Nach tagelanger Lektüre der neuesten und schrecklichen Nachrichten über die blutigen Auseinandersetzungen in Ägypten und Syrien und das mögliche, und von mir mit großer Skepsis betrachtete, Eingreifen der USA in den Bürgerkrieg der in Syrien tobt, fühle ich mich meinungslos und überfordert.
Wer hasst wen und warum? Wer hat Recht, eine fast absurde Frage? Wer verfolgt welche und wessen Interessen?
Und dann lese ich eine Szene bei Shakespeare in seinem "Historiendrama" Heinrich VI., und ich bin mir durchaus bewusst, dass dies absurd und abgehoben klingen mag, aber plötzlich fühle ich mich nicht mehr ganz so allein in meinem hilflosen Nichtbegreifen.
Das Folgende ist nur unwesentlich gekürzt, die Übersetzung stammt von Frank Günther:
DIE ROSENKRIEGE,
Inbegriff jeden Bürgerkrieges, in Kurzform: der König klagt, die von ihm regierten bringen sich gegenseitig um:
Der Krieg Der Rosen 1908 Henry Payne |
England war lang im Wahnsinn, schlug sich selbst:
Der Bruder, blind, vergoss des Bruders Blut;
Der Vater würgte rasch den eignen Sohn;
Der Sohn, gedrungen, ward des Vaters Schlächter...
Der Bruder, blind, vergoss des Bruders Blut;
Der Vater würgte rasch den eignen Sohn;
Der Sohn, gedrungen, ward des Vaters Schlächter...
KÖNIG HEINRICH:
Wollt, ich wär tot, wenn’s Gottes Wille wär!
Denn was nur bringt die Welt als Leiden und Beschwer?
O Gott! Mir ist, als wär es ein beglücktes Leben,
Nichts beßres als ein biedrer Hirt zu sein;
Auf Hügeln hinzusitzen wie jetzt ich,
Mir Sonnenuhrn zu schnitzen, Span um Span,
Dran die Minuten sehn, wie sie verrinnen -
Wieviel davon die Stunde voll wohl machen,
Wie viele Stunden einen Tag vollenden,
Wie viele Tage wohl ein Jahr beschließen,
Wie viele Jahr ein Mensch wohl leben mag.
Wenn das geklärt ist, dann die Zeit sich ordnen -
So viele Stunden muß ich Herden hüten;
So viele Stunden muß ich Ruhe halten;
So viele Stunden muß ich Andacht üben;
So viele Stunden muß ich mich vergnügen;
So viele Tage warn die Schafe trächtig;
So viele Wochen, bis die Närrchen lammen;
So viele Jahre, bis ich Wolle schere:
Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Jahre,
Dahingebracht zum Zweck, drum sie bestehn,
Sie brächten so das Weißhaar still zu Grab.
Ach, welch ein Leben wär’s! Wie süß! Wie lieblich!
Ein SOHN, der seinen Vater erschlagen hat, tritt auf, mit der Leiche in den Armen.
SOHN:
Der Mann hier, den im Zweikampf ich erschlug,
Der mag so manches Goldstück bei sich tragen,
Und ich, der zufällig sie ihm nun nimmt,
Mag noch vor Nacht samt Leben sie verliern
An sonstwen, wie der Tote hier an mich.
Wer ist’s? O Gott! Mein Vater sieht mich an,
Den ich im Kampf erschlug und wußt es nicht.
O Leidenszeit, die solche Taten zeugt!
Vergib mir, Gott, ich wußt nicht, was ich tat;
Und Vater, du vergib, ich wußte nichts von dir.
Mit Tränen will ich ’s Blutmal von dir waschen,
Und nun kein Wort, bis sich verströmt ihr Fluß.
KÖNIG HEINRICH:
O Jammerschauspiel! O blutnasse Zeiten!
Weine, schmerzweher Mann; Träne um Träne helf ich;
Daß Herz und Aug, wie ‘s Bürgerkriegsland, blind
Uns werd vor Tränen und am Leid zerbrech.
Ein VATER, der seinen Sohn erschlagen hat, tritt auf, mit der Leiche in den Armen.
VATER:
Du, der du mir so stark hast widerstanden,
Gib mir dein Gold, wenn du an Gold was hast,
Denn ich hab’s mir erkauft mit hundert Hieben.
Doch laß mich sehn: ist das ein Feindgesicht?
Ach, nein, nein, nein; es ist mein einzger Sohn!
O Gott, erbarm dich dieser Elendszeit!
Was doch für Mord so roh, so schlächterhaft,
Abartig, meuterisch und unnatürlich
Dies tödliche Zerwürfnis täglich zeugt!
KÖNIG HEINRICH:
Weh über Weh! Leid übers Leid hinaus!
Erbarm, erbarm dich, gütger Gott, Erbarmen!
Die Rosen rot und weiß stehn ihm im Antlitz,
Die Schicksalsfarben der entzweiten Häuser:
So welk doch eine, blüh die andre Rose!
Wenn ihr im Krieg seid, welken tausend Leben.
SOHN:
Wie wird nur Mutter um des Vaters Tod
Über mich herfalln und nie Ruh mehr finden!
VATER:
Wie wird nur meine Frau um Sohnesmord
Tränmeere weinen und nie Ruh mehr finden!
SOHN:
Hat je ein Sohn so Vaters Tod beklagt?
VATER:
Hat je ein Vater so den Sohn beweint?
KÖNIG HEINRICH:
Hat je ein König so ums Volk gelitten?
Euer Leid ist tief; doch zehnmal tiefer meins.
Herztrübe Männer, ganz zerbrochen schier,
Hier sitzt ein König, mehr gebeugt als ihr.