwendigen, anständigen Mitgefühl, bemerke, dass ich Ausreden finde, mich distanziere.

Ich will kein Arschloch sein, aber die Gefährdung ist da, jeden Tag.



Godot schreibt, 
"Verspäte mich, Smiley mit Stirnrunzeln , Smiley mit Zwinkerauge ."

Donnerstag, 19. Juni 2014

Ups! - Überraschungsgast



Kennt ihr das? Alles ist gut, keinerlei weltbewegende Konflikte. Und plötzlich schaut die völlige Verlassenheit mir für einen Moment kalt und fragend ins Auge. Uneingeladen. Dauert vielleicht nur Minuten. Ich bleibe tief erschrocken und außer Fassung zurück. Es geht vorbei. 

Frühling
Fresko in Stabiae 1. Jahrhundert nach Christus
 

Die Verlassene

An K.J.

Du irrst dich. Glaubst du, daß du fern bist
Und daß ich dürste und dich nicht mehr finden kann?
Ich fasse dich mit meinen Augen an,
Mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist.


Ich zieh dich unter dieses Lid
Und schließ es zu und du bist ganz darinnen.
Wie willst du gehn aus meinen Sinnen,
Dem Jägergarn, dem nie ein Wild entflieht?


Du läßt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen
Wie einen welken Strauß,
Der auf die Straße niederweht, vorm Haus
Zertreten und bestäubt von allen.


Ich hab dich liebgehabt. So lieb.
Ich habe so geweint ... mit heißen Bitten ...
Und liebe dich noch mehr, weil ich um dich gelitten,
Als deine Feder keinen Brief, mir keinen Brief mehr schrieb.


Ich nannte Freund und Herr und Leuchtturmwächter
Auf schmalem Inselstrich,
Den Gärtner meines Früchtegartens dich,
Und waren tausend weiser, keiner war gerechter.


Ich spürte kaum, daß mir der Hafen brach,
Der meine Jugend hielt - und kleine Sonnen,
Daß sie vertropft, in Sand verronnen.
Ich stand und sah dir nach.


Dein Durchgang blieb in meinen Tagen,
Wie Wohlgeruch in einem Kleide hängt,
Den es nicht kennt, nicht rechnet, nur empfängt,
Um immer ihn zu tragen.

 
Gertrud Kolmar

aus: “Gedichte”
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980

Dienstag, 17. Juni 2014

HAMLET 1 - Sein oder Nichtsein - Da liegt der Hund begraben





 
Vier Wochen Proben für das Stück der Stücke, ja, richtig gelesen, vier, und ich habe eine Ahnung, was geht in solch beschränktem Zeitraum und was nicht und kann doch nicht aufhören über all die irritierenden, überraschenden, erleuchtenden Details nachzudenken. Meine Spieler, mit hysterischer Unternote, sind offen und waghalsig. Ein Abenteuer im deutschen Stadttheaterberieb! 

To be or not to be, that is the question:
Whether 'tis nobler in the mind to suffer
The slings and arrows of outrageous fortune,
Or to take arms against a sea of troubles,
And by opposing, end them? To die: to sleep;
No more; and by a sleep to say we end
The heart-ache and the thousand natural shocks
That flesh is heir to, ’tis a consummation
Devoutly to be wish’d. To die, to sleep;
To sleep: perchance to dream: ay, there’s the rub;

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Mit "rub" meint Hamlet eine Schwierigkeit, ein Hindernis oder einen Einwand - in diesem Fall, was seinen Selbstmord betrifft. Der Begriff hat seinen Ursprung im alten Spiel Kugeln (etwa wie das Boule der Franzosen oder Boccia für Italiener). Ein "rub" ist ein Mangel auf der Oberfläche des Rasens, der die Kugel von der vorgesehenen Richtung abbringt. Das Wort taucht schon einige Jahre vor Shakespeares Zeit auf und ist immer noch in Gebrauch.

World Wide Words © Michael Quinion
hier liegt das Problem
hier drückt der Schuh 
hier liegt der Fehler 
da ist der Haken 
da reibt es sich
da liegt der Hase im Pfeffer
da liegt der Hund begraben
das ist des Pudels Kern
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Seyn oder nicht seyn – – Das ist die Frage – – Ob es einem edeln Geist anständiger ist, sich den Beleidigungen des Glüks geduldig zu unterwerfen, oder seinen Anfällen entgegen zu stehen, und durch einen herzhaften Streich sie auf einmal zu endigen? Was ist sterben? – – Schlafen – – das ist alles – – und durch einen guten Schlaf sich auf immer vom Kopfweh und allen andern Plagen, wovon unser Fleisch Erbe ist, zu erledigen, ist ja eine Glükseligkeit, die man einem andächtiglich zubeten sollte – – Sterben – – Schlafen – – Doch vielleicht ist es was mehr – – wie wenn es träumen wäre? – – Da stekt der Haken

Christoph Martin Wieland

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Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen –
Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil, ’s ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts:

August Wilhelm Schlegel

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Sein, oder nicht sein, das ist die Frage:
Ob’s mehr uns adelt wohl im Geist, die Pfeile
Und Schleudern wüsten Schicksals stumm zu dulden,
Oder das Schwert zu ziehn gegen ein Meer der Plagen
Und im Anrennen enden: sterben… – schlafen,
Mehr nicht; und sagen, daß durch einen Schlaf
Wir’s Herzweh enden und die tausend Lebenshiebe,
Die unserm Fleisch vererbt sind: ‘s ist eine Erfüllung
Inbrünstig beizuwünschen. Sterben, schlafen,
Schlafen, womöglich träumen – ja, da hakt’s:
 
Frank Günther 

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Sein oder Nichtsein, das ist die Frage,
Ob es von edlerm Sinn ist, man erduldet
Geschoß und Schleuder des erzürnten Schicksals,
Oder nimmt Waffen gegen Seen von Drangsal
Und endet sie durch Kämpfen. Sterben, schlafen
Sonst nichts, und sagen mit dem Schlaf, vorbei
Das Herzweh und die tausendfachen Schläge
Die Fleischeserbe sind, es wäre ein Ziel
Auf innigste zu wünschen. Sterben, schlafen,
Schlafen, vielleicht träumen - ja da steckts,


Adolf Dresen

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Sein oder nicht sein, das ist die Frage –
Ob es von edlerm Geist ist, auszuhalten
Geschoß und Schleuder des wütenden Geschicks
Oder, in Waffen gegen eine See
Von Plagen, enden im Aufstand. Sterben, schlafen
Nicht mehr, und sagen mit dem Schlaf: vorbei
Das Herzweh und die tausend Qualen, unser
Fleischliches Erbteil. Das ist ein Schluß
Aufs innigste zu wünschen. Sterben, schlafen.
Schlafen, träumen vielleicht. Da ist der Haken.

Langhoff / Müller 

 

Berlin, Hauptstadt der D D R von Harald Hauswald photographiert










1983


 1983




Ein Gedicht für das MfS
(Ministerium für Staatssicherheit) 

Angesichts mancher Engen und Weiten
Und einiger wie immer üblichen Schwierigkeiten
Stehen wir doch 
Können wir völlig beruhigt sagen
Mit unserm Staat und seiner Sicherheit
So jung wir auch sind nicht mehr in Kindheitstagen.
Ganz im Gegenteil!
Der Säugling von damals,
Trotz Mängeln der Nachkriegszeiten
Recht gut genährt, hat sich bereits
Als Mann bewährt.
Oder Mädchen, je nachdem.
Ob es heißt: Der Staat oder die DDR –
Das sind nur vom Artikel, nicht von der
Sache verschiedene Pole!
Gestattet, daß ich mich ausnahmsweise
Mal wiederhole:
Die DDR!
Wir lieben sie sehr.
Ich verglich sie einst:
Eine schmucke Kleine!
Mit der Ostsee im Haar, den
Mecklenburgischen Weiten
Um die kräftigen Schultern.
Die kugligen Harzer Berge,
Zum Anfassen – herrliche Seltenheiten!
Der schlaue Nabel Hauptstadt Berlin
Und tiefer hin
Die sächsischen Hüften,
Thüringische Feengrotten …
Jungs, für so ein Mädchen
Kann man sich schon zusammenrotten.
Das hab ich gesagt
Und ohne zu spotten!
....
....
....

HELMUT BAIERL!
 
Das Gedicht wird  noch viel viel schlimmer!



1988

Alle Photographien © Harald Hauswald / Ostkreuz
Aus: Vor Zeiten. Alltag im Osten: Fotografien 1976-1990
Lehmstedt Verlag; 248 Seiten

Montag, 16. Juni 2014

Lau & flau & mau



LAU - Nicht WARM Nicht KALT 
   
   wie
   ihr mich empfingt — wie kalt — wie lau — denn lau   

   ist schlimmer noch wie kalt.
   Lessing


   lauw, warmlächt, zwischend Kaltem und Warmen 
   lau ist was nicht oder nicht mehr entschieden warm empfunden wird
   und, hieran angeschlossen, in die bedeutung lind, milde 
   Grimms Wörterbuch

   oft hab ich diesen weg gemacht,
   wann goldner sonnenschein gelacht,
   bei lauer lüfte kosen.

   Uhland 

   
   Also, weil du lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich 
   dich ausspeien aus meinem Munde.
   Offenbarung des Johannes 3.16
 
   Lauigkeit laulich frühlingslau lauwarm

 UNBEWEGTE LAUE LUFT

Unbewegte laue Luft,
Tiefe Ruhe der Natur;
Durch die stille Gartennacht
Plätschert die Fontäne nur.
Aber im Gemüte schwillt
Heißere Begierde mir,
Aber in der Ader quillt
Leben und verlangt nach Leben.
Sollten nicht auch deine Brust
Sehnlichere Wünsche heben?
Sollte meiner Seele Ruf
Nicht dir deine tief durchbeben?
Leise mit dem Ätherfuß
Säume nicht, daherzuschweben!
Komm, o komm, damit wir uns
Himmlische Genüge geben! 

Georg Friedrich Daumer
Text zum Lied von Johannes Brahms
"Unbewegte laue Luft", op. 57 
Acht Lieder und Gesänge no. 8 um 1871

   DIE SCHÖNE LAU von Eduard Moerike
   http://www.gedichte-lyrik-poesie.de/Moerike_Die_schoene_Lau/index.html 


FÜR LAU - Für UMSONST

   Heute alles für flau!

   von jiddisch lo bzw. lau für nichts, nein oder ohne


FLAU - Nicht ganz STARK Nicht ganz SCHWACH - MAU

   Ich hab' so ein flaues Gefühl im Magen!
   Siehe auch Flaute in der Seemannssprache!

   altfranzösisch flau = sanft
   ein mhd. flou oder flouwe voraussetzend, wie lau tepidus dem ahd. lao, thau  
   ros dem mhd. tou gen. touwes entspricht. nnl. flauw.
   Grimm 

   mir ist ganz flau
   um lung und leber und die gall läuft über.

   Tieck


Sonntag, 15. Juni 2014

DIE NACHT - Michelangelo Buenarotti



Michelangelo Buonarroti La Notte - Die Nacht

Grab des Giuliano - Kapelle der Medici


La Notte, che tu vedi in sì dolci
atti dormir, fu da un angelo
scolpita in questo sasso,
e perchè dorme ha vita:
Destala, se nol credi, e parleratti.

Giovan Battista Strozzi, 1504-1571
Die Nacht, die wir in tiefem Schlummer sehen,
Ein Engel schuf sie hier aus diesem Stein,
Und weil sie schläft, muß sie lebendig sein,
Geh, wecke sie, sie wird dir Rede stehen.“

Übersetzung von Sophie Hasenclever

Ein zarter Frauenkopf auf einem muskulösem
unverhältnismäßigen Männerkörper, die Brüste
sitzen ganz außen und wirken fast
wie im Nachhinein angebracht.

Die Entgegnung Michelangelos:

Caro m' è 'l sonno, e più l'esser di sasso,
mentre che 'l danno e la vergogna dura:
Non veder, non sentir, m' è gran ventura;
però non mi destar, deh! parla basso.

Michelangelo Buonarroti, 1475-1564
 
Schlaf ist mein Glück; so lange Schmach und Kummer
Auf Erden dauern, besser Stein zu bleiben,
Nicht sehn, nicht hören bei so schnödem Treiben.
Sprich leise drum und stör' nicht meinen Schlummer.

Übersetzung von Sophie Hasenclever

Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
Ich, Stein zu sein. Währt Schande und Zerstören,
Nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören.
Drum wage nicht zu wecken. Ach! Sprich leise.

Übersetzung von Rainer Maria Rilke 


Samstag, 14. Juni 2014

TARTUFFE an der Schaubühne


Ein Geständnis: Ich habe gestern Lars Eidinger zum ersten Mal auf der Bühne gesehen. Sein Ruf war mir zu Ohren gekommen, in ein oder zwei Fernsehspielen war er mir ein wenig auf die Nerven gegangen, dass er in Tartuffe mitspielen würde, wusste ich nicht. Peinlich.

Man war der gut! Er spielte übrigens, dies für die ebenso Uninformierten wie mich, den Tartuffe. Jetzt muß ich also versuchen, Karten für den Hamlet zu bekommen.

Die Altmann-Bühne eine schwarze Wand mit einem kleinen güldenen Kabinett in der Mitte, ein schwarzer 70er Jahre Ledersessel das einzige Möbel.

Es beginnt laut und schrill, geradezu entnervend ausgestellt, mit der Mutter des Hauses, hier ein Mann. Die Kinder sind gleichfalls wild-üble Chargen von unterschiedlicher Qualität. Der Vater tritt auf mit gepflegt langer Mähne und weinrotem Hemd - und mit ihm ein Anderer, dieselbe Frisur, nur strähnig und vor dem Gesicht hängend. Der Gesichtslose spricht erbarmungslos, rhythmisiert, mit heiligem Zorn Texte aus dem Neuen Testament und geht ab. 

Es wird weiter geclownt und chargiert, das muß sein, habe ich später verstanden, damit der Kontrast steht.
 
Der Kontrast - Bettina Zimmermann & Lars Eidinger sprechen über die Liebe. Wow. So leise, so intelligent, so abgeklärt und doch verletzlich. Sie tun dies, während sich das quadratische Kabinett um 180 Grad gedreht hat und der unerschütterlich an den Propheten der Lehre und seine Wahrhaftigkeit glaubende Vater nunmehr schräg im Sessel an der Seitenwand hängt. Ein großartiges Bild der aus den Fugen geratenen Welt, in der im festgklebten Sessel die behauptete entspannte Sitzhaltung weiter behauptet wird, und wenn die stabilisierende verkrampfte Hand auch fast abfällt.
Dieser Tartuffe ist ein brennender Prediger, ein Fanatiker der Liebe, der in solcher Gesellschaft also nur zum Vieh werden kann. Elmire versteht das und weist ihn dennoch ab. Sie wiederholt seine wunderschönen Bibelzitate verwundert, enttäuscht, ihnen nachlauschend, so schön und so unmöglich.
  
Der Schluß ist ein bisschen abrupt, da fehlt irgendwas. Dass der Bote des König nicht kommt, ist sicher folgerichtig. Aber mein sentimentales Mörderherz hätte gern gewusst, was mit Tartuffe und Elmire, die als einzige am Finale nicht teilnehmen, denn noch geschieht.

Matthäus 25
Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt; ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt; nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; krank und gefangen, und ihr habt mich nicht besucht!

Ich glaube, sie haben die Schlachter-Übersetzung genutzt, da bin ich nicht ganz sicher. Würde aber passen, Franz Eugen Schlachter, Schweizer, stand der protestantischen Erweckungsbewegung nahe und studierte gründlich die Originalsprachen der Schrift. Es ist eine sehr klare, genaue, verständliche Version der Bibel. 





© dpa Foto: Carstensen/dpa

Aus: DIE GNADENLOSE LIEBE

gefunden im Programmheft zu Tartuffe

Eine weitere dieser ungeschriebenen Regeln betrifft die religiösen Überzeugungen. Man muss so tun, als sei man ungläubig. Gibt man den eigenen Glauben offen und öffentlich zu, wird dies fast als etwas Schamloses, Exhibitionistisches empfunden. Wir alle scheinen uns in der Situation von Goethes Faust zu befinden, der, nach dem er mit Gretchen geschlafen hat, auf deren Frage »Nun sag', wie hast du's mit der Religion?« mit einer Fülle ausweichender Gegenfragen antwortet (s. Goethes Faust I, Vers 3415 ff.). Die verborgene Kehrseite dieses Widerstands besteht darin, dass niemand dem Glauben wirklich entkommt – ein Phänomen, das gerade heute, in unseren angeblich gottlosen Zeiten, besonders hervorgehoben zu werden verdient. D.h., in unserer angeblich atheistischen, hedonistischen, posttraditionellen, säkularen Kultur, in der niemand bereit ist, seinen Glauben offen einzugestehen, ist die zugrundeliegende Struktur des Glaubens dafür um so weiter verbreitet: Wir alle glauben heimlich. Lacans Position in diesem Zusammenhang ist klar und unzweideutig: »Gott ist unbewusst«, d.h. es ist ganz natürlich, dass der Mensch der Verlockung des Glaubens nachgibt. Diese Vorherrschaft des Glaubens, die Tatsache, dass das Bedürfnis zu glauben im Wesen der menschlichen Subjektivität liegt, ist das, was das gängige Argument, mit dem die Ordnungsgläubigen ihre Gegner zu entwaffnen versuchen, so problematisch macht: Nur diejenigen, die glauben, können verstehen, was es heißt, zu glauben, Atheisten sind daher von vornherein außerstande, mit uns zu diskutieren ... Falsch an dieser Argumentation ist die ihr zugrundeliegende Prämisse: Der Atheismus ist nicht die Nullstufe, die jeder verstehen kann, da sie lediglich die Abwesenheit Gottes oder des Glaubens an ihn bedeutet – vielleicht gibt es nichts, das schwieriger auszuhalten ist als diese Position, nämlich ein echter Materialist zu sein. Insofern als die Struktur des Glaubens diejenige der fetischistischen Spaltung und Verleugnung ist (»Ich weiß, dass es keinen Großen Anderen gibt, aber dennoch ... [glaube ich heimlich an ihn]«), ist nur der Psychoanalytiker, der die Nichtexistenz des Großen Anderen behauptet, ein echter Atheist. Selbst Stalinisten waren Gläubige, insoweit sie sich auf das Jüngste Gericht der Geschichte beriefen, das dereinst über die »objektive Bedeutung« unserer Taten entscheiden wird. Und selbst ein derart radikaler Verletzer von Grenzen wie Sade war kein konsequenter Atheist, denn die geheime Logik seiner Grenzüberschreitung ist ein gegen Gott gerichteter Akt der Auflehnung, d.h. die Umkehrung der gängigen Logik der fetischistischen Spaltung (»Ich weiß, dass es keinen Großen Anderen gibt, aber dennoch ...«): »Obwohl ich weiß, dass Gott existiert, bin ich bereit, mich gegen Ihn aufzulehnen, seine Verbote zu verletzen, so zu handeln, als existiere Er nicht!« Abgesehen von der Psychoanalyse (der freudschen, nicht der jungschen Deviation) war es vielleicht nur Heidegger, der in Sein und Zeit den konsequenten atheistischen Begriff der menschlichen Existenz entfaltete, die in einen kontingenten endlichen Horizont geworfen und deren ultimative Möglichkeit der Tod ist.

....

In einem seiner (unpublizierten) Seminare kommentiert Jacques-Alain Miller ein unheimliches Experiment mit Ratten: In einem labyrinthartigen Kasten wird ein begehrtes Objekt (Futter oder ein sexueller Partner) zunächst leicht zugänglich gemacht; dann ändert man die Anordnung so, dass die Ratte das begehrte Objekt sieht und daher weiß, wo es sich befindet, aber keinen Zugang dazu hat; statt dessen hat sie, als eine Art Trostpreis, Zugriff auf eine Reihe ähnlicher Objekte von untergeordnetem Wert – wie reagiert die Ratte hierauf? Eine Zeitlang versucht sie, sich den Weg zu dem »echten« Objekt zu bahnen; nachdem sie sich sicher ist, dass sich dieses definitiv außerhalb ihrer Reichweite befindet, wird die Ratte darauf verzichten und sich mit einigen der minderwertigen Ersatzobjekte begnügen. Kurzum, sie wird handeln wie ein »rationales« utilitaristisches Subjekt. Doch das eigentliche Experiment beginnt erst jetzt: Die Wissenschaftler unterziehen die Ratte einem chirurgischen Eingriff, wobei sie ihr Gehirn mit Hilfe von Laserstrahlen manipulieren und allerlei Dinge tun, über die man, wie Miller es dezent formuliert, besser den Mantel des Schweigens breitet. Was aber geschah, nachdem die operierte Ratte erneut in jenes Labyrinth gesetzt wurde, dessen Objekt unzugänglich ist? Die Ratte insistierte: Sie gab sich nie mit dem Verlust des »echten« Objekts zufrieden und begnügte sich mit dem minderwertigen Ersatz, sondern kehrte immer wieder zu dem begehrten Objekt zurück und versuchte dieses zu erreichen. Kurzum, die Ratte wurde gewissermaßen vermenschlicht, sie ging jene tragische »menschliche« Beziehung zu dem absoluten Objekt ein, das unser Begehren gerade wegen seiner Unerreichbarkeit für immer fesselt. (Miller geht es natürlich darum, dass diese Quasihumanisierung der Ratte das Ergebnis ihrer biologischen Verstümmelung ist: Die bedauernswerte Ratte begann sich hinsichtlich des Objekts ihrer Begierde von dem Moment an wie ein Mensch zu verhalten, als ihr Gehirn durch einen »unnatürlichen« chirurgischen Eingriff verkrüppelt worden war.) Andererseits ist es genau diese »konservative« Fixierung, die den Menschen zu ständiger Erneuerung treibt, da er diesen Exzess niemals vollständig in seinen Lebensprozess integrieren kann. Wir sehen nun, warum Freud den Begriff »Todestrieb« verwendete. Die Psychoanalyse lehrt uns, dass Menschen nicht nur einfach lebendig sind, sondern von einem eigenartigen Trieb besessen sind, das Leben über den normalen Lauf der Dinge hinaus zu genießen, und der Tod steht schlicht und einfach für jene Dimension, die über das »gewöhnliche« biologische Leben hinausgeht.

Slavoj Žižek


Sonntag, 8. Juni 2014

PFINGSTGOTT



Aus: Noch fünfzig Fabeln für Kinder
 
Pfingsten ist es: Kinder, hört,
Was uns dieser Tag bescheert.
Jesu Jünger, still verborgen,
Machten sich gar große Sorgen
Um der Menschen Haß und Spott;
Doch da hat der liebe Gott
Seinen Geist auf sie ergossen,
Daß sie nun gar unverdrossen,
Stark und frei sind ausgegangen,
Recht mit Eifer angefangen,
Viele Menschen treu belehrt
Und zum lieben Gott bekehrt.

Geist des Herrn, ich bitte dich,
Pfingsten ist's, komm auch auf mich;
Laß von nun an mich auf Erden
Einen Jünger Jesu werden;
Lehre mich und steh' mir bei,
Daß ich recht verständig sei,
Daß ich recht auf Gottes Werke
Und auf seinen Willen merke,
Recht mit Freuden ihn vollbringe,
Und mich keine Sünde zwinge.
Geist des Herrn, o mach' mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm'!
Wilhelm Hey 
  
Der Heilige Geist ist die dritte Person der Heilige Dreifaltigkeit, gemeinsam mit dem Vater und dem Sohn bildet er den dreifaltigen Gott, er ist selbst Gott. Kathpedia
Ganz oben: Taube aka der Heilige Geist aus dem Das Oratorium des San Francesco Saverio in Rom
 

Samstag, 7. Juni 2014

Bolle reiste jüngst zu Pfingsten



Heinrich Zille: Ringkampf in der Schaubude 1903

BOLLE REISTE JÜNGST ZU PFINGSTEN


Bolle reiste jüngst zu Pfingsten,
Nach Pankow war sein Ziel;
Da verlor er seinen Jüngsten
Janz plötzlich im Jewühl;
’Ne volle halbe Stunde
Hat er nach ihm jespürt.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
In Pankow jab’s keen Essen,
In Pankow jab’s keen Bier,
War allet uffjefressen
Von fremden Leuten hier.
Nich’ ma’ ’ne Butterstulle
Hat man ihm reserviert!
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Auf der Schönholzer Heide,
Da jab’s ’ne Keilerei,
Und Bolle, jar nich feige,
War mittenmang dabei,
Hat’s Messer rausjezogen
Und fünfe massakriert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Es fing schon an zu tagen,
Als er sein Heim erblickt.
Das Hemd war ohne Kragen,
Das Nasenbein zerknickt,
Das linke Auge fehlte,
Das rechte marmoriert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Als er nach Haus jekommen,
Da ging’s ihm aber schlecht,
Da hat ihn seine Olle
janz mörderisch verdrescht!
’Ne volle halbe Stunde
Hat sie auf ihm poliert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Und Bolle wollte sterben,
Er hat sich’s überlegt:
Er hat sich uff die Schienen
Der Kleinbahn druffjelegt;
Die Kleinbahn hat Verspätung,
Und vierzehn Tage druff,
Da fand man unsern Bolle
Als Dörrjemüse uff.
Heinrich Zille: Kutscher Bolle macht Feierabend