Sonntag, 22. September 2013

Asche klebt an unseren Füssen - Elena Chizova


Ein guter Artikel:
Neue Zuercher Zeitung
22. August 2013

Asche klebt an unseren Füssen

Russland wird noch heute von Leuten regiert, die aus den kalten Tiefen des Sowjetsystems kommen. Von Elena Chizhova


Am 19. August 1991 wurde in der Sowjetunion der Versuch eines Staatsstreichs unternommen. Zu den zauberhaften Klängen von «Schwanensee» warf man uns zurück in die sowjetische Vergangenheit. In der Nacht zum 20. August (niemand von uns war schlafen gegangen) meldete das Fernsehen: Panzer im Anmarsch auf Leningrad. In dem Augenblick betrat ich mit einem Tablett voller Teegeschirr den Raum. Mir zitterten die Hände, Tassen und Untertassen flogen auf den Boden. Ich kroch auf den Knien herum und sammelte die Scherben auf. Und in dieser Position vernahm ich: Um zehn Uhr morgens würde auf dem Schlossplatz eine Kundgebung stattfinden. Während ich wieder aufstand, fasste ich einen Entschluss: Ich muss da hin. Damals war ich im dritten Monat schwanger. Heute ist meine Tochter stolz darauf, dass sie ebenfalls teilgenommen hat an dieser Protestkundgebung, als einhunderttausend Menschen auf den zentralen Platz der Fünfmillionenstadt strömten.

Die Vergangenheit ruhen lassen?

Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre wurden Hunderte Bücher und Aufsätze publiziert, die das menschenverachtende Wesen des Systems enthüllten. Artikel 6 der Verfassung, in dem die uneingeschränkte Macht der KPdSU und ihrer Ideologie festgeschrieben war, wurde für gesetzwidrig erklärt. Sämtliche Träume der Intelligenzia schienen sich zu verwirklichen. In den neunziger Jahren debattierte man über die Sowjetunion wie über etwas längst Vergangenes. Die Stimmen ihrer Apologeten liess man als Tribut an den Pluralismus gewähren: In einem freien Land hat jeder Mensch das Recht, seinen Standpunkt zu äussern. Es gab im Übrigen auch Stimmen, die eine offene und öffentliche Gerichtsverhandlung gegen die KPdSU forderten, ähnlich den Nürnberger Prozessen. Diese Idee fand keine breite Unterstützung, vielmehr setzte sich ein anderer Gedanke durch: Man soll die Vergangenheit ruhen lassen, schliesslich hat die Geschichte ihr Urteil bereits gefällt. Unsere Aufgabe war eine andere - einen Bogen um diesen Haufen Staub zu machen.

Zu Beginn der 2000er Jahre aber zeigte sich, dass die Asche, die nach Jahrhunderten der Sklaverei und Jahrzehnten des Terrors zurückgeblieben war, an den Füssen haftete. Unter dem einlullenden Gerede darüber, dass ein Rückfall in die sowjetische Vergangenheit unmöglich sei, kamen Leute an die Macht, die in den Tiefen des Systems erzogen worden waren. Für sie ist die Geschichte des Landes nicht das Feld einer historischen Schlacht von Lüge und Wahrheit, sondern eine Geheimdienstoperation mit dem Ziel, die Macht zu bewahren und das Privateigentum zu mehren. Im Unterschied zu ihren Vorgängern, den Mitgliedern der August-Junta, zittern ihnen nicht die Hände und läuft ihnen nicht die Nase. Das KGB, ihre Alma Mater, hat ihnen effizientes Handeln beigebracht. Schritt für Schritt ist es ihnen gelungen, vieles von dem, was die Geschichte, so schien es, für immer verworfen hatte, zu restituieren: Zensur im Fernsehen, unehrliche Wahlen, die absolute Vorherrschaft einer einzigen politischen Partei.

Und nun, da sie glauben, die Gegenwart im Griff zu haben, nehmen sich die jetzigen Machthaber die Geschichte vor, und zwar zuallererst die ideologische Beeinflussung der Kinder. Ihre Pläne beziehen auch diejenigen ein, die noch nicht geboren sind: Schliesslich werden sie nach dem neuen Einheits-Lehrbuch für Geschichte lernen müssen - eine Idee, die Putin persönlich geäussert hat. Aus meiner Sicht ist das eines der gefährlichsten Projekte des Kremls. Unter dem leeren Geschwätz davon, man werde die besten Historiker als Mitverfasser beiziehen, erblickt ein halbsowjetischer Wechselbalg das Licht der Welt, der die Sowjetunion in einer einzigen Gestalt erscheinen lässt: die Grossmacht, die im Zweiten Weltkrieg gesiegt und Gagarin in den Kosmos geschickt hat. Über alles andere, namentlich über die Massenrepressionen der Stalinzeit, wird es vorsichtig heissen: Es gab Auswüchse, aber keine besonders schlimmen . . .

Vergleicht man mit den Lehrbüchern meiner Generation, ist das schon ein gewaltiger Schritt nach vorn. Im Unterschied zu den künftigen russischen Schülern sind wir in einem historischen Vakuum aufgewachsen. Unsere Eltern redeten mit uns nicht über die sowjetische Vergangenheit. Dieses Thema war tabu. Aus Furcht vor unseren geschwätzigen Zungen behielten die Familien ihre Erinnerungen, ihre Gedanken und Ängste für sich. Mein Vater hat sich nur ein einziges Mal «verplappert», 1980. Damals lag er nach einer schweren Operation auf der Intensivstation. Als ich zu ihm kam, war er noch unter dem Einfluss der Narkose. Nachdem er die Augen aufgeschlagen und mich erkannt hatte (er nannte mich beim Namen), versuchte er sofort, seine Benommenheit zu überwinden, und befahl mir plötzlich: «Stell dich an die Tür. Berija hat seine Leute schon losgeschickt. Lass niemanden rein.» Ich sagte: «Keine Angst, ich stelle mich gleich an die Tür. Sie kommen nicht rein. Ich lasse niemanden durch.» Er nickte: «Gut.» Er glaubte mir und schlief wieder ein.

Die Schrecken der sowjetischen Geschichte entdeckten wir selbst. Manchmal, wie in meinem Fall, mithilfe der Lehrer. Es gab nicht viele, aber es gab sie - Lehrer, die dem sowjetischen Einheits-Lehrbuch zu widersprechen wagten, wenn auch natürlich nicht während des Unterrichts. Ich bin überzeugt, solche Lehrer finden sich auch heute. Allerdings haben dieses Glück nicht alle Kinder. Viele müssen sich auf sich selbst verlassen.

Die Angst in den Augen

Natürlich skizziere ich hier das schlimmste Szenario, an dessen Erfolg ich, ehrlich gesagt, nicht glaube. Man kann den Geist der Freiheit, der Ende aus der Flasche entwich, nicht mehr zurücktreiben. Das wissen auch die heutigen Machthaber. Nicht von ungefähr stand im Herbst und Winter 2011, als Tausende Bürger aus Empörung über die Wahlfälschungen bei den Duma-Wahlen auf die Strasse gingen, in ihren kalten, metallgrauen Augen die ANGST. Nicht die Angst, die meinen Vater und Millionen seiner und meiner Mitbürger gequält hatte. Ihre tief in den Genen steckende Angst war eine Erinnerung an die Repressionen; diese hier war das Gespenst eines unrühmlichen Endes.

Die Tatsache, dass viele Menschen der älteren und mittleren Generation der sowjetischen Vergangenheit und einer «starken Hand» nachtrauern, ist leicht zu erklären. Die alles durchdringende Korruption, die das heutige Regierungssystem zusammenhält, die bestechlichen Gerichte, die ungeheure Diskrepanz zwischen den Reichsten und den Ärmsten - kaum jemand begreift, dass die Wurzeln dieser «Pflänzchen» in die sowjetische Vergangenheit oder sogar noch weiter zurückreichen. Aber auch junge Menschen empfinden Nostalgie nach der Sowjetunion. Natürlich bei weitem nicht alle. Manche spüren die Anzeichen einer zunehmenden Sowjetisierung und ziehen es vor, in den Westen auszureisen; andere entschliessen sich in der Hoffnung auf bessere Zeiten zum Bleiben, und es bedrückt mich, wenn ich daran denke, dass manche dieser Kinder auf der Anklagebank sitzen werden, auf der Chodorkowski und Lebedew ebenso sassen wie die jungen Frauen von Pussy Riot.

Wieder andere (glaubt man den Umfragen, sind es ziemlich viele) spielen, begleitet vom Gemunkel der Grosseltern, die von den sowjetischen Greueln aus unterschiedlichen Gründen nicht betroffen waren, ein Computerspiel mit dem Titel «Das Leben in der Sowjetunion». In diesem virtuellen Raum, den sie für die sowjetische Vergangenheit halten, herrscht «Freundschaft unter den Völkern», hier floriert «die Fürsorge der Partei für den einfachen Menschen». Grosse Bücher werden geschrieben und bedeutende Filme gedreht. In dem Spiel gibt es nicht die Option herauszufinden, um welchen Preis das geschieht. Es gibt keine leeren Ladentische, keinen Eisernen Vorhang, keine stumpfsinnigen Parteiversammlungen, keine Denunzianten, keine Verzweiflung und keine Machtlosigkeit angesichts dessen, dass dein Leben offenkundig schon gelaufen ist - alle wichtigen Entscheidungen treffen diejenigen für dich, deren sorgfältig retuschierte Gesichter von den Feiertags-Plakaten herunterblicken. Die heutigen Herrscher stammen von ihnen ab. Sie, die Mitglieder der «inneren Partei» (wenn man an Orwell denkt), empfinden zivilen Dissens als persönliche Beleidigung und unternehmen alles Mögliche, um zu einer Vergangenheit zurückzukehren, wo man diejenigen, die nicht einverstanden waren, an einer Hand abzählen konnte: Sie reanimieren die alten sowjetischen Mythen, sie kokettieren mit dem «einfachen Volk» und hetzen es gegen die Intelligenzia auf, sie manipulieren Wahlergebnisse, sie tauschen die Plätze wie in einer billigen Jahrmarktsposse.

Mir scheint, ich kann ihre Gedanken lesen, schliesslich sind sie mehrheitlich in meinem Alter. Wir sind im selben Land aufgewachsen. Freilich sind sie im Gegensatz zu denjenigen, die 1991 auf die Strasse gingen, die perfekte Verkörperung des Typus Sowjetmensch, wie er sich zum Ende der Breschnew-Ära herausgebildet hatte. Ihr Bewusstsein ist deformiert von der sowjetischen Ideologie, die zum Katzbuckeln und zur Lüge nötigte. Wenn ich ihre Reden höre, frage ich mich nie, ob sie die Wahrheit sagen. Sogar wenn sie die Wahrheit sagen, lügen sie - in den neunziger Jahren, als sie die sowjetische Vergangenheit «aufrichtig» anprangerten, ebenso wie heute, wenn sie der Grösse dieser Vergangenheit Hosianna singen und unsere Kinder verführen. Sie haben keine Ideale, keine unverbrüchlichen Werte - weder «westliche» noch «östliche». Aber sie haben pragmatische Ziele.

Ich sage meiner Tochter: Schau genau hin, es ist ganz einfach. Es scheint nur so, als trügen sie westliche Designermode. In Wirklichkeit haben sie ihre durchtrainierten Körper in Anzüge aus der Fabrik «Bolshevichka» gekleidet. Es scheint nur so, als dufteten sie nach teurem Parfum. In Wirklichkeit riechen sie nach sowjetischer Pestilenz - da bleibt nur noch, sich die Nase zuzuhalten. Es scheint nur so, als benutzten sie iPhones und iPads - sie und ihre Anhänger (die Mehrheit der Bevölkerung, die «dafür» stimmt) leben im sowjetischen Mittelalter, und da gibt es keine Gadgets.

Wir, die Minderheit, die «dagegen» stimmt, haben eine historische Niederlage erlitten - das höre ich in der letzten Zeit immer häufiger. Blickt man zurück auf die neunziger Jahre, muss man zugeben, dass diese Worte ein Körnchen Wahrheit enthalten: Im Unterschied zu den heutigen russischen Machthabern waren wir «ineffiziente Manager» - in der Euphorie der Freiheit, die über uns hereingebrochen war, stiessen wir keinen Espenpfahl in den sowjetischen Sarg. Heute verstehe ich, dass ein Land, in dem, wie man bei uns sagt, «die eine Hälfte gesessen und die andere sie eingesperrt hat», dafür weit mehr Zeit benötigt als fünfundzwanzig relativ demokratische Jahre.

Es mag anmassend klingen, aber wenn ich am Schreibtisch sitze, scheint mir zuweilen, ich würde von neuem auf dem Platz stehen und meine Kinder verteidigen. Aber mir tun auch die anderen leid - diejenigen, die an eine «sowjetische Zukunft» glauben. Wenn ihnen diese Pestilenz schon nicht erspart bleibt, so hoffe ich zumindest, dass sie nicht die schwerste Form von Sowjetnostalgie durchmachen müssen.


Elena Chizhova, 1957 geboren, lebt als Schriftstellerin in St. Petersburg. Sie ist Direktorin des Petersburger PEN. Ihre bisher acht Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, 2009 erhielt sie den angesehenen russischen Booker-Preis für ihren Roman «Die stille Macht der Frauen» (dtv 2012). - Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.

Samstag, 21. September 2013

Die Theaterwohnung 3 - Dank an Heinrich Böll


Grad vor zwei Tagen, am Vorabend meines 55. Geburtstages, stehe ich gegen 21 Uhr im Souterrain eines typischen Bremer Hauses - alle Zimmer sind frisch und fröhlich renoviert, nur dieser Keller wurde  noch nicht erreicht, aber bereits vermietet - an mich. 
Obwohl schon weiß gestrichen, gibt es bisher nur Licht aus einer einsamen Wandlampe, an der gegenüberliegenden Wand ragen ziellos Kabel aus der Wand, eine weitere Leuchte bleibt desinteressiert dunkel. Kacheln sind schon ausgelegt, aber noch nicht angeklebt, die Fußbodenleisten harren ihrer baldigen Anbringung. Das Mobiliar besteht aus einem grünen Teppich, einem ebenso grünen Stuhl, einem halbfertigen Regal und einem Doppelbett, dieses allerdings liebevoll bezogen. IKEA - du weltumspannende Zauberfee. Das Fenster, zimmerbreit und wandhoch, schaut auf etwas, dass im nächsten Jahr, wenn die Bauarbeiten beendet sein werden, ein wunderschöner Garten wird. 
Und da stehe ich, beinahe ein halbes Jahrhundert plus fünf Jahre alt und bleibe ruhig und weine nicht. Dies wird meine Bleibe für die nächsten zwei Monate sein. 
Meine Fragen beantwortet die ganz zauberhafte und sehr junge Vermieterin mit einem vorsichtigen "Vielleicht sind Ihre Ansprüchen zu ...?". Und, weil ich ziemlich alt und entspannt und, mich selbst überraschend, humorvoll bin, antworte ich: "Nein, ich glaube, dass ist nicht wirklich das Problem." Ist das Zen, oder was? Übrigens, das versprochenen Internet funktioniert auch nicht.
Nun ist es drei Tage später und die Welt, oder zumindest meine Theaterwohnung schon viel bewohnbarer. Ich bin, dank einiger hilfreicher Kollegen, dankbare Besitzerin eines Tisches, einer Arbeits- und auch einer Nachttischlampe, das Internet funktioniert, und alles andere wird schon. Budjet, budjet, wie die Kollegen aus der lang untergegangenen UdSSR immer zu sagen pflegten. Und in meiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt es einen preiswürdigen Käseladen und ein sehr gutes Fischgeschäft, und Bremen hat überhaupt mehrere Kinos und einige nicht-rauchfreie Kneipen und heute früh war der Himmel über dem zerrauften zukünftigen Garten zartrosa. UND, ja das UND macht die Sache rUND, die Proben haben ganz wunderbar begonnen. Ich schaue in wache, kritische und lustige Augen und die harterschwitzte Strichfassung der überwältigenden 200 000 Seiten Shakespeare trifft auf Interesse und Zustimmung.
What the fuck could I be complaining about?
Und ich erinnere mich plötzlich, dass ich vor vielen Jahren, irgendwann in der mittleren Pubertät, als ich praktisch alles Erreichbare von Heinrich Böll gelesen habe, mir eine kleine Bemerkung über das irische Sprichwort "Es hätte noch schlimmer kommen können" - "It could have been worse", tiefen Eindruck gemacht hat.

Aus dem IRISCHEN TAGEBUCH von Heinrich Böll

Passiert einem in Deutschland etwas, versäumt man den Zug, bricht man ein Bein, macht man Pleite, so sagen wir: Schlimmer hätte es nicht kommen können; immer ist das, was passiert, gleich das Schlimmste – bei den Iren ist es fast umgekehrt: bricht man hier ein Bein, versäumt man den Zug, macht man Pleite, so sagen sie: It could be worse – es könnte schlimmer sein: man hätte statt des Beines den Hals brechen, statt des Zuges den Himmel versäumen und statt Pleite zu machen, hätte man seinen Seelenfrieden verlieren können, wozu bei einer Pleite durchaus kein Anlaß ist. Was passiert, ist nie das Schlimmste, sondern das Schlimmere ist nie passiert: stirbt einem die geliebte und hochverehrte Großmutter, so hätte ja auch noch der geliebte und hochverehrte Großvater sterben können; brennt der Hof ab, die Hühner werden aber gerettet, so hätten ja auch noch die Hühner verbrennen können, und verbrennen sie gar: nun – das Schlimmere: daß man selbst gestorben wäre, ist ja nicht passiert. Stirbt man gar, nun, so ist man aller Sorgen ledig, denn jedem reuigen Sünder steht der Himmel offen, das Ziel mühseliger irdischer Pilgerschaft – nach gebrochenen Beinen, versäumten Zügen, lebend überstandenen Pleiten verschiedener Art.

 Unten

 Oben

Dienstag, 17. September 2013

Engelknaben



ENGELKNABEN

LORENZO DI CREDI
Lorenzo di Andrea d'Oderigo
 * 1459 in Florenz 
† 12. Januar 1537 in Florenz


Knabe mit Kappe ca. 1480



Um die vielen Madonnen sind
viele ewige Engelknaben,
die Verheißung und Heimat haben
in dem Garten, wo Gott beginnt.
Und sie ragen alle nach Rang,
und sie tragen die goldenen Geigen,
und die Schönsten dürfen nie schweigen:
ihre Seelen sind aus Gesang.
Immer wieder müssen sie
klingen alle die dunklen Chorale,
die sie klangen vieltausend Male:
Gott stieg nieder aus Seinem Strahle
und du warst die schönste Schale
Seiner Sehnsucht, Madonna Marie. 


Aber oft in der Dämmerung
wird die Mutter müder und müder,-
und dann flüstern die Engelbrüder,
und sie jubeln sie wieder jung.
Und sie winken mit den weißen
Flügeln festlich im Hallenhofe,
und sie heben aus den heißen
Herzen höher die eine Strophe:
Alle, die in Schönheit gehn,
werden in Schönheit auferstehn. 

Rainer Maria Rilke 
Aus den Engelliedern


Knabe mit Lorbeerkranz


Faltenstudie

Bildnis eines jungen Mannes


Punchdrunk - The Drowning Man - In English, außer am Ende


Imagine an old film studio, four floors filled with, as the warnings called it, "theatrical haze and strobe (and rather dim) lighting".

Paddington Station at night, drunkards, travellers and Londoners on a Saturday-night-out. I wait at the entrance of a building that looks like a branch of the London fire-department in my hand a short and cryptic storyline printed on a tiny piece of paper and when I am finally allowed to enter a deep male voice from a hidden loudspeaker tells me to be silent throughout the whole show and I receive a white Scream-like mask to be worn at all times. (Slight problem: I am wearing glasses! Which means I can either read or watch, an age thing, and the mask tends to sit askew on my nose.) After a short voyage in an old escalator I wander, all on my own, through a maze of rooms, furnished with loving detail and slightly dusty, sometimes meeting other white-masked people, all of us trying to find a solution, an understanding, a story. It is a very physical experience, slightly eerie, irritating and full of suspense. Two dancers suddenly appear and get into a precisely organized fight. One runs off, the audience, including me, runs after him, he vanishes through a door, we follow, behind the door a labyrinth of black curtains, we lose sight of the actor, suddenly a searching hand touches my shoulder, I cry out, Ups! a sound. I grope the walls, find a door, behind it another strange room, perfectly furnished, sometimes with somebody unmasked, in it, which means he/she is part of the story, doing something more or less incomprehensible. Sudden illuminating of a place directs me toward a far corner of a seemingly endless space, a dance takes place, the light goes, the dance ends, I move on.

The story of the Drowning Man is loosely based on Woyzeck. Here and there I find hints. The anatomy of the cat. Hundreds of prescriptions for employees of the film studio signed by a mysterious doctor, sorry, I forgot to mention, that the whole story takes place in a film studio of the Sixties by the name of Temple Pictures.
So far so good.
But, yes very much but: Somebody else already found the perfect words: ‘The Drowned Man’ is like watching a blue whale glide by an inch from your face, simply too big to take in. Andrzej Lukowski
I left after two hours of the possible three, feeling slightly underwhelmed. So much atmosphere, fog, darkness, neverending music and electric sounds forcing my emotions into different directions, but where? Indefiniteness in itself is not a quality.
I loved to be surprised, to be misled, to be helpless, I liked to be the active, reactive member in the show, but at some point the mystery has to invite me in. 
For more than 10 minutes I watched an actor undressing and then dressing again into a woman, all the while he ignored me sitting not more than a meter away from him. When, at last, he allowed me to close the zipper of his dress I felt much better.

 Another member of the audience wearing glasses

Etwas, das mir immer öfter passiert, während ich Zuschauer bin, die Frage entsteht, warum? Rausch wäre erhofft. Klärung wäre erwünscht. Erfahrung wird begehrt. Aber, das verflixte Aber, lasst mich nicht allein, interessiert euch für mich. Ermöglicht meine Teilnahme.


punch-drunk

1. Showing signs of brain damage caused by repeated blows to the head.
2. Behaving in a bewildered, confused, or dazed manner.




Freitag, 13. September 2013

Der Süsse Brei - Grimm


PORRIDGE - HAFERFLOCKENBREI

Ein Rezept von Jamie Oliver!

Zutaten

• 200g Haferflocken
• 750ml Milch, Sojamilch oder Wasser
• Meersalz


Die Haferflocken und die Milch oder das Wasser in einen Topf tun und mit 
einer Prise Salz auf mittlerer Hitze aufkochen lassen.
Dann für 5 bis 6 Minuten köcheln lassen und möglichst oft umrühren, um ein 
cremiges, glattes Porridge zu erreichen.
Währenddessen auch die zusätzlichen Zutaten vorbereiten.
Diese 1 oder 2 Minuten bevor das Porridge fertig ist, dazugeben.


Blaubeeren und Apfel
- 2 Äpfel
- ein großer Knubbel Butter
- eine Handvoll Haferflocken
- mindestens ein Teelöffel Honig
- 2 Hände frische oder gefrorene Blaubeeren

Banane und Zimt

- 2 reife Bananen
- eine kleine Handvoll Mandelsplitter oder Kokosraspeln
- 1/2 Esslöffel Zimt
- 2 bis 4 Esslöffel Mohn
- 2-4 Esslöffel Ahornsirup oder Honig, je nach Geschmack



Ich mag Porridge am liebsten mit brauner Butter und braunem Zucker drüber!



Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wusste seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: "Töpfchen, koche," so kochte es guten, süssen Hirsebrei, und wenn es sagte: "Töpfchen, steh," so hörte es wieder auf zu kochen.

Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und assen süssen Brei, sooft sie wollten.

Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: "Töpfchen, koche,
" da kocht es, und sie isst sich satt; nun will sie, dass das Töpfchen wieder aufhören soll, 
aber sie weiss das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand 
hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus 
und dann die Strasse, als wollt's die ganze Welt satt machen, und ist die grösste Not, 
und kein Mensch weiss sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig 
ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: "Töpfchen, steh," da steht es und hört auf 
zu kochen, und wer wieder in die Stadt wollte, der musste sich durchessen.

Donnerstag, 12. September 2013

Büchner - Immerzu - 1-2-3

Der Dreivierteltakt. Walzerseligkeit, Wiener Hofball, doch einst, im 18. Jahrhundert, gewagter nahezu sexueller, ergo unzüchtiger Körperkontakt mit musikalischer Untermalung, die Hand auf der nackten Schulter oder am unteren Rückgrat, die andere leicht in die des Partners verschlungen. Und im Woyzeck: Immerzu - Im - mer - zu - 1 - 2 - 3 - man kann es förmlich hören, wenn Woyzeck seiner Liebsten beim Tanz mit dem Anderen zusieht, noch in dieser Welt, fast schon in der anderen, immerzu, immerzu, 1-2-3,1-2-3. Wilder Tanz, tödlicher Tanz, 1-2-3. Manchmal schlägt das Herz 1-2-3.
IM - MER - ZU.
Wiki sagt: Der Walzer ist ein Musikstück im 3/4-Takt, in Lateinamerika auch im 6/8-Takt. Der Name wurde von der Tanzfigur „Walzen“ abgeleitet, was „Drehen“ bedeutet. Während das ebenfalls im Dreiertakt stehende Menuett einen barocken regelmäßigen Puls aufweist, sind die Gewichte im Walzertakt ungleich verteilt, und der Bass spielt in der Regel nur auf dem ersten Schlag. Während das Menuett den Eindruck des Schreitens wiedergibt, vermittelt der Walzer den des Schwingens.
immerzu, adv. das durch zu verstärkte immer, bis auf heute noch oft getrennt gesetzt; sonst auch zu bloszem immerz verkürzt (Grimm)


Aus Woyzeck von Georg Büchner: 

Wirtshaus

Woyzeck: Er! Sie! Teufel!
Marie im Vorbeitanzen: Immer zu, immer zu –
Woyzeck erstickt: Immer zu – immer zu! – Fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank: Immer zu, immer zu! – Schlägt die Hände ineinander: Dreht euch. wälzt euch! Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, daß alles in Unzucht sich übereinanderwälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh?! Tut's am hellen Tag, tut's einem auf den Händen wie die Mücken! – Weib! Das Weib is heiß, heiß! – Immer zu, immer zu! – Fährt auf: Der Kerl, wie er an ihr herum greift, an ihrem Leib! Er, er hat sie – wie ich zu Anfang. – Er sinkt betäubt zusammen.


Eadweard Muybridge Zwei Frauen Walzer tanzend

....
Woyzeck: Immer zu! Immer zu! Hisch, hasch! So gehn die Geigen und die Pfeifen. – Immer zu Immer zu! – Still, Musik! Was spricht da unten? – Reckt sich gegen den Boden: Ha, was, was sagt ihr? Lauter! Lauter! Stich, stich die Zickwolfin tot? – Stich, stich die Zickwolfin tot! – Soll ich! Muß ich? Hör' ich's da auch? – Sagt's der Wind auch? – Hör' ich's immer, immer zu: stich tot, tot!

Walzer, m.
1) als nomen agentis in der allgemeinsten bedeutung 'einer der sich hin und her dreht (Grimms Wörterbuch)


Ein Zimmer in der Kaserne

Nacht. Andres und Woyzeck in einem Bett.
Woyzeck leise: Andres!
Andres murmelt im Schlaf.
Woyzeck schüttelt Andres: He, Andres! Andres!
Andres: Na was is?
Woyzeck: Ich kann nit schlafen! Wenn ich die Aug zumach', dreht sich's immer, und ich hör' die Geigen, immer zu, immer zu. Und dann spricht's aus der Wand. Hörst du nix?
Andres: Ja – laß sie tanze! Einer is müd, und dann Gott behüt uns, amen.
Woyzeck: Es redt immer: stich! stich! und zieht mir zwischen den Augen wie ein Messer –
Andres: Schlaf, Narr! – Er schläft wieder ein.
Woyzeck: Immer zu! Immer zu!


http://beingsakin.wordpress.com/2011/03/26/if-you-dance-with-me/



Dienstag, 10. September 2013

Edgar Allan Poe - Nevermore - Nimmermehr


NEVERMORE - NIMMERMEHR - NIMMER, NIMMER, NIMMER

 
nimmermehr, adv. verneintes immermehr, ein durch nochmaliges mehr verstärktes nimmer, um dadurch den tonlos gewordenen und nicht mehr gefühlten zweiten theil desselben nimmer zu ersetzen. (Grimm)


Der Rabe, weise und diebisch, Pest- und Galgenvogel, Götterbegleiter Odins und Bote schlimmer Mär.
Der Rabe, im Original: The Raven wurde von Edgar Allan Poe 1845 während seiner Zeit in New York veröffentlicht. Seine sehr junge Frau, gleichzeitig auch seine Cousine, war schwer krank, er verdiente wenig und trank gelegentlich viel.
Depression in kunstvollster Poesie, die Illustrationen sind von Gustave Dore:

Der Rabe
E.A.Poe 

1845 

Übersetzt von Manfred Uhlig und Ole Törner

Als um Mitternacht ermüdet ich das düstre Haus gehütet 
Über manchem Buch voll Weisheit, alter, fast vergess'ner Lehr, 
Als ich schon mehr schlief als wachte, war mir, eh' ich's noch bedachte, 
So, als klopfte jemand sachte, sachte an die Zimmertür. 
"Irgend ein Besucher", murrt ich, "klopft an meine Zimmertür, 
Das wird's sein, nichts weiter mehr.

"Ach, im Flammenschein der roten Kohlen tanzten Unglücksboten 
Aus dem kalten Land der Toten, im Dezember, öd und leer. 
Und wie ungeduldig sehnte ich mich nach dem Tag, als fände 
Mit ihm meine Qual ein Ende um Lenor, die weit von hier, 
Um Lenor, das Mädchen, das nun Engel preisen, weit von hier.
Ungenannter Name hier nunmehr.


Schreckensbilder ließ mich sehen eines Purpurvorhangs Wehen, 
Es umhüllte und erfüllte mich mit Furcht wie keines je vorher. 
Und um meines Herzens Schläge abzuschwächen, sprach ich träge: 
"Nur ein Fremder, der vom Wege abkam, steht an meiner Tür, 
Nur ein später Gast sucht dringend Einlaß hier an meiner Tür.
Das ist alles, sonst nichts mehr." 


Und sogleich verging mein Zagen, und ich hört' mich plötzlich sagen: 
"Wer's auch sei, Herr oder Dame, um Vergebung bitt' ich sehr, 
Denn Ihr Klopfen war so sachte, daß ich kaum davon erwachte 
Und an alles andre dachte als daran, daß an die Tür 
Ein Besucher klopfen könnte. Und ich öffnete die Tür: 
Dunkel dort, nichts weiter mehr.


Und in dieses Dunkel spähend, stand ich, angstvoll um mich sehend, 
Zweifelnd, Träume träumend, wie sie noch kein Mensch geträumt bisher. 
Ungebrochen war das Schweigen, und die Stille gab kein Zeichen, 
Nur ein Wort ließ mich erbleichen, das geflüstert drang zu mir, 
Dieses Wort Lenore, das selber ich gesprochen, raunte mir
Jetzt ein Echo zu, nichts mehr. 
 

Als ich mich ins Zimmer wandte und in mir die Seele brannte, 
Hörte ich erneut das Pochen, etwas lauter als vorher. 
"Sicher, sagt ich qualbeladen, etwas mit dem Fensterladen, 
Will doch seh'n, ob ohne Schaden das Geheimnis ich mir klär', 
Schweig, mein Herz, daß ohne Schaden das Geheimnis ich mir klär'"
's ist der Wind, nichts weiter mehr." 


Auf warf ich den Fensterladen; flatternd und mit Flügelschlagen 
Trat ein Rabe ein, als ob er aus den Tagen Noahs wär. 
Und nicht einen Diener macht' er, nicht an eine Pause dacht' er, 
Stolz setzt' er sich wie ein Pachtherr über meine Zimmertür. 
Setzt' sich auf die Pallas-Büste über meiner Zimmertür. 
Saß dort und nichts weiter mehr. 


Doch das schwarze Tier verführte, weil es sich so eitel zierte, 
Meine Kümmernis zum Lächeln, und ich sagte ungefähr: 
"Ist dein Helmbusch auch geschoren, scheinst du doch als Held geboren, 
Von der Düsternis erkoren, flogst Du weit vom Nachtland her, 
Sag, welch ist dein edler Name von des Pluto Nachtland her?"
Sprach der Rabe: "Nimmermehr." 


Und mein Staunen war unendlich, denn das Tier, es sprach verständlich, 
Schien die Antwort auch ein wenig dunkel und etwas verquer; 
Denn wir müssen eingestehen, daß kein Lebender gesehen 
Je solchen Vogel spähen oben von der Zimmertür, 
Einen Vogel von der Büste über seiner Zimmertür, 
Der sich nannte "Nimmermehr". 


Doch der Rabe, wie erhoben auf der Büste sitzend oben, 
Sprach aus tiefster Seele dieses eine Wort bedeutungsschwer. 
Und kein andres gab er von sich, seine Federn unbeweglich, 
Da, kaum hörbar, sprach ich kläglich: "Gleich den andern wird auch er 
Mich verlassen, so wie meine Hoffnung schwindet, geht auch er."
Sprach der Rabe: "Nimmermehr." 


Als das Schweigen war gebrochen, weil so trefflich er gesprochen, 
Sagte ich zu mir erschrocken: "Zweifellos, dies Wort ist der 
Letzte Rest, der ihm geblieben von dem Herrn, der's einzuüben 
Niemals müde ward, getrieben von des Unglücks Wiederkehr, 
Der all seine Grabgesänge schloß in steter Wiederkehr 
Mit dem "Niemals-Nimmermehr". 


Doch der Vogel führte weiter aus der Trauer mich, fast heiter 
Rollte ich mir einen Sessel stracks zur Tür, dorthin, wo er 
Hockte, und ich ließ mich nieder und vertraut mich dem Gebieter 
Phantasie an, um darüber nachzudenken, was das Tier, 
Was das schwarze ungeschickte, uralt-ominöse Tier
Wohl gemeint mit "Nimmermehr". 


Dieses zu erraten saß ich, doch mit keiner Silbe maß ich 
Diesen Vogel, dessen Augen mich durchdrangen wie ein Speer; 
Dies und mehr noch wollt' ich wissen, dabei lehnt' ich mich auf's Kissen, 
Dessen Samt im ungewissen Schein der Lampe glänzte schwer, 
Aber, ach, den violetten Samt im Schein der Lampe schwer
Wird sie drücken nimmermehr!


Dann, so schien es mir, als schwenkte jemand Weihrauch, dabei lenkte 
Klingelnd ein Seraph die Schritte durch das Zimmer kreuz und quer. 
"Ärmster", rief ich, "dein Gott sendet einen Engel dir und spendet 
Linderung, und er beendet um Lenor die Qualen schwer, 
Trink dies gütige Nephentes und vergiß die Qualen schwer!"
Sprach der Rabe: "Nimmermehr." 


Und ich sprach: "Prophet des Teufels, Kreatur des bösen Zweifels, 
Ob ein Sturm dich hierher sandte oder dich der Luzifer 
Hier in diesem Haus voll Schrecken hat geheißen, mich zu wecken, 
Um sein Urteil zu vollstrecken - ich beschwör dich, sag es mir, 
Wird man mich in Gilead trösten, ich beschwr dich, sag es mir!"
Sprach der Rabe: "Nimmermehr." 


"Ob du Vogel oder Teufel", sagte ich, "nimm mir die Zweifel, 
 Bei dem Himmel, der sich über uns erhebt, bei Gottes Ehr', 
Sag der Seele, ob zu Eden sie dereinst noch wird genesen, 
Wenn ich küß' das keusche Wesen, ob Lenor mir wiederkehr - 
Daß das wunderbare Wesen, daß Lenor mir wiederkehr!" 
Sprach der Rabe: "Nimmermehr." 


"Vogel, Teufel!", schrie ich bleichen Angesichts, "dies Wort als Zeichen 
Unsrer Trennung! Scher dich wieder in die Nacht, flieh übers Meer! 
Laß als Lügenzeugnis keine Feder hier! Stör mir nicht meine Einsamkeit! 
Und nie erscheine wieder über meiner Tür!" 
Aus dem Herz mir nimm den Schnabel und entfern' dich von der Tür!"
Sprach der Rabe: "Nimmermehr." 


Und der Rabe, unbeweglich, sitzt noch täglich, sitzt alltäglich 
Auf der bleichen Pallas-Büste über meiner Zimmertür; 
Und in seinen Augen wohnen alle Träume von Dämonen, 
Seinen Schatten wie geronnen wirft die Lampe schwarz und schwer 
Auf den Boden; doch erheben wird sich aus dem Schatten schwer
Meine Seele nimmermehr. 



ODER übersetzt von Lachmann, Vorname unbekannt:

Eines Nachts aus gelben Blättern mit verblichnen Runenlettern
Tote Mähren suchend, sammelnd, von des Zeitenmeers Gestaden,
Müde in die Zeilen blickend und zuletzt im Schlafe nickend,
Hört’ ich plötzlich leise klopfen, leise doch vernehmlich klopfen
Und fuhr auf erschrocken stammelnd: „Einer von den Kameraden,“
                    „Einer von den Kameraden!“


In dem letzten Mond des Jahres, um die zwölfte Stunde war es,
Und ein wunderlich Rumoren klang mir fort und fort im Ohre,
Sehnlichst harrte ich des Tages, jedes neuen Glockenschlages,
In das Buch vor mir versenken wollt’ ich all mein trüb’ Gedenken,
Meine Träume von Lenoren, meinen Schmerz um Leonore,
                    Um die tote Leonore.


Seltsame, phantastisch wilde, unerklärliche Gebilde,
Schwarz und dicht gleich undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden

Huschten aus den Zimmerecken, füllten mich mit tausend Schrecken,
So daß ich nun bleich und schlotternd, immer wieder angstvoll stotternd,
Murmelte, mich zu beschwicht’gen: „Einer von den Kameraden,“
                    „Einer von den Kameraden!“


Alsbald aber mich ermannend, fragt’ ich jede Scheu verbannend,
Wen der Weg noch zu mir führe: Mit wem habe ich die Ehre,
Hub ich an weltmännisch höflich, Sie verzeihen, ich bin sträflich,
Daß ich Sie nicht gleich vernommen, seien Sie mir hochwillkommen,
Hiemit öffnet’ ich die Thüre – nichts als schaudervolle Leere,
                    Schwarze, schaudervolle Leere.


Lang in dieses Dunkel starrend, stand ich fürchtend, stand ich harrend,
Fürchtend, harrend, zweifelnd, staunend, meine ganze Seel’ im Ohre
Doch die Nacht blieb ungelichtet, tiefes Schwarz auf Schwarz geschichtet,
Und das Schweigen ungebrochen, und nichts weiter ward gesprochen,
Als das Eine flüsternd, raunend: das gehauchte Wort „Leonore“,

                    Das ich flüsterte: „Leonore!“

In mein Zimmer wiederkehrend und zum Sessel flüchtend, während
Schatten meinen Blick umflorten, hörte ich von neuem klopfen,
Diesmal aber etwas lauter, gleichsam kecker und vertrauter.
An dem Laden ist es, sagt’ ich, und mich zu erheben wagt’ ich,

Sprach mir Muth zu mit den Worten: Sicher sind es Regentropfen,
                    Weiter nichts als Regentropfen.


Und ich öffnete: Bedächtig schritt ein Rabe groß und nächtig
Mit verwildertem Gefieder in’s Gemach und gravitätisch
Mit dem ernsten Kopfe nickend, flüchtig durch das Zimmer blickend,
Flog er auf das Thürgerüste und auf einer Pallasbüste
Ließ er sich gemächlich nieder, saß dort stolz und majestätisch,
                    Selbstbewußt und majestätisch.


Ob der herrischen Verfahrens und des würdigen Gebahrens
Dieses wunderlichen Gastes schier belustigt, sprach ich: Grimmer

Unglücksbote des Gestades an dem Flußgebiet des Hades,
Du bist sicher hochgeboren, kommst du gradewegs von den Thoren
Des plutonischen Palastes? Sag’ wie nennt man dich dort? „Nimmer“
                    Hört’ ich da vernehmlich: „Nimmer!“


Wahrlich, ich muß eingestehen, daß mich seltsame Ideen
Bei dem dunklen Wort durchschwirrten, ja, daß mir Gedanken kamen,
Zweifel vom bizarrsten Schlage, – und es ist wohl keine Frage,
Daß dies wunderlich Begebniß ein vereinzeltes Erlebniß:
Einen Raben zu bewirthen mit solch ominösem Namen,
                    Solchem ominösen Namen.


Doch mein düsterer Gefährte sprach nichts weiter und gewährte
Mir kein Zeichen der Beachtung. Lautlos stille ward’s im Zimmer,
Bis ich traumhaft, abgebrochen (halb gedacht und halb gesprochen)
Raunte: Andre Freunde gingen, morgen hebt auch er die Schwingen,
Läßt dich wieder in Umnachtung. Da vernahm ich deutlich „Nimmer“,

                    Deutlich und verständlich: „Nimmer“.

Stutzig über die Repliken, maß ich ihn mit scheuen Blicken,
Sprechend: Dies ist zweifelsohne sein gesammter Schatz an Worten,
Einem Herren abgefangen, dem das Unglück nachgegangen,
Nachgegangen, nachgelaufen, bis er auf dem Trümmerhaufen
Seines Glücks dies monotone „Nimmer“ seufzte allerorten.
                    Jederzeit und allerorten.


Doch der Rabe blieb possierlich würdevoll und unwillkürlich
Mußt’ ich lächeln ob des Wichtes: Aldann mitten in das Zimmer
Einen sammtnen Sessel rückend und mich in die Polster drückend,

Sann ich angesichts des grimmen, dürren, ominösen, schlimmen
Künders göttlichen Gerichtes, über dieses dunkle „Nimmer“,
                    Dieses räthselhafte „Nimmer“.


Dies und anderes erwog ich, in die Traumeslande flog ich,
Losgelöst von jeder Fessel. Von der Lampe fiel ein Schimmer

Auf die violetten Stühle und auf meinem sammt’nen Pfühle
Lag ich lange, traumverloren, schwang mich auf zu Leonoren,
Die in diesen sammtnen Sessel nimmermehr sich lehnet, nimmer,
                    Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer.


Plötzlich ward es in mir lichter, und die Luft im Zimmer dichter,
Als ob Weihrauch sie durchwehte. Und an diesem Hoffnungsschimmer
Mich erwärmend, rief ich: Manna, Manna, schickst du Gott, Hosianna!
Lob ihm, der dir Gnade spendet, der dir seine Engel sendet,
Trink’, o trink’ aus dieser Lethe und vergiß Lenore! „Nimmer“,
                    Krächzte da der Rabe „Nimmer“.


„Nachtprophet, erzeugt vom Zweifel, seist du Vogel oder Teufel,
Triumphirend ob der Sünder Zähneklappern und Gewimmer –
Hier aus dieser dürren Wüste, dieser Stätte geiler Lüste,
Hoffnungslos, doch ungebrochen und noch rein und unbestochen,
Frag’ ich dich, du Schicksalskünder: Ist in Gilead Balsam?“ „Nimmer“,

                    Krächzte da der Rabe „Nimmer“.

„Nachtprophet, erzeugt vom Zweifel, seist du Vogel oder Teufel,
Bei dem göttlichen Erbarmen, lösch nicht diesen letzten Schimmer!
Sag’ mir, find ich nach dem trüben Erdenwallen einst dort drüben
Sie, die von dem Engelschore wird geheißen Leonore?

Werd ich sie dort nicht umarmen, meine Leonore? „Nimmer“,
                    Krächzte da der Rabe „Nimmer“.


Feind, du lügst, heb’ dich von hinnen, schrie ich auf beinah von Sinnen,
Dorthin zieh’, wo Schatten wallen unter Winseln und Gewimmer,
Kehr’ zurück zum dunklen Strande, laß kein Federchen zum Pfande

Dessen, was du prophezeitest, daß du diesen Ort entweihtest,
Nimm aus meiner Brust die Krallen, hebe dich von hinnen! „Nimmer“,
                    Krächzte da der Rabe „Nimmer“.


Und auf meinem Thürgerüste, auf der bleichen Pallasbüste,
Unverdrossen, ohn’ Ermatten sitzt mein dunkler Gast noch immer.
Sein Dämonenauge funkelt und sein Schattenriß verdunkelt
Das Gemach, schwillt immer mächt’ger und wird immer grabesnächtger –
Und aus diesem schweren Schatten hebt sich meine Seele nimmer –
                    Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer. –



The Raven
E.A.Poe 

1845

Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary,
Over many a quaint and curious volume of forgotten lore,
While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping,
As of some one gently rapping, rapping at my chamber door.
"'Tis some visiter," I muttered, "tapping at my chamber door - 

Only this, and nothing more."


Ah, distinctly I remember it was in the bleak December,
And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.
Eagerly I wished the morrow; - vainly I had tried to borrow
From my books surcease of sorrow - sorrow for the lost Lenore -
For the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore -
Nameless here for evermore.



And the silken sad uncertain rustling of each purple curtain
Thrilled me - filled me with fantastic terrors never felt before;
So that now, to still the beating of my heart, I stood repeating
"'Tis some visiter entreating entrance at my chamber door -
Some late visiter entreating entrance at my chamber door; -
This it is, and nothing more."



Presently my soul grew stronger; hesitating then no longer,
"Sir," said I, "or Madam, truly your forgiveness I implore;
But the fact is I was napping, and so gently you came rapping,
And so faintly you came tapping, tapping at my chamber door,
That I scarce was sure I heard you " - here I opened wide the door;- 

Darkness there and nothing more.


Deep into that darkness peering, long I stood there wondering, fearing,
Doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before;
But the silence was unbroken, and the darkness gave no token,
And the only word there spoken was the whispered word, "Lenore!"
This I whispered, and an echo murmured back the word, "Lenore!" -
Merely this, and nothing more.



Then into the chamber turning, all my soul within me burning,
Soon I heard again a tapping somewhat louder than before.
"Surely," said I, "surely that is something at my window lattice;
Let me see, then, what thereat is, and this mystery explore -
Let my heart be still a moment and this mystery explore;-
'Tis the wind and nothing more!"



Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter,
In there stepped a stately raven of the saintly days of yore;
Not the least obeisance made he; not an instant stopped or stayed he;
But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door -
Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door -
Perched, and sat, and nothing more.



Then this ebony bird beguiling my sad fancy into smiling,
By the grave and stern decorum of the countenance it wore,
"Though thy crest be shorn and shaven, thou," I said, "art sure no craven,
Ghastly grim and ancient raven wandering from the Nightly shore -
Tell me what thy lordly name is on the Night's Plutonian shore!"
Quoth the raven "Nevermore."



Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly,
Though its answer little meaning - little relevancy bore;
For we cannot help agreeing that no sublunary being
Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door -
Bird or beast upon the sculptured bust above his chamber door,
With such name as "Nevermore."



But the raven, sitting lonely on the placid bust, spoke only
That one word, as if his soul in that one word he did outpour.
Nothing further then he uttered -- not a feather then he fluttered  Till I scarcely more than muttered "Other friends have flown before  

On the morrow he will leave me, as my hopes have flown before."
Quoth the raven "Nevermore."



Wondering at the stillness broken by reply so aptly spoken,
"Doubtless," said I, "what it utters is its only stock and store
Caught from some unhappy master whom unmerciful Disaster
Followed fast and followed faster so when Hope he would adjure -
Stern Despair returned, instead of the sweet Hope he dared adjure -
That sad answer, "Never - nevermore."



But the raven still beguiling all my sad soul into smiling,
Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird, and bust and door;
Then, upon the velvet sinking, I betook myself to linking
Fancy unto fancy, thinking what this ominous bird of yore -
What this grim, ungainly, ghastly, gaunt and ominous bird of yore
Meant in croaking "Nevermore."



This I sat engaged in guessing, but no syllable expressing
To the fowl whose fiery eyes now burned into my bosom's core;
This and more I sat divining, with my head at ease reclining
On the cushion's velvet lining that the lamp-light gloated o'er,
But whose velvet violet lining with the lamp-light gloating o'er,
She shall press, ah, nevermore!



Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer
Swung by Angels whose faint foot-falls tinkled on the tufted floor.
"Wretch," I cried, "thy God hath lent thee - by these angels he hath sent thee
Respite - respite and nepenthe, from thy memories of Lenore;
Let me quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore!"
Quoth the raven "Nevermore."



"Prophet!" said I, "thing of evil! - prophet still, if bird or devil! -
Whether Tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore,
Desolate yet all undaunted, on this desert land enchanted -
On this home by Horror haunted - tell me truly, I implore -
Is there - is there balm in Gilead? - tell me - tell me, I implore!"
Quoth the raven "Nevermore."



"Be that word our sign in parting, bird or fiend!" I shrieked, upstarting -
"Get thee back into the tempest and the Night's Plutonian shore!
Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken!
Leave my loneliness unbroken! - quit the bust above my door!
Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!"
Quoth the raven "Nevermore."



And the raven, never flitting, still is sitting, still is sitting
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon that is dreaming,
And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor;
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted - nevermore!




TIM BURTON "VINCENT"  Zeichentrickfilm