Donnerstag, 31. Mai 2012

Yo-Yo Ma



Heute war ich im Konzert, Yo-Yo Ma mit dem Torontoer Symphonieorchester.
Ein großer, heller, klarer Saal, die Zuschauer sitzen auch hinter dem Orchester. Wieder viel Holz und demokratische Sitze mit leichten Erinnerungen an die feudale Vergangenheit von Konzertsälen, Logen schon, aber offen, einsehbar und groß genug für fast 30 Leute.
Oh, ist das ein Musiker, einer, der Vergnügen hat, zu spielen, er und sein Cello in inniger Einheit, als wären er und es ein Körper und sie sind es gerne. Er lächelt oft beim Spielen, und er schaut die Mitspielenden an.
En kleines Stück zu Beginn, von einem modernen usbekischen Komponisten, Dmitri Yanov-Yanovsky, Nacht Musik: Stimmen im Laub: es klingt, als wollte man sich an eine Melodie erinnern, an den Geschmack eines Essens, an den Geruch von feuchtem Gras, als man, fünfjährig über Wiesen stampfte. Man findet die Erinnerung fast, beinahe, aber nur noch in Fetzen, Stückchen, Resten.
Dann, ohne Yo-Yo Ma, Rachmaninow Symphonische Tänze, lustig, ich denke dauernd in Bildern aus Disneyfilmen. Disney hatte auch vor, Musik von ihm in Phantasia zu verwenden, aber es kam dann doch nicht dazu.
Und zum Dritten: Elgar, Cello Konzert in E-Dur und am Ende Riesenapplaus, alle stehen, das scheint mir neuerdings sehr oft vorzukommen, aber hier ist es berechtigt und  Yo-Yo Ma schenkt uns eine Zugabe: Bach, das Prelude zur Cello Suite N°1. Mannomamnnomannoman, ist das schön, als wäre es ganz einfach, wie ein Gespräch unter Freunden.
Anschließend ein Empfang mit Dinner für die "Freunde" des Orchesters, sicher, sie spenden Millionen, das sollte man ihnen anrechnen, aber 120 Jahre alte Frauen in kurzen rosa Chanel-Kleidchen muß man erstmal verkraften.






Yo-Yo Ma, Edgar Meyer, Chris Thile and Stuart Duncan play Bluegrass:
http://www.youtube.com/watch?v=O7EcT5YzKhQ


Spike Jonze Presents: Lil Buck and Yo-Yo Ma:
http://www.youtube.com/watch?v=C9jghLeYufQ 
Yo-Yo Ma spielt das Prelude von Bach Cello Suite N°1:
http://www.youtube.com/watch?v=dZn_VBgkPNY

Mittwoch, 30. Mai 2012

Ilse Bing - Photographin - Die Königin der Leica


Ilse Bing 1899 - 1998

90 zu werden
ist nur ein weiterer tag
an dem man versucht
die unendliche leiter
unserer träume 
zu ersteigen

getting 90
is just another day
in striving to climb
the infinite ladder
of our dreams.

ilse bing
märz 1989

Kind © Ilse Bing

Schlafendes Kind 1945 © Ilse Bing

Kind, Paris, 1931 © Ilse Bing

Das Karussell

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgend wohin, herüber -

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel...

R.M. Rilke; Jardin du Luxembourg, Paris, 1906

Kind auf dem Spielplatz, New York 1936 © Ilse Bing


Motto

das unsichbare
muss bebildert werden
das unaussprechbare
muss gesagt werden
das undenkbare
muss geträumt werden
das unfassliche
muss festgehalten werden
aber berühre es nicht mit deinem finger

the invisible
has to be pictured
the unspeakable
has to be said
the unthinkable
has to be dreamed
the intangible
has to be held tight
but do not touch it with your finger

16. juli 1982


Dienstag, 29. Mai 2012

Toronto - Hochsommer im Mai


SCHWÜL


Heute sind es hier 30 Grad, kein Lüftchen weht und der erhoffte Regen ist wohl anderweitig beschäftigt, oder er will die Erwartung noch ein wenig schüren. 
Schwül. Schwitzig. Fette Luft. Feuchte Haut.
Schwül war ursprünglich mal niederdeutsch "schwul" und wurde möglicherweise in der Analogie zu "kühl" verändert.
Ob das Wetter als schwül empfunden wird, hängt entscheidend von der Wasserbeladung der Luft ab...sagt Wiki, Wasserbeladung klingt viel schöner als absolute Luftfeuchtigkeit, oder?
Synonyme wären: brütend heiß, bleiern, stickig, drückend, feuchtwarm, gewitterschwer, gewitterschwül, gewittrig, tropisch, aber in keinem der anderen Wörter schwingt solch träge Erotik mit. 




„Es ist so schwül, so dumpfig hie
Und ist doch eben so warm nicht drauß'.
Es wird mir so, ich weiß nicht wie –
Ich wollt', die Mutter käm' nach Haus.
Mir läuft ein Schauer über'n ganzen Leib –
Bin doch ein thöricht furchtsam Weib.“ 
J.W. von Goethe "Faust"




ADELUNG:
Schwül, -er, -ste, adj. et adv. ängstlich warm, bänglich oder abmattend warm, wie es im Sommer vor einem Gewitter bey sehr stiller Luft zu seyn pflegt; ein nur von der Luft und Witterung übliches Wort.
Haged. Anm. In den gemeinen Sprecharten schwul, schwülig, im Österreichischen schwellig, im Nieders. Swool, swolig, im Engl. sweltry und sultry, im Angels. swilic, im Holländ. zwoel und zoel. Es gehöret zu schwelen, ohne Flamme brennen, und druckt eine von keiner Bewegung der Luft bekleidete stille und daher ängstliche und abmattende Wärme aus.  

GRIMM:
schwül, adj. drückend heisz, erst der neuern schriftsprache vertraut; über das auftreten der form geschwül vgl. oben theil 4, 1, 2 sp. 4011; nachzutragen ist geschwielle, adj. Steinbach 2, 548. die ältere unumgelautete form verschwindet seit der zweiten hälfte des 18. jh. aus der schriftsprache (wol unter einwirkung von kühl), nur dasz sie gelegentlich mit komischer wirkung verwendet wird: schwul, et geschwul, praefocatus, suffocatus propter aestum Stieler 2054; schwul, adj. sagt man bey heiszem wetter, es ist schwul drauszen. Frisch 2, 251c; Adelung schreibt schwühl und kennt es nur im eigentlichen sinne ('ein nur von der luft und witterung übliches wort'), die form schwuhl bezeichnet er als den 'gemeinen sprecharten' angehörig. mir wird ganz schwul bei der sache (derbe sprechweise). Campe; indessen läszt sich der ernsthafte gebrauch von schwul bis ins 19. jahrh. belegen: bei schwulem wetter. Zesen Rosenm. vorr. A 2b; nach der schwulen schlacht. 


 


Der Blumen Rache
 
Auf des Lagers weichem Kissen
Ruht die Jungfrau, schlafbefangen,
Tief gesenkt, die braune Wimper,
Purpur auf den heißen Wangen.


Schimmernd auf dem Binsenstuhle
Steht der Kelch, der reichgeschmückte,
Und im Kelche prangen Blumen,
Duft'ge, bunte, frischgepflückte.

Brütend hat sich dumpfe Schwüle
Durch das Kämmerlein ergossen,
Denn der Sommer scheucht die Kühle,
Und die Fenster sind verschlossen.

Stille rings und tiefes Schweigen!
Plötzlich, horch! ein leises Flüstern!
In den Blumen, in den Zweigen
Lispelt es und rauscht es lüstern.

Aus den Blütenkelchen schweben
Geistergleiche Duftgebilde,
Ihre Kleider zarte Nebel,
Kronen tragen sie und Schilde.

Aus dem Purpurschoß der Rose
Hebt sich eine schlanke Frau,
Ihre Locken flattern lose,
Perlen blitzen drin, wie Tau.

Aus dem Helm des Eisenhutes
Mit dem dunkelgrünen Laube
Tritt ein Ritter kecken Mutes,
Schwert erglänzt und Pickelhaube.

Auf der Haube nickt die Feder
Von dem Silbergrauen Reiher.
Aus der Lilie schwankt ein Mädchen,
Dünn, wie Spinnweb', ist ihr Schleier.

Aus dem Kelch des Türkenbundes
Kommt ein Neger stolz gezogen,
Licht auf seinem grünen Turban
Glüht des Halbmonds gold'ner Bogen.

Prangend aus der Kaiserkrone
Schreitet kühn ein Zepterträger,
Aus der blauen Iris folgen
Schwertbewaffnet seine Jäger.

Aus den Blättern der Narzisse
Schwebt ein Knab' mit düstern Blicken,
Tritt an's Bett, um heiße Küsse
 Auf des Mädchens Mund zu drücken.

Doch um's Lager drehn und schwingen
Sich die andern wild im Kreise,
Drehn und schwingen sich, und singen
Der Entschlaf'nen diese Weise:

"Mädchen, Mädchen! Von der Erde
Hast du grausam uns gerissen,
Dass wir in der bunten Scherbe
Schmachten, welken, sterben müssen!

"O, wie ruhten wir so selig
An der Erde Mutterbrüsten,
Wo, durch grüne Wipfel brechend,
  Sonnenstrahlen heiß uns küssten!

"Wo uns Lenzeslüfte kühlten,
Unsre schwanken Stengel beugend,
Wo wir Nachts als Elfen spielten,
Unserm Blätterhaus entsteigend.

"Hell umfloß uns Tau und Regen,
Jetzt umfließt uns trübe Lache,
Wir verblüh'n, doch eh' wir sterben,
Mädchen! trifft dich uns're Rache."

Der Gesang verstummt, sie neigen
Sich zu der Entschlaf'nen nieder.
Mit dem alten dumpfen Schweigen
Kehrt das leise Flüstern wieder.

Welch' ein Rauschen, welch' ein Raunen!
Wie des Mädchens Wangen glühen!
Wie die Geister es anhauchen!
Wie die Düfte wallend ziehen!

Da begrüßt der Sonne Funkeln
Das Gemach, die Schemen weichen.
Auf des Lagers Kissen schlummert
Kalt die lieblichste der Leichen.

Eine welke Blume selber,
Noch die Wange selbst gerötet,
Ruht sie bei den welken Schwestern,
Deren Geister sie getötet.

Ferdinand von Freiligrath 

Montag, 28. Mai 2012

Pfingsten


PFINGSTEN

Pfingsten 
sind die Geschenke am geringsten,
Während Geburtstag, Ostern und Weihnachten
Etwas einbrachten.
b.b.
Pfingsten, von griechisch πεντηκοστή [ἡμέρα] pentekostē [hēmera] - der fünfzigste Tag. Der fünfzigste Tag von was? Nach welchem Ereignis? Gibt es einen einundfünfzigsten Tag? Ich vermute, 99% der Bevölkerung haben nicht die geringste Ahnung davon was hier gefestagt wird. Halt ein weitere freier Tag. Ach ja, und da gibt es einen Pfingstochsen und der Pfingstmontag sollte irgendwann mal abgeschafft werden. 

Apostelgeschichte 2, 1-4
„Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“

Darstellung der Ausgießung des heiligen Geistes im Rabbula-Evangeliar 586 

Zungen erschienen, gespaltene, kein schöner Anblick sicherlich und ER setze sich auf sie. Wer ist ER? Der Heilige Geist, eine der drei Hypostasen Gottes, Sohn, Vater und, nein, nicht Mutter, sondern eben dieser Heilige Geist. Sehr praktisch irgendwie, Monotheismus und man kriegt drei für einen. 
Der H.G. geht aus dem Vater und dem Sohn durch „eine einzige Hauchung“ hervor. Das ist die Erklärung der katholischen Kirche. Im Unterschied zum Sohn, der durch „Zeugung“ aus dem Vater hervorgeht, geht der H.G. den Weg der "Hauchung" aus dem Vater und dem Sohn. Gemeinsames Atmen von Vater und Sohn zeugen ihn. Und was ist er also? Heilige Luft? Heiliger Atem = Hagion Pneuma. Maria hat übrigens Jesus durch "Kontakt" mit dem H.G. empfangen.
Dieser H.G. wurde nun, sieben Wochen nach Ostern, eben 50 Tage nach dem Ostersonntag über die Jünger Jesu ausgegossen. Und, wie nach guten Sprachintensivkursen, begannen sie danach, in allen damals bekannten Sprachen zu predigen. Diese Überwindung der Sprachverwirrung von Babel wird dann als Gründungstag der christlichen Kirche übersetzt.


Giotto di Bondone um 1300, Pfingsten
(Da geht mir ein Licht auf?)


Pfingstbestellung

Ein Pfingstgedichtchen will heraus
Ins Freie, ins Kühne.
So treibt es mich aus meinem Haus
Ins Neue, ins Grüne.

Wenn sich der Himmel grau bezieht,

Mich stört`s nicht im geringsten.
Wer meine weiße Hose sieht,
Der merkt doch: Es ist Pfingsten.

Nun hab ich ein Gedicht gedrückt,

Wie Hühner Eier legen,
Und gehe festlich und geschmückt —
Pfingstochse meinetwegen —
Dem Honorar entgegen.

Joachim Ringelnatz


Und noch eins für die Berliner unter euch:

Bolle reiste jüngst zu Pfingsten

 
Bolle reiste jüngst zu Pfingsten,
Nach Pankow war sein Ziel,
Da verlor er seinen Jüngsten
Janz plötzlich im Jewühl
`Ne volle halbe Stunde
Hat er nach ihm jespürt,
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.

In Pankow gab`s kein Essen,

In Pankow gab`s kein Bier,
War alles aufjefressen
Von fremden Gästen hier.
Nich mal `ne Butterstulle
Hat man ihm reserviert,
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert :|

Auf der Schönholzer Heide,

Da gab`s `ne Keilerei,
Und Bolle, gar nicht feige,
War feste mang dabei.
Hat`s Messer rausjezogen
Und fünfe massakriert,
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Aber dennoch hat sich Bolle
janz köstlich amüsiert :|

Es fing schon an zu tagen,

Als er sein Heim erblickt.
Das Hemd war ohne Kragen,
Das Nasenbein zerknickt.
Das rechte Auge fehlte,
Das linke marmoriert,
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert :|

Zu Hause gekommen,

Da ging`s ihm aber schlecht,
Da hat ihn seine Olle
Janz mörderisch verdrescht!
Ne volle halbe Stunde
Hat sie auf ihm poliert,
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert.
Aber dennoch hat sich Bolle
Janz köstlich amüsiert :|

Bolle wollte sterben

Und hat sich`s überlegt.
Er hat sich auf die Schienen
Der Straßenbahn jelegt.
Die Bahn, die hat Verspätung
Und vierzehn Tage drauf,
Da fand man unsern Bolle
Als DÖrrjemüse auf.


Sonntag, 27. Mai 2012

Theater und Einsamkeit in Toronto


Gestern, in einem wohnzimmergroßen Theater im Parterre eines halbverfallenen Hauses, eine Premiere. Der Raum hat vielleicht 45 Plätze, nicht alle sind besetzt, gezeigt wird ein Dreipersonenstück, eine nicht einmal wirklich übel geschriebene Dreiecksgeschichte mit Tendenz zum Melodrama. Geheime Geliebte des Mannes hat Gehirntumor, um die Zukunft des gemeinsamen Kindes zu sichern, macht sie "reinen Tisch", Ehefrau hat Erleuchtung, Mann muß gehen, Kind wird versorgt werden. Nun ja. Es wurde recht gut gespielt, von der ältere der beiden Schauspielerinnen sogar wirklich gut. Die Besonderheit ist, lese ich, dass die Reihenfolge der Szenen allabendlich durch würfeln entschieden wird. Mag interessant sein, heißt aber, man müßte mindestens dreimal gucken gehen, um es wirklich genießen zu können. Bei 30$ für ein Ticket, Studenten respektive 25, werden dies nicht viele tun.
Trotzdem, ich langweile mich nicht, obwohl die Unbeweglichkeit der Schauspieler-Körper bei gleichzeitig höchster Emotionalität, mich, wie fast immer bei kanadischem Theater, irritiert.
ABER: es hätte auch eine gut gemachte Nachmittagsfernsehsoap seien können. UND 90% der Zuschauer waren Bekannte oder Freunde, und so wird es wahrscheinlich auch in den nächsten Vorstellungen sein. Ein Phänomen, dass ich hier öfter beobachte: das Zuschauerkarussell des Off-Theaters: wenn die einen spielen, schauen die anderen zu und vice versa, Familie, Liebende und nahe Freunde stellen den Rest. Es ist ein geschlossener Kreis von Insidern, die sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, loben, aufmuntern. Theatraler Inzest.
Auf der anderen Seite die Oper, finanziert durch hohe Auslastung und enorm hohes Sponsoring, alles was ich bisher gesehen habe war von hoher Qualität, angerichtet für ein Publikum dessen Altersdurchschnitt in den oberen Siebzigern liegt, durchsprenkelt von braven Enkelkindern und einzelnen Überraschungseiern.

Heute am frühen Abend, wieder ein Off-Theater-Abend, gut gemeintes Agit-Prop Theater, der Regisseur ist 70, die Speler 20 - nicht einmal 1960 hätte jemand hier Bravo gebrüllt, da drückt ein altgewordener Protest-Hippie suchenden Kindern seine absichtsvolle Demagogie auf, aber die Sehnsucht der jungen Spieler nach Relevanz, der Wunsch mit Theater in die Welt zu wirken, uneinverstanden zu sein, ist erstaunlicherweise berührend.
Dann, um Mitternacht, der Auftritt eines Bekannten, elektronische Musik mit sonoren Beats, er und sein Computer in autistischer Gem-Einsamkeit, die Beleuchtung durch flackernde Videos ist gespenstisch und faszinierend, drei Fans tanzen ohne wirklich lockerzulassen. Alle trinken, viele sind auf unterschiedlichsten Drogen. Ich habe selten in einer gut gefüllten Bar solche Einsamkeit erlebt.


Freitag, 25. Mai 2012

Paul Cézanne und R.M. Rilke 1


Entweder Matisse oder Picasso hat gesagt: "Er ist unser aller Vater". Gemeint war Paul Cézanne, Matisse lieferte auch noch: " Eine Art lieber Gott der Malerei".

Der Knabe mit der roten Weste 1888/90

Max Liebermann soll einem Betrachter, der die ungewöhnliche Länge des rechten Oberarmes des Knaben bemängelte, geantwortet haben: "Der Arm ist so schön, der kann gar nicht lang genug sein!"

Das Bild wurde 2008 aus dem Museum der Sammlung Bührle in der Schweiz gestohlen und 2012 in Serbien wieder "aufgefunden".


Rainer Maria Rilke an seine Frau Clara
22. Oktober 1907

.... Ich wollte aber eigentlich noch von Cezanne sagen:
daß es niemals noch so aufgezeigt worden ist, wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz allein lassen muß, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen.
Ihr Verkehr untereinander: das ist die ganze Malerei.
Wer dazwischenspricht, wer anordnet, wer seine menschliche Überlegung, seinen Witz, seine Anwaltschaft, seine geistige Gelenkigkeit irgend mit agieren läßt, der stört und trübt schon ihre Handlung.
...
ohne den Umweg durch seine (des Malers) Reflexion zu nehmen, müssen seine Fortschritte, ihm selber rätselhaft, so rasch in die Arbeit eintreten, daß er sie in dem Moment ihres Übertritts nicht zu erkennen vermag. Ach, wer sie dort belauert, beobachtet, aufhält, dem verwandeln sie sich wie das schöne Gold im Märchen, das nicht Gold bleiben kann, weil irgendeine Kleinigkeit nicht in Ordnung war.

Daß man Van Goghs Briefe so gut lesen kann, daß sie so viel enthalten, spricht im Grunde gegen ihn, wie es ja auch gegen den Maler spricht (Cezanne danebengehalten), daß er das und das wollte, wußte, erfuhr; daß das Blau Orange aufrief und das Grün Rot: daß er solches, heimlich an dem Innern seines Auges horchend, hatte drinnen sagen hören, der Neugierige.

So malte er Bilder auf einen einzigen Widerspruch hin, dabei auch noch an die japanische Vereinfachung der Farbe denkend, die eine Fläche auf den nächsthöheren oder nächsttieferen Ton setzt, unter einen Gesamtwert summiert; welches wieder zu dem gezogenen und ausgesprochenen (d.h. erfundenen) Kontur der Japaner führt als Einfassung der gleichgesetzten Flächen: zu lauter Absicht, zu lauter Eigenmächtigkeit, mit einem Wort zur Dekoration.

Ein schreibender Maler, einer also, der keiner war, hat auch Cezanne durch seine Briefe veranlaßt, malerische Angelegenheiten antwortend auszusprechen, aber wie sehr ist es, wenn man die paar Briefe des Alten sieht, bei einem unbeholfenen, ihm selber äußerst widerwärtigen Ansatz zur Aussprache geblieben.

Fast nichts konnte er sagen. Die Sätze, in denen er es versuchte, werden lang, verwickeln sich, sträuben sich, bekommen Knoten, und er läßt sie schließlich liegen, außer sich vor Wut.
Hingegen gelingt es ihm ganz klar zu schreiben:

"Ich glaube, das Beste ist die Arbeit.' Oder: >Ich mache täglich Fortschritte, wenn auch sehr langsam.' Oder: >Ich bin fast siebzig Jahre alt." Oder: "Ich werde Ihnen durch Bilder antworten." 
...
die Unterschrift, unverkürzt: Pictor Paul Cezanne.

21. Sept. 1905
Je continue donc mes etudes. [Also habe ich weiterhin mein Studium.]
Und der Wunsch, der ihm wörtlich in Erfüllung gegangen ist:
Je me suis jure de mourir en peignant. [Ich schwöre auf die Malerei zu sterben.]
...
Alles Gerede ist Mißverständnis. Einsicht ist nur innerhalb der Arbeit.
Sicher. Es regnet, regnet,....
und morgen schließen sie den Salon, der die letzte Zeit fast meine Wohnung war.
Leb wohl für heute ....

Paris Vle, 29, rue Cassette. Am 21. Okt. 1907

Mittwoch, 23. Mai 2012

Semele - eine Händeloper


Semele, griechische Sagengestalt, trifft auf deutschen Komponisten, Georg Friedrich Händel, der in England lebte und Barockopern schrieb, obwohl dieses Werk, 1744 komponiert, wohl eher als Oratorium gedacht war, und wird dann von einem chinesischen Regisseur, Zhang Huan, auf die Bühne gezaubert, 2012, in Toronto in Kanada, japanische Sumo-Ringer treten auch auf.

Bis auf die dämlichen Pappsteine, die in dieser Szene herumlagen, ist es wirklich ein tolles Bühnenbild.

Das Bühnen-Bild und es ist wirklich bildhaft, besteht aus einem 450 Jahre alten chinesischen Tempel, der während der Kulturrevolution als Getreidelager diente und später einer armen Familie von Aal-Verkäufern als Wohnung. Der Ehemann erschoß den Liebhaber der Frau und wurde dafür hingerichtet. Die Frau verkauft das hölzerne Gebäude, um ihrem Sohn ein Haus bauen zu können, dass anziehender für eine künftige Ehefrau ist. Die Holzstruktur steht jetzt in der Oper auf der Bühne. Drama Nº 1.

Semele liebt Jupiter, soll aber, nach dem Willen ihres Vaters Kadmos, Prinz Athamas heiraten, den wiederum ihre Schwester Ino liebt. Jupiter schreitet ein: Blitz, Adler greift Semele, alle sind verwirrt. Juno ist, natürlich, eifersüchtig, wie jedesmal, und plant Rache. Semele liebelt mit Jupiter, ihre Schwester kommt zu Besuch. Juno weckt derweil den Gott des Schlafes, Somnu, gibt ihm komplizierte Anweisungen und bietet ihm im Gegenzug eine junge Frau, in die er vernarrt ist, an. Somnus stimmt zu, macht Jupiter durch einen Traum, liebeswahnsinnig nach Semele, so dass er ihr jeden Wunsch erfüllen wird. Juno, in der Gestalt der Schwester Ino, erscheint bei Semele und reicht ihr einen Spiegel:

"Ich werde mich selbst anbeten,
Wenn ich darauf bestehe zu schauen.

"Myself I will adore
If I insist in gazing."

Fast acht Minuten lang nur diese zwei Zeilen, wunderbar, und was die Hauptdarstellerin, Jane Archibald, derweil auch noch spielt, ist herrlich.
Jedenfalls, Semele wünscht sich Jupiter in seiner wahren Gestalt zu sehen, er warnt sie zwar vor der Tödlichkeit dieses Anblicks, willigt aber unter der Macht des Zaubertraumes ein. Semele schaut und stirbt. Drama Nº2.

Der Regisseur ersetzt den Widergutmachungschor am Ende durch die gesummte "Internationale", verstehen tue ich es nicht, aber drei Stunden war ich fasziniert.

Barockopern sind von solcher realitätsfernen Künstlichkeit, dass sie als Folie, Einbettung oder Sprungtuch für Vieles dienen können. Hier treffen Traditionslinien aufeinander, die sich nie mischen, und sich doch stützen, komplementieren.

Ach ja, Semeles Asche wird Gott Bacchus hervorbringen.

Dienstag, 22. Mai 2012

e.e. cummings - mein geist ist...



mein geist ist...(XXV)

mein geist ist
ein großer klumpen unwiderruflichen nichts welchen berührung und schmecken und riechen
und hören und sehen unaufhörlich schlagen und picken mit scharfen verhängnisvollen werkzeugen
in einer agonie sinnlichen meißelns vollführe ich verdrehungen von chrom und ex
-ekutiere schritte von kobalt
nichtsdestoweniger ich
fühle dass ich schlau verändert werde dass ich ein bisschen anfange
ein wenig anders zu werden, tatsächlich
ich selbst
Hierauf stosse ich hilflos zartlila schreie aus und tiefrotes gebrüll.

oder
Hierauf stosse ich hilflos fliederfarbene schreie aus und purpurnes gebrüll.

edward munch der schrei 1895

my mind is… (XXV)
 
my mind is
a big hunk of irrevocable nothing which touch and taste and smell
and hearing and sight keep hitting and chipping with sharp fatal
tools
in an agony of sensual chisels i perform squirms of chrome and ex
-ecute strides of cobalt
nevertheless i
feel that i cleverly am being altered that i slightly am becoming
something a little different, in fact
myself
Hereupon helpless i utter lilac shrieks and scarlet bellowings.

e.e. cummings

 Scream / Schrei Maske

Frau eine Treppe herabsteigend


Heute Abend habe ich ein Tablett mit den Resten eines Abendessens eine Treppe heruntergetragen. 
Keine schwere Aufgabe, bis zu der Sekunde, in der ich anfing darüber nachzudenken, wieviele Einzelprobleme mein Hirn gerade dabei war, zu behandeln: Tragen des Tabletts und die dafür nötige Balance, Breite des Tabletts und das Vermeiden von Kollisionen meiner Ellenbogen mit der seitlichen Wand, Höhe der Stufen und die dementsprechende Bewegung der Beine, Verlagerung des gesamten Körpergewichts plus Tablett nach unten und vorne, würdevolles Aussehen der treppeherabsteigenden Person, da hinter mir noch jemand die Treppe herunterkam. Unglaublich viele Einzelinformationen, die ich, dass heißt mein Gehirn aufnehmen, in kürzester Zeit einschätzen, auswerten und in praktische Lösungen umwandeln mußte. 
Mein Gehirn ist ein Genie. Ich kann eine Treppe runtergehen und ein Tablett tragen und über den Eindruck, den ich bei anderen hinterlasse, nachdenken, und das alles gleichzeitig! Gesprochen habe ich derweil auch noch!

Frau eine Treppe herabsteigend, Eadward Muybridge 1887

 Nackte eine Treppe herabsteigend No. 2, Marcel Duchamp, 1912
© 2000 Artists Rights Society New York / ADAGP, Paris, Estate of Marcel Duchamp.

Die Wortbildung Treppenwitz ist im Deutschen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt. Sie leitete sich vom gleichbedeutenden französischen l’esprit de l’escalier ab, einer Prägung Denis Diderots aus dem 18. Jahrhundert. Gemeint war – im ursprünglichen Sinne von Witz – ein geistreicher Gedanke, der jemandem einen Moment zu spät („beim Hinausgehen auf der Treppe“) einfällt und der in der aktuellen Runde oder Diskussion nicht mehr vorgebracht werden kann.

 Duchamp Descending a Staircase
© Eliot Elisofon, 1952

Auf hohem Fuß leb ich, verbatim -
Vier Treppen hoch - mit Mann und Kind,
Wo wir zuweilen außer Atem,
Doch niemals ohne Himmel sind.

Mascha Kaleko "Minetta Street"

Ema / Akt auf einer Treppe, 1966 und Frau die Treppe herabgehend, 1965 
© Gerhard Richter 

Treppauf, treppab...


Helmut Newton Le corps robot descending stairs, Monte Carlo, 1995
© Helmut Newton 

Montag, 21. Mai 2012

Wenn jemand eine Reise tut, So kann er was verzählen


Urians Reise um die Welt,
mit Anmerkungen

Wenn jemand eine Reise tut,
So kann er was verzählen;
Drum nahm ich meinen Stock und Hut,
Und tät das Reisen wählen.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Zuerst ging's an den Nordpol hin;
Da war es kalt, bei Ehre!
Da dacht ich denn in meinem Sinn,
Daß es hier besser wäre.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

In Grönland freuten sie sich sehr,
Mich ihres Orts zu sehen,
Und setzten mir den Trankrug her;
Ich ließ ihn aber stehen.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian!

Die Eskimo sind wild und groß,
Zu allem Guten träge;
Da schalt ich einen einen Kloß,
Und kriegte viele Schläge.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Nun war ich in Amerika;
Da sagt ich zu mir: Lieber!
Nordwestpassage ist doch da;
Mach dich einmal darüber!
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Flugs ich an Bord und aus ins Meer,
Den Tubus festgebunden,
Und suchte sie die Kreuz und Quer,
Und hab sie nicht gefunden.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Von hier ging ich nach Mexiko;
Ist weiter als nach Bremen,
Da, dacht ich, liegt das Gold wie Stroh;
Du sollst 'n Sackvoll nehmen.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Allein, allein, allein, allein,
Wie kann ein Mensch sich trügen!
Ich fand da nichts als Sand und Stein,
Und ließ den Sack da liegen.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Drauf kauft ich etwas kalte Kost,
Und Kieler Sprott und Kuchen,
Und setzte mich auf Extrapost,
Land Asia zu besuchen.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

© Eadweard Muybridge Collection / Kingston Museum / Photo Researchers, Inc.

Der Mogul ist ein großer Mann,
Und gnädig über Maßen,
Und klug; er war itzt eben dran,
'n Zahn ausziehn zu lassen.
   Tutti
Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Hm! dacht ich, der hat Zähnepein,
Bei aller Größ und Gaben!-
Was hilft's denn auch noch: Mogul sein?
Die kann man so wohl haben.
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Ich gab dem Wirt mein Ehrenwort,
Ihn nächstens zu bezahlen;
Und damit reist ich weiter fort
Nach China und Bengalen.
   Tutti
Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Nach Java und nach Otaheit,
Und Afrika nicht minder;
Und sah bei der Gelegenheit
Viel Städt und Menschenkinder;
Tutti

Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl Er doch weiter Herr Urian! 

Und fand es überall wie hier,
Fand überall 'n Sparren,
Die Menschen gradeso wie wir,
Und eben solche Narren.
Tutti

Da hat Er übel übel dran getan;
Verzähl Er nicht weiter Herr Urian! 

Matthias Claudius

 
Running Full Speed, Locomotion 1887
© Eadweard Muybridge Collection