Sonntag, 8. April 2012

Theater hat fast nie Sex


Im Laufe der letzten Jahre habe ich sicherlich mehr als 100 Menschen getötet, auf der Bühne. 

Nicht durch mich persönlich, aber doch unter meiner Verantwortung, auch Regie genannt, wurde erschossen, gewürgt, erstochen, ertränkt, vergiftet, erschlagen, kurzum gemetzelt, wohl theatralisch überhöht, aber doch noch durchaus als Morden, respektive Sterben erkennbar. Mein persönlicher Rekord war wohl die Ausmerzung der gesamten Besetzung der "Räuber", inclusive des in die erträumte Märtyrerrolle fliehen wollenden Karl Mohr.

Aber Sex? Küsse, ja. Umarmungen, erotische Tötungen, sehr sinnliche Blicke und Dialoge, verklausulierte Ersatzhandlungen, mehr oder weniger deutliche Anspielungen, derbe Komik, aber kein Sex. Und auch in den Inszenierungen anderer kann ich mich nicht erinnern, dieser doch nicht unhäufigen Interaktion zwischen Menschen begegnet zu sein. Oder wenn, dann höchstens in ihrer Klamaukvariante: Sie, mit den gespreizten Beinen in der Luft, Er, wild rammelnd darübergebeugt oder ähnliche akrobatische Lustigkeiten. Oder als bedeutungsgeladenes Black. 
Aber Sex als intimer Kontakt zwischen Menschen? 
(Natürlich nicht naturalistisch nachgestellt oder -gelegt, aber in genaue und verstörende, berührende Bilder übersetzt.)  

Egon Schiele 1915,  Liebesakt Studie

Ich habe gelesen, dass es in Amerika weit einfacher ist trotz blutigster Brutalitäten eine "jugendfrei" Freigabe für einen Film durchzusetzen, als wenn eine Brust, zwei Brüste, ein Hintern oder, Gott verhüte, ein primäres Geschlechtsmerkmal durchs Bild wandeln. "The King's Speech", ein sehr empfehlenswerter Film, mußte die in den verzweifelten Sprechübungen des stotternden Königs auftauchenden "fucks" durch andere nicht sexuelle Flüche ersetzen, um die Freigabe ab 13 Jahren zu erlangen.

Vor Jahren habe ich eine Kurzgeschichte, ich glaube sie war von Peter Hacks, gelesen, in der ein junger Fremder eine ihm unbekannte Stadt besucht. Er betritt ein Haus, im Flur vögelt der Hausherr mit dem Dienstmädchen, auf dem leeren Tisch im Eßzimmer die Dame des Hauses mit dem Stallknecht. Die Tochter des Hauses bietet sich ihm unmißverständlich an. Er ist erstaunt, auch belustigt. Später aber, als er um eine Scheibe Brot bittet, reagieren alle Umstehenden mit tiefer Brüskiertheit. Gegessen wird hier heimlich, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, es ist tabu über die Nahrungsaufnahme zu reden. Verkehrte Welt?

 Egon Schiele Liebesakt

Nun arbeite ich am "Reigen" von Schnitzler und die Szenen werden von Irritierenden Strichellinien unerbrochen in denen, den Intentionen des Autors folgend, die Personen Sex miteinander haben, um anschließend ihren "unterbrochenen" Dialog weiterzuführen. Während des Aktes selbst wird nicht gesprochen. 
Und plötzlich stellt sich mir die Frage, warum wir so viel spielerischer und phantasievoller mit der Visualisierung unseres Gewaltpotentiales und unserer Sterblichkeit umgehen, als mit der Darstellung unserer Geschlechtlichkeit, die doch erst unsere Existenz ermöglicht - in der Fortpflanzung - und uns doch auch definiert, erfreut, ängstigt und lebendig hält.

Das Internet und die Nachtprogramme der Privatfernsehsender behaupten unseren "freien" und unverklemmten Umgang mit Sexualität, man könnte es auch den Übergang in die konsumierbare, marktwirtschaftlich verwertbare Form der Libido nennen. Aber das Theater, die alte Dame der darstellenden Künste, ziert sich.

Warum überlassen wir die Sexualität der Pornographie? Warum gestatten wir unserer Lust, Zärtlichkeit, Geilheit auf der Bühne nicht den gleichen Raum, den wir unserer Gewaltätigkeit einräumen?

Wiki sagt:
Sex erfüllt zahlreiche Funktionen: Er befriedigt die Libido, dient in Form des Geschlechtsverkehrs der Fortpflanzung und drückt in der Regel als wichtige Form der sozialen Interaktion Gefühle der Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe aus. Besonders in Liebesbeziehungen kann das Sexualleben eine zentrale Rolle als Ausdruck der Verbundenheit der Partner spielen. Er ist jedoch nicht ausschließlich an Liebesbeziehungen bzw. Partnerverbundenheit gekoppelt.


Samstag, 7. April 2012

William Butler Yeats - Die Wiederkunft

 

Alles anders, völlig anders / Eine schreckliche Schönheit wurde geboren

All changed, changed utterly / A terrible beauty is born

aus: Ostern 1916

Dann, 1919, der Erste Weltkrieg ist kaum vorüber, der Erste, wie einfach sich das schreibt, der Erste war er wohl nicht, traf auch nicht die ganze Welt und doch war er neu, anders, alle bekannten Vorstellungen erschütternd. Eine ganze Generation englischer Dichter, wie Wilfred Owen, Isaac Rosenberg, Robert Graves, Wilfried Sassoon, Edward Thomas wurde von ihm ins Schreiben gestossen, fielen in seinen Schlachten oder schleppten sein Gewicht den Rest ihres Lebens in ihre Arbeiten.

Yeats, 1919 bereits 54 Jahre alt, war nicht Soldat, aber der Krieg, der blutig niedergeschlagene Irische Aufstand 1916, wohl auch die Ereignisse in Russland weckten in ihm ein beunruhigtes und beunruhigendes Gefühl von unumkehrbarer Veränderung.

Das Tier, das aus dem Meer steigt (Off 13,1-18). Fresko von Giusto de Menabuoi (1320-1397) im Baptisterium von Padua (1376). 


William Butler Yeats

Das zweite Kommen

Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen
Hört der Falke seinen Falkner nicht;
Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr;
Und losgelassen nackte Anarchie,
Und losgelassen blutgetrübte Flut, und überall
ertränkt das strenge Spiel der Unschuld;
Die Besten haben keine Meinung mehr, die Schlimmsten
Sind von Kraft der Leidenschaft erfüllt.
Gewiß, eine Offenbarung steht bevor;
Gewiß, die Wiederkunft steht jetzt bevor.
Die Wiederkunft! Kaum ausgesprochen
Trübt groß eine Vision des Geists der Welt
Mir meine Sicht: Irgendwo im Wüstensand
Die Form eines Löwen mit dem Kopf eines Mannes,
Der Blick, wie die Sonne, leer und mitleidlos,
Bewegt seine Schenkel langsam, und rings umher
Schwirren die Schatten empörter Wüstenvögel.
Wieder bricht Dunkel herein - doch nun weiß ich,
Daß zwanzig Jahrhunderte seines steinernen Schlafes
Zum Albtraum erweckt worden sind vom Schaukeln einer Wiege:
Und welch rohes Tier, seine Zeit nun gekommen,
Kriecht auf Bethlehem zu,
um geboren zu werden?

Übersetzung
von Walter A. Aue, von mir bearbeitet 


The Second Coming

Turning and turning in the widening gyre
The falcon cannot hear the falconer;
Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.

Surely some revelation is at hand;
Surely the Second Coming is at hand.
The Second Coming! Hardly are those words out
When a vast image out of Spiritus Mundi
Troubles my sight; somewhere in sands of the desert
A shape with lion body and the head of a man,
A gaze blank and pitiless as the sun,
Is moving its slow thighs, while all about it
Reel shadows of indignant desert birds.
The darkness drops again; but now I know
That twenty centuries of stony sleep
Were vexed to nightmare by a rocking cradle,
And what rough beast, its hour come round at last,
Slouches towards Bethlehem to be born?



Die Offenbarung des Johannes Kapitel 13 - Die Zwei Tiere

Und ich trat an den Sand des Meeres und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung.  Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Parder und seine Füße wie Bärenfüße und sein Mund wie eines Löwen Mund. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und große Macht. Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund; und seine tödliche Wunde ward heil. Und der ganze Erdboden verwunderte sich des Tieres  und sie beteten den Drachen an, der dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kriegen?
Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, dass es mit ihm währte zweiundvierzig Monate lang. Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen und seine Hütte und die im Himmel wohnen. Und ward ihm gegeben, zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden; und ward ihm gegeben Macht über alle Geschlechter und Sprachen und Heiden. Und alle, die auf Erden wohnen, beten es an, deren Namen nicht geschrieben sind in dem Lebensbuch des Lammes, das erwürgt ist, von Anfang der Welt.
Hat jemand Ohren, der höre!  So jemand in das Gefängnis führt, der wird in das Gefängnis gehen; so jemand mit dem Schwert tötet, der muss mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen.
Und ich sah ein anderes Tier aufsteigen aus der Erde; das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache. Und es übt alle Macht des ersten Tiers vor ihm; und es macht, dass die Erde und die darauf wohnen, anbeten das erste Tier, dessen tödliche Wunde heil geworden war;  und tut große Zeichen, dass es auch macht Feuer vom Himmel fallen vor den Menschen; und verführt, die auf Erden wohnen, um der Zeichen willen, die ihm gegeben sind zu tun vor dem Tier; und sagt denen, die auf Erden wohnen, dass sie ein Bild machen sollen dem Tier, das die Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war.
 Und es ward ihm gegeben, dass es dem Bilde des Tiers den Geist gab, dass des Tiers Bild redete und machte, dass alle, welche nicht des Tiers Bild anbeteten, getötet würden. Und es macht, dass die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Knechte allesamt sich ein Malzeichen geben an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, dass niemand kaufen oder verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen, nämlich den Namen des Tiers oder die Zahl seines Namens.
Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.

Freitag, 6. April 2012

Rainer Maria Rilke - Karfeitag



"Mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst." Matth.26


Vincent van Gogh 1889 Der Olivengarten

DER ÖLBAUMGARTEN

Er ging hinauf unter dem grauen Laub
ganz grau und aufgelöst im Ölgelände
und legte seine Stirne voller Staub
tief in das Staubigsein der heißen Hände.

Nach allem dies. Und dieses war der Schluss.
Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,
und warum willst Du, dass ich sagen muss
Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.

Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.
Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.
Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.

Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht bist. O namenlose Scham...

Später erzählte man: ein Engel kam -.

Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen.
Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.
Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.

Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;
so gehen hunderte vorbei.
Da schlafen Hunde und da liegen Steine.
Ach eine traurige, ach irgendeine,
die wartet, bis es wieder Morgen sei.

Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,
und Nächte werden nicht um solche groß.
Die Sich-Verlierenden lässt alles los,
und sie sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß..

Rainer Maria Rilke
Aus: Neue Gedichte (1907) 

Todesangst in Gethsemane Andrea Mantegna um 1460 


Donnerstag, 5. April 2012

BEIGE ?


Wiki sagt:
Die Farbe Beige umfasst eine Folge von unbestimmt warmen, weißlichen Brauntönen.

Wenn man die Etymologie nachschlägt, findet man nur: das Wort stammt aus dem Französischen, bezeichnet ungefärbte Baumwolle und ist halt beige - beige ist beige, irgendwie nicht weiss, nicht gelb, nicht braun. Es sei ein Synonym für naturfarben. Aber was soll das sein? Natur in beige? Sand. Staub. Stein. Hm. Alle drei setzen sich aus vielen Farben zusammen, die nur in der Vermischung, Zusammenstellung und bei bestimmtem Licht scheinbar verblassen. 

Der Staub auf Olivenbäumen. Der ist gräulich. Beige waren die Windjacken der "unauffälligen" Männer in der DDR. Und dort war Beige auch eine häufig verwendete Farbe, um Häuser zu verputzen. Alte Computer sind beige. Bei beigen Wänden fällt der Schmutz nicht so auf, also waren Krankenhauszimmer früher oft so gestrichen.
 
Werbespot DDR - Trabant 601 

Das Englische hat für nicht-ganz-weißes Weiß das schöne Wort "off-white", bei uns heißt das cremefarben, ist also auch nicht beige. 

WAS IST BEIGE? Eine Fast-Farbe. Erbleichtes Braun, vergilbtes Weiß, gebräuntes Gelb. Bräunlich, gelblich, weißlich. Zögerlich. Feig. Auf halbem Weg. Aber als Kontrastfarbe zu gebrauchen.

 Die Atacama Wüste in Chile
Beige?

Cosmic latte ist der Name, den Astronomen der Johns Hopkins Universität in Baltimore/Maryland, der durchschnittlichen Farbe des Universums gegeben haben. Nach ihren Untersuchungen ergibt die Summe des Lichtes im Universum ein leicht beiges Weiß.
 Der Name entstand, als einer der Wissenschaftler nachdenklich in seinen Starbuck's Kaffee starrte.


Mittwoch, 4. April 2012

e.e. cummings - morning


als du fortgingst war es morgen

als du fortgingst war es morgen
(das ist,große pferde;licht befingert
strassen;füße nehmen schuhe (wohin?) ein welpe
hastig buckelnd über abfall;ein benachbarter

karren eindrucksvoll leer;kichernde
ladentüren aufgeschlossen von weiß-maden
gesichtern) klamotten in delikatem tumult

standest du an irgendetwas denkend,

vielleicht die welt....Aber ich habe mich seitdem gefragt
ist es nicht wirklich merkwürdig von dir
wie eine elegante angenehme blume zwischen meinen

amüsierten beinen zu liegen
                                           küssend mit kleinen dellen

von april, die obszön schüchternen brüste
kitzeln machend,lachend wenn ich welke und zucke

   Schatten der Vergangenheit © Lyubomir Bukov

when you went away it was morning 
when you went away it was morning
(that is,big horses;light feeling up
streets;heels taking derbies (where?) a pup
hurriedly hunched over swill;one butting

trolley imposingly empty;snickering
shop doors unlocked by white-grub
faces) clothes in delicate hubbub

as you stood thinking of anything,

maybe the world….But i have wondered since
isn’t it odd of you really to lie
a sharp agreeable flower between my

amused legs
                kissing with little dints

of april,making the obscene shy
breasts tickle,laughing when i wilt and wince
 
e.e. cummings 
From & [AND] | 1925 
 

Dienstag, 3. April 2012

P183 - Graffitti


"Was ich tue, ist bedeutsamer, als wer ich bin, die Menschen sollen meine Arbeiten kennen, nicht mein Gesicht." P183

P183 ist der Künstlername eines russischen, genauer Moskauer Strassen Künstlers. Er arbeitet anonym, heisst vielleicht Pawel, seinen Kopf und das Gesicht bedeckt er mit einer Bankräubermütze und er mag keine Vergleiche mit Banksy, "Ich respektiere Banksys Arbeit, aber sie ist keine Inspiration für mich." Parallelen zu sehen, läßt sich aber doch nicht ganz vermeiden. Wahrscheinlich ist es der Realität Russlands zu schulden, dass seine Arbeiten, schwerer, unheiterer wirken, als die des englischen Graffitti-Malers.



Brücken-Brandstifter
"Es ist all jenen gewidmet, die Brücken anzünden, über die sie gehen könnten. Es ist für alle, die bewusst auf etwas Großes verzichten, um etwas Bedeutenderes zu bewahren" P183




"Anti-Putin Proteste sind das Beste was Russland in den vergangenen Jahren passiert ist. Die, die auf die Strassen gehen, Haben keine Angst. Es ist die Geburt einer Bürger-Gesellschaft in Russland." P183
"Anti-Putin protests are the best thing that has happened to Russia in recent years, those who take to the streets are not afraid of anything. It’s the birth of a civil society in Russia. "


Quellen: Spiegel online Benjamin Bidder "Der Russe mit der Hasskappe"

Montag, 2. April 2012

GRAU




Jede Farbe ist mir recht. Hauptsache sie ist grau.
Bertolt Brecht


Die Grauzone graut. Im Morgengrauen esse ich mein Graubrot. Ich bin in Ehren ergraut,
Die Grauen Panther, in grauer Vorzeit, die graue Eminenz.  
Es wird ein gräulicher Tag,
Grau. 
Aber auch: "Heinrich, mit graut vor Dir", du bist grausam, ich graule mich vor Dir, das alltägliche Grauen.
Es wird ein gräulicher Tag.
 Das Grauen. 

Grauen - Im Deutschen ist das sowohl, obgleich das Erstere nicht mehr so gebräuchlich ist, das Grauwerden von etwas, als auch das Grauen, das man vor etwas empfindet. Man könnte also durch Grauen grauen. Und gräulich schreibt man jetzt auch, nicht mehr greuliche Greuel, sondern gräuliche Gräuel.  
Diese Doppelbedeutung von grau, der Farbe und dem 'grau' aus grausam,verändert mein inneres Bild der Farbe. Ich mag Grau, aber graue Tage sind gräulich und Grauenerweckendes möchte ich vermeiden.


Wiki sagt: Als Grau wird ein Farbreiz bezeichnet, der dunkler als Weiß und heller als Schwarz ist, aber keinen farbigen Eindruck erzeugt. Grau besitzt keine Buntheit, es ist eine unbunte Farbe. Alle Abstufungen zwischen reinem Weiß und reinem Schwarz werden als Graustufen bezeichnet.


Grey Daisy painting
Graues Gänseblümchen

Marilyn Manson: "Jemand sagte, "Warum malst Du nicht mal was Nettes, sowas wie eine Blume?"  Da habe ich eine gemalt, aber letztendich habe ich nur das schmutzige Wasser von einem anderen Bild benutzt. Wäre ich nicht ich, würde ich dieses haben wollen."
"Someone said, 'Why don't you ever paint something nice, like a flower?' So I painted one, but I ended up using only the dirty water from another painting. If I wasn't me, I would probably want this one." 

Grau, Liass & Mats 2011


DIE STADT

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
   aUnd durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn' Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

Theodor Storm

Die Anapher (von griechisch ἀναφορά: anaphorá: das Zurückführen, die Rückbeziehung; ist eine rhetorische Wortfigur; sie bezeichnet die (einmalige oder mehrfache) Wiederholung eines Wortes (oder einer Wortgruppe) am Anfang aufeinander folgender Verse,Strophen, Sätze oder Satzteile. So dient sie der Strukturierung und Rhythmisierung von Texten.

Andrea Quaratesi, 1532, Michelangelos Lieblingsschüler


Himmel grau und wochentäglich

Himmel grau und wochentäglich!
Auch die Stadt ist noch dieselbe!
Und noch immer blöd und kläglich
Spiegelt sie sich in der Elbe.

Lange Nasen, noch langweilig

Werden sie wie sonst geschneuzet,
Und das duckt sich noch scheinheilig,
Oder bläht sich, stolz gespreizet.

Schöner Süden! wie verehr ich

Deinen Himmel, deine Götter,
Seit ich diesen Menschenkehricht
Wiederseh, und dieses Wetter!

Heinrich Heine





Samstag, 31. März 2012

BUNT


EIN BUNTES TREIBEN

Bunt, bunt, bunt sind alle meine Kleider,
Bunt, bunt, bunt ist alles, was ich hab.
Darum lieb ich alles, was so bunt ist,
Weil mein Schatz ein Maler, Maler ist.

Indische Pigmente © Dan Brady

Wiki sagt:
BUNT: bezeugt im Mittelhochdeutschen bunt „(vom Pelzwerk) schwarz-weiß (gefleckt)“, welches ab dem 13. Jahrhundert das ältere mittelhochdeutsche Wort vēh „vielfarbig“ ablöst, und zunächst ein reines Klosterwort war, welches eine schwarze Stickerei auf weißem Grund bezeichnete. Die weitere Herkunft des Wortes bleibt unklar.


Entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch werden in der Farblehre Weiß und Schwarz zu den „Farben“ gezählt. Für die Unterscheidung zwischen Weiß/Grau/Schwarz einerseits und den restliche Farben andererseits gibt es in der Fachsprache das Wort „bunt“. Es bezeichnet das, was die Alltagssprache „farbig“ nennt. „Bunt“ oder „Buntheit“ ist in der Farbtheorie die Reinheit, die bei Spektralfarben maximal ist, die also einen maximalen Farbsättigungsgrad haben. Mit dem Wort „unbunt“ werden dagegen Farben bezeichnet die keinerlei „Farb“eindruck hinterlassen.

Das Auge eines Studenten während Holi, in Chandigarh, in Indien 10.März 2009 © Reuters/Ajay Verma

Holi, das Fest der Farben, ist ein indisches Frühlingsfest am Vollmondtag des Monats Phalguna (Februar/März). Dieses „Fest der Farben“ dauert mindestens zwei, in einigen Gegenden Indiens auch bis zu zehn Tagen. Es wird der Frühling begrüßt und der Sieg des Guten über das Böse gefeiert.  

Der kindliche Prinz Prahlada sollte von seinem Vater überredet werden, ihm alle göttliche Ehre zu erweisen, der Junge jedoch verehrte weiterhin nur Vishnu. Mit verschiedenen Mitteln versuchte nun der König seinen Sohn zu töten, jedes mal jedoch griff Vishnu selbst ein und rettete das Kind. Schließlich griff der König zu einer List: Seine Schwester Holika, eine Dämonin, die durch besondere Kräfte vor dem Feuer geschützt war, sollte mit Prahlada auf dem Schoß ins Feuer springen und ihn so verbrennen. Aber die Flammen verschonten das Kind und von Holika blieb nur ein Häufchen Asche. Danach feiern die Menschen als Erinnerung an die Vernichtung der Dämonin das Fest Holi.

Für die Dauer der Feierlichkeiten, so sagt man, sind die strengen Kasten-, Klassen- und Geschlechterschranken aufgehoben. Die Menschen bewerfen einander mit duftendem Farbpuder und Parfumen, dann wird mit riesigen Feuern, die Verbrennung der Holika zelebriert. 

Die traditionellen natürlichen Farbpigmente waren gleichzeitig medizinische Kräuter, die ayurvedische Heiler zur Behandlung der üblichen Frühlingskrankheiten, wie Heuschnupfen und Erkältungen, verwendeten.



DAS WIRD MIR ZU BUNT!

Freitag, 30. März 2012

Marie Curie - Adrienne Rich


 Marie Curie

Macht

Lebend   in den Erd- Ablagerungen   unserer Vergangenheit

hat HEUTE ein Grabenbagger   aus einer zerbröckelnden Fläche Erde
eine Flasche   bernsteinfarben   perfekt   einhundert Jahre alt   enthüllt
Heilmittel für Fieber  oder Melancholie  ein Tonic
um auf dieser Erde zu überleben   in den Wintern dieses Klimas

HEUTE habe ich über Marie Curie gelesen:
sie muß gewußt haben, dass sie    an Strahlenkrankheit litt
ihr Körper jahrelang bombardiert von dem Element
das sie läuterte
es scheint als hätte sie bis zum Ende 
die Ursache der Katarakte in ihren Augen geleugnet
die aufgesprungene und eiternde Haut   ihrer Fingerspitzen
bis sie kein   Reagenzglas und keinen   Bleistift mehr halten konnte

Sie starb als berühmte Frau   ihre Wunden
verleugnend
verleugnend
dass ihre Wunden   wie ihre Macht   aus der gleichen Quelle   stammten  

Adrienne Rich
Adrienne Rich starb am 27. März 2012 82-jährig in Kalifornien. 

Nobel Preisträgerin Marie Curie besucht Canonsburg

Power

Living   in the earth-deposits   of our history

Today a backhoe divulged   out of a crumbling flank of earth
one bottle   amber   perfect   a hundred-year-old
cure for fever   or melancholy   a tonic
for living on this earth   in the winters of this climate

Today I was reading about Marie Curie:
she must have known she suffered   from radiation sickness
her body bombarded for years   by the element
she had purified
It seems she denied to the end
the source of the cataracts on her eyes
the cracked and eiing skin   of her finger-ends
till she could no longer hold   a test-tube or a pencil

She died a famous woman   denying
her wounds
denying
her wounds   came   from the same source as her power

Adrienne Rich
The Fact of a Doorframe: Poems Selected and New 1950-1984. New York: Norton, 1984.

  Marie Curie mit ihren Kindern