Montag, 14. November 2011

Ein albernes Löwengedicht & Pirosmani 2


Landgraf Ludwig und der Löwe

Der heil'ge Ludwig tritt hervor
Aus Wartburgs hochgewölbtem Thor,
Er grüßet fromm den Morgenstrahl
Und schaut herab auf Stadt und Thal.

Und als er so hinunterschaut,
Schreckt ihn ein donnergleicher Laut.
Er wendet sich nach dem Geschrei,
Und sieht bestürzt den Löwen frei,

Den Löwen, den man ihm geschenkt,
Der seinen Kerker heut gesprengt; —
Sein Haupt, vom Mähnenhaar umrollt,
Bewegt er wild, die Stimme grollt.

Und seiner Augen Flammenstern
Ist starr gerichtet auf den Herrn,
Doch dieser blickt so fest ihn an,
Wie ihm der Löwe kaum gethan.

Und Auge fest in Auge ruht,
Der Landgraf aber droht voll Muth:
„Gleich lege dich, mein edles Thier!
Bei meinem Zorn befehl' ich's dir!"

Da hat der Löwe sich, erschreckt,
Zu Ludwigs Füßen hingestreckt,
Es hielt die Riesenkraft im Bann
Der Zornblick von dem frommen Mann.

Ein fester Blick, ein kühner Muth,
Die sind zu allen Zeiten gut.
Der Leu des feindlichen Geschicks
Weicht oft dem Feuer kühnen Blicks.

Ludwig Bechstein

 Nico Pirosmani

Rainer Maria Rilke - Die Stimmen & Nico Pirosmani


Die Stimmen

Neun Blätter mit einem Titelblatt


Titelblatt

Die Reichen und Glücklichen haben gut schweigen,
niemand will wissen was sie sind.
Aber die Dürftigen müssen sich zeigen,
müssen sagen: ich bin blind
oder: ich bin im Begriff es zu werden
oder: es geht mir nicht gut auf Erden
oder: ich habe ein krankes Kind
oder: da bin ich zusammengefügt...

Und vielleicht, daß das gar nicht genügt.

Und weil alle sonst, wie an Dingen,
an ihnen vorbeigehn, müssen sie singen.

Und da hört man noch guten Gesang.

Freilich die Menschen sind seltsam; sie hören
lieber Kastraten in Knabenchören.

Aber Gott selber kommt und bleibt lang
wenn ihn diese Beschnittenen stören. 

 Niko Pirosmani Kinderloser Millionär und arme Frau gesegnet mit Kindern

1862 - 1918 Niko Pirosmanashvili in Georgisch: ნიკო ფიროსმანი, gebürtig ნიკოლოზ ასლანის ძე ფიროსმანაშვილი = Nikolos Aslanis dse Pirosmanaschwili ist ein georgischer Maler. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt, er arbeitete als Diener, Schaffner und versuchte ein kleines Geschäft zu eröffnen, das aber schnell Pleite ging, seit 1902 lebte er obdachlos im Bahnhofsviertel von Tiflis. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit dem Malen von Kneipenschildern und Gelegenheitsarbeiten. Er tauschte seine Gemälde in den Kaschemmen gegen Essen, Trinken oder einen warmen Platz zum Übernachten ein.
Pirosmani starb am 9. April 1918 an Unterernährung und Leberversagen. Zuvor hatte er drei Tage lang krank und hilflos in einem Keller gelegen. Er wurde auf dem St.-Nino-Friedhof begraben. Die genaue Lage des Grabs ist mangels Registrierung unbekannt. (Wikipedia)

Es gibt einen wunderschönen Film über ihn, den ich vor 30 Jahren in meinem "immer noch" Lieblingskino, der Camera in der Oranienburgerstrasse, da wo heute das Tacheles ist, gesehen habe: Pirosmani. Regie: Giorgi Schengelaja , UdSSR, 1971.

Der blaue Junge


Der Knabe in Blau, vermutlich das Porträt eines englischen Knaben names Jonathan Buttall. Im 18. Jahrhundert gemalt, steht der Junge in der Kleidung des 17. Jahrhunderts, sehr klar und kühl, vor einer rauen und sturmzerfetzten Landschaft. Kein Haar ist verweht, die Federn am Hut in seiner Hand sind auch gänzlich unbewegt. Wie ein Gemälde vor einem Gemälde, frühe Blue-Box Technik sozusagen.

Der Knabe in Blau 1770 Thomas Gainsborough

1796 mußte Jonathan Konkurs anmelden und sein Portrait verkaufen. Nach verschiedenen Besitzerwechseln wurde es 1922 nach Amerika, genauer nach Kalifornien, verkauft. Der Direktor der Londoner Nationalgalerie schrieb zum Abschied: "Au Revoir, C.H." auf die Rückseite des Bildes.


Gainsborough hat auch noch einen Knaben in Pink gemalt. 

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts trugen Babies übrigens meist geschlechtsunabhängiges weiß, wenn die Eltern es sich denn leisten konnten. Erst dann und noch bis zum Beginn des 2. Weltkrieges wurden Blau und Pink zu geschlechterspezifischen Farben für Kleinkinder. Aber Pink galt damals als maskuline Farbe, verdünntes Rot sozusagen und deshalb üblich für Knaben. Kleine Mädchen trugen gewöhnlicherweise blau, weil es, wie es in einer Werbeschrift aus den 20ern heisst, die "delikatere"Farbe sei.

"...a June 1918 article from the trade publication Earnshaw's Infants' Department said, “The generally accepted rule is pink for the boys, and blue for the girls. The reason is that pink, being a more decided and stronger color, is more suitable for the boy, while blue, which is more delicate and dainty, is prettier for the girl.” Other sources said blue was flattering for blonds, pink for brunettes; or blue was for blue-eyed babies, pink for brown-eyed babies, according to Paoletti.
In 1927, Time magazine printed a chart showing sex-appropriate colors for girls and boys according to leading U.S. stores. In Boston, Filene’s told parents to dress boys in pink. So did Best & Co. in New York City, Halle’s in Cleveland and Marshall Field in Chicago.

 

Vermutlich war die Knabenportraits eine Hommage an den holländischen Maler van Dyk.

Van Dyk 1637/38 Portrait Charles II.

Nina Simone singt "Little girl blue"


Der Knabe in Blau, inspiriert von Gainsboroughs Gemälde, war der erste Film von Friedrich Wilhelm Murnau. Der Film aus dem Jahr 1919 wurde möglicherweise nie öffentlich gezeigt und gilt als verschollen.



Little Boy Blue


Little Boy Blue come blow your horn,
The sheep's in the meadow the cow's in the corn.
But where's the boy who looks after the sheep?
He's under a haystack fast asleep.
Will you wake him? No, not I - for if I do, he's sure to cry.



Sonntag, 13. November 2011

Iwan Goll und Claire Goll


IWAN GOLL (geb. Isaac Lang) 
Geboren in Saint-Die am 29. März 1891,
gestorben in Paris am 27. Februar 1950,
von 1919 bis zu seinem Tod verheiratet mit CLAIRE GOLL.

Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als   Deutscher bezeichnet."

 Handabdrücke des Dichterpaars Yvan (links) und Claire Goll, genommen 1947

CLAIRE GOLL (geb. Clara Aischmann)
Geboren in Nürnberg am 29. Oktober 1890,
gestorben in Paris am 30. Mai 1977.

„Frauen können von vielem träumen, wovon Männer sich nichts träumen lassen.“


Hedwig Warmbier, Blumenfrau auf dem Potsdamer Platz

Wie schwer wird deinem Arm das Glück Italiens
Und die Last der Gärten!
Viel Taunächte und Rosenabende,
Gitarren, Hundegebell, Windschmeichelei,
Wie schwer das ganze Glück des Frühlings!

Aber laß dich vom Gebrüll umtaumeln,
Pferde zerwiehern dein Gebet,
Autobusse flattern
Über dich hin. -  -

Höher halte die Anemonenflamme!
Höher deine Asphodelen!
(Zwei Knaben stehlen
Dir ein Krokusbund)
Höher wie eine Heilige
Hebe die Blumen in die graue Stadt.

Iwan Goll, 1919


Ode an den Herbst
Zweite Fassung

Warum zerreißen die Ulmen
Schon ihr Gewand
Und schlagen um sich mit den Armen
In irrer Besorgnis?
Des Sommers goldene Ruhe
Hat sie verlassen.
Verloren sind die Schlüssel
Die Schlüsselblumen des Glücks
Im grauen Grase,
Und schon vergessen
Verklingen im Abgrund
Die Schwüre der Liebe.

Der große König
Der seltsam Wissende
Herrscher des Waldes
Er gibt den Kampf auf
Gegen die Wolken,
Er läßt sein rostiges
Szepter fallen,
Der Apfel der Weisheit
Und alle Kronjuwelen
Verfaulen.

Im brüchig rasselnden
Geißblattgeranke
Klopfet die Angst des Iltis
Und über dem Teiche
Zerbricht die Libelle
Wie tönendes Glas.

Nur die Zentauren
Im roten Barte
Sie rennen erfreut
Mit funkelnden Hufen
Die Hügel ab,
Und ihre Spuren
Verglimmen im Moose.

Es lösen die Blätter
Sich ab von den Stämmen
Wie wehe, wie wehende Hände;
Sie schichten unten
Ein kupfernes Grab
Den sterbenden Vögeln.

In den Ruinen
Der Vogelburg wohnt noch
Die nächtliche Eule
Mit großen Augen
Das Schicksal beleuchtend.

Iwan Goll

Ich lebe nicht, ich liebe

Aus allen Poren strömt mir die Liebe.
Meine Muskeln sind gespeist von Deiner Liebe.
Ich habe nur rote Blutkörperchen vor lauter Liebe.
Mein Haar ist gelockt von der Liebe.
In allen Zungen singe ich, daß ich dich liebe.
Tanzen muß ich immer aus Liebe
Bin ich krank vor Liebe?
Oder gesund aus Liebe?
Ich lebe nicht, ich liebe.
Ich kann nicht sterben, weil ich dich liebe.
 
Ivan Goll an Claire Goll

Geburtstag von Ivan Goll

Ich hab den Abendstern
Meinen Lieblingsschmuck
In einem Taxi verloren
Ich hab meinen Geliebten
Auf dem Spielplatz der Engel
Zwischen Mars und Frankreich verloren
Eine Regenzeit beginnt in meinen Augen
Die Raben tragen Trauer
Die jungen Vögel hören auf zu wachsen
Mein Liebster und der Abendstern
Waren ein - und derselbe:
Blumen streikt mit mir: hört auf zu lächeln!

Claire Goll an Iwan Goll

 

Liebe

Ich liebe die Stille zwischen uns
Dieselbe Stille wie zwischen Blumen.
Das leise Schweigen am Morgen,
Das lautere des Abends
Und das zitternde zu Mitternacht
Das um den Andern fürchtet.

Ich mag nicht, dass Menschen kommen
Und uns unsere Stille stehlen,
Die gross ist wie die Stille der Kathedralen.
Ach, wie sie es zerbrechen
Unser blaues Schweigen aus venetianischem Glas.
Ich könnte weinen, wenn Fremde kommen.
Nur die Vögel draussen verstehen uns
Und singen unsre Stille
Und machen uns noch stummer vor der Ewigkeit.
Stille, süsser Vorschuss auf den Tod,
Sag dem Geliebten wie ich ihn liebe.

Claire Goll 

Du bist zart

Du bist zart
Wie die Fingerabdrücke
Der Vögel im Schnee.

Du bist traurig
Wie die Pinie am Berg
Mit dem zerzausten Haar.

Du bist süss
Wie die Datteln
Biblischer Palmbäume.

Und ich betrüge dich,
Gerade weil du so sanft bist
Und so vollendet traurig.
Claire Goll

Freitag, 11. November 2011

Bambi - ein Waisenkind wird mißbraucht


Bambi, das Rehkitz, verliert seine Mama und ich bin sicher, hunderttausende Kinder sind deshalb schon in Tränen ausgebrochen. Gestern abend konnte ich nun im Fernsehen, Dank sei der Theaterwohnung und den vielen probenfreien Abenden, die, aus mysteriösen Gründen, Bambi-Verleihung genannte Großveranstaltung des Burda-Verlages verfolgen, allerdings mit dem Rücken zum Gerät. Die Tonspur allein genügte, wer weiß, was zusätzliche Bildüberflutung bei mir noch angerichtet hätte. Man hätte weinen können, jetzt weiß ich wieder, warum ich nicht Fernsehen gucke!



Ich weiß gar nicht, womit beginnen, Wiki sagt: Der Bambi ist laut Veranstalter ein Preis für „Menschen mit Visionen und Kreativität, die das deutsche Publikum in (dem jeweiligen) Jahr besonders berührt und begeistert haben“
Ich sage, es ist eine verlogene, ununterhaltsame, eitle Propagandaveranstaltung - Propaganda für ein verschwiemeltes Deutschland - gebündelt in ein "wir sind prima und halten zusammen Gefühl". Da wurde Unglaubliches miteinander in einen Topf geworfen: Schauspieler, die eine Rolle erfolgreich gespielt haben, Menschen, die Großartiges leisten, um soziale Not zu lindern, ein Soldat, der einen anderen Soldaten gerettet hat und dabei selbst schwer verletzt wurde, Jopi Heesters als Dauerpreisträger für's Überleben, Helmut Schmidt für was genau, weiß ich nicht, Rosenstolz für ihr Comeback, Justin Bieber fürs Singen (?), Gwyneth Paltrow für, ja für was, und, einen Tusch, Bushido, der Rapper aus dem wilden Neu-Koelln für ... Heißt es nicht eigentlich, die Guten ins Töpfchen, die...? Der Fakt, dass der Abend auch noch fast gänzlich ohne Witz oder wenigstens Humor war, wurde ob solcher Unverschämtheit, fast nebensächlich.



Noch einmal Wiki: Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten kann oder auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben....Scham kann auch durch Verfehlungen oder empfundene Unzulänglichkeit (Peinlichkeit) anderer ausgelöst werden, die einem gemeinschaftlich verbunden sind. Hierfür ist mitunter der Neologismus Fremdschämen gebräuchlich...

Lasst uns gemeinsam eine Minute schweigend fremdschämen.

Donnerstag, 10. November 2011

Caravaggio - Bacchus

1595, ein Junge, wahrscheinlich heißt er Mario Minniti, sitzt Model, ein Hemd als Toga über der linken Schulter drapiert, das Stückchen Matratze, das freibleibt, ist schmuddelig, ebenso die Fingernägel der kindlich-weichen Hände. Die Haut von Gesicht und Händen ist leicht gebräunt, der Körper blass, wie bei Menschen, die im Freien arbeiten. Der Kopfschmuck wirkt herbstlich und riesig, aus dem rundlich hinreißenden Gesicht, schauen die Augen müde und doch verführend. Er hält ein Weinglas einladend mit zierlich gespreizten Händen in der linken Hand. Man vermutet, das Caravaggio mit einer Art camera lucida, einer Spiegelkonstruktion gearbeitet hat, das Abbild also spiegelverkehrt ist. Die rechte Hand hält, tja was, eine schwarze Schleife, mit der die improvisierte Toga zusammen gehalten wird? Wird er sie lösen, wenn der Wein angenommen worden ist?

Ein Fast-Kind-Bacchus mit einer üppigen Fruchtschale, die Früchte halbverfault, vielleicht ein Vanitas Motiv. “Vanitas vanitatum, et omnia vanitas” (Prediger 1, 2) verdeutscht "Eitelkeit der Eitelkeiten", oder: alles ist eitel, nichtig, der Vergänglichkeit anheimgefallen.

In der Karaffe mit rotem Wein findet sich, das hat man erst bei der Reinigung des Gemäldes festgestellt, ein kleines Selbstportrait des Malers selbst, eine weitere "Spiegelung".

Jugend, Lust, Verfall und Tod in Harmonie, wie merkwürdig und schön.



Dienstag, 8. November 2011

Plätzchen


Wiki: Vielliebchen ist die Bezeichnung für zwei zusammengewachsene Früchte, besonders eine Mandel oder Haselnuss mit zwei Kernen.

Für Liebhaber von Plätzchen kommt jetzt eine gute Zeit und diese sind meine liebsten. Ich dachte allerdings bis gestern, als mir meine Mutter das Rezept schickte, sie hießen Philipchen, nach irgendeinem Philipp, der wahre Name ist um vieles schöner, oder?

Hellis Rezept

Vielliebchen         

Mürbteig:
250 g   Butter
100 g   einfacher Zucker
 25 g   Vanillezucker
eine gute Prise Salz
300 g   Mehl
 50 g   gehackte Nüsse
verrühren

(Die doppelte Menge ist besser, sonst werden es sehr wenige Vielliebchen)

kurz im Eisschrank ruhen lassen
dünn ausrollen
mit Glas ausstechen
mit verquirltem Ei bestreichen
kurz abbacken
warm mit einer Seite in Vanillezucker tunken
Himbeermarmelade auf einen Keks streichen und
einen anderen draufsetzen

Vielliebchen Essen: die Sitte, Zwillingsfrüchte oder die in Krachmandeln etc. vorkommenden Doppelkerne geteilt zu essen, worauf die Beteiligten sich beim Wiedersehen mit »Guten Morgen, Vielliebchen« zu begrüßen haben und derjenige, der dies zuerst tut, vom andern ein  Geschenk erwartet. Nach altfranzösischen Variationen dieses Spieless verliert z. B. derjenige, der zuerst aus der Hand des andern etwas annimmt, ohne J'y pense (»ich denke daran«) zu sagen, das Vielliebchen, oder es hat derjenige die Buße zu zahlen, der irgendwo ohne ein grünes Blatt angetroffen wird, woher die altfranzösische Redensart prendre quelqu'un sans vert, d. h. jemand überraschen, herrührt. Vielliebchen (im Französischen mißverständlich umgeformt in Philippine) ist eine volksetymologische Umformung des litauischen Wortes filibas, das die »Pärchen«, zwei Haselnußkerne in einem Gehäuse, bezeichnet.
aus Meyers Großem Konversations-Lexikon Leipzig 1909

Joni Mitchell - Blue


Blue - das vierte Album der kanadischen Liedermacherin Joni Mitchell, erschien 1971. 

Ich war 13 und noch mit dem wöchentlichen Anhören der Schlager der Woche auf RIAS beschäftigt, "Wer hat mein Lied so zerstört, Ma" von Daliah Lavi, zum Beispiel, und "Fremder Mann" von Marianne Rosenberg, und dann hatte Frank Schöbel einen Hit im Westen mit "Gold in Denen Augen", das war was! 

Ein Jahr später, nach der Jugendweihe, zu der ein Kassettenrekorder geschenkt worden war, haben wir versucht, unsere Lieblingslieder per Mikrophon direkt aus dem Radio mitzuschneiden. Oder im Kino, bei den "Blutigen Erdbeeren", Mikro in der Hand, viel Pst, Pst und die Hoffnung, dass "Something in the Air" von Thunderclap Newman doch noch hörbar wäre. In dem Film habe ich dann auch mein erstes Joni Mitchell Lied gehört, wenn auch nicht von ihr selbst gesungen, sondern von Buffy Sainte-Marie - "Circle Game". 

1971, das Jahr der "Weltfestspiele": mein Jahrgang wurde ein Jahr vorzeitig in die FDJ aufgenommen, um die Menge der Feiernden zu vergrößern und wir alle durften für die Dauer der "Spiele" plötzlich in Berlin auf dem Rasen sitzen, mit Unmengen "Ausländern" quatschen und knutschen, aber dann starb Walter Ulbricht mittendrin und alle hatten Sorge, dass die Feier wegen der Staatstrauer abgebrochen werden würde, und der Erich hat die Trauer auf die Zeit nach dem Ende der "Weltfestspiele" verschoben, oder den Tod ein paar Tage rausgezögert, da bin ich mir nicht mehr sicher.

Baumwoll-FDJ-Hemden konnte man durch intensives, mehrmaliges Waschen übrigens ausbleichen, so dass sie ein ganz klein wenig wie aus Jeansstoff aussahen.


Und so hat mich die Stimme von Joni Mitchell erst einige Jahre später erwischt. Diese Stimme, so klar, so zart und kräftig zugleich und mit solcher Leichtigkeit in der Höhe, und voll solcher Einsamkeit. Ich glaube wirklich, dass ich Einsamkeit in ihrem Gesang "höre". 

Sie hat alle Lieder selbst geschrieben, James Taylor und Stephen Stills haben gespielt, und in "Rolling Stones 500 größten Alben aller Zeiten", steht das Album auf Platz 30. Keine weibliche Musikerin hat es höher geschafft.

Blue songs are like tattoos
You know I've been to sea before
Crown and anchor me
Or let me sail away
Hey Blue, here is a song for you
Ink on a pin
Underneath the skin
An empty space to fill in
Well there're so many sinking now
You've got to keep thinking
You can make it thru these waves
Acid, booze, and ass
Needles, guns, and grass
Lots of laughs lots of laughs
Everybody's saying that hell's the hippest way to go
Well I don't think so
But I'm gonna take a look around it though
Blue I love you

Blue here is a shell for you
Inside you'll hear a sigh
A foggy lullaby
There is your song from me

© 1970; Joni Mitchell





Ein Lied über das Ende ihrer Beziehung mit Graham Nash. Der hat wiederum "Our House" für sie geschrieben!

Blue (unübersetzbar zwischen blau und traurig und dem Blues) 
Blue Lieder sind wie Tätowierungen, Du weisst, dass ich schon früher auf dem Meer war, kröne und verankere mich, oder laß mich fortsegeln. Hey, Blue, hier ist ein Lied für dich, Tinte in einer Nadel, unter der Haut eine leere Stelle zu füllen, Man, so viele versinken jetzt, du mußt weiter glauben, dass du es durch diese Wellen schaffen wirst, Acid, Alk, und Sex, Nadeln, Waffen und Gras, Viel Lachen viel Lachen, Jeder sagt, dass die Hölle der schickste Weg ist, wie man sich davonmachen kann, das glaube ich nicht, aber ich werde mich da mal umschauen, Blue, ich liebe dich.
Blue, hier ist eine Muschel für Dich, darinnen wirst du einen Seufzer hören, ein nebliges Kinderlied, Dort ist dein Lied von mir.


Blue
http://www.youtube.com/watch?v=hvLTH8-9Z1I
In Case of You
http://www.youtube.com/watch?v=5QZioxCg20I
Und weil es so schön ist, wenn auch nicht auf dem Album: Big Yellow Taxi
http://www.youtube.com/watch?v=ZgMEPk6fvpg

Sonntag, 6. November 2011

Tucholsky - Zille - Berlin - Sex

 

 Ach lege Deine Wange
 
Wenn ich mal wütend bin
Auf meinen Theo
Und er mir Szenen macht,
Weil ich mit Leo,
Wenn er dann "Dirne" schreit
Und wer weiß was spricht,
Wenn er mich gar bespeit,
Weil er so naß spricht,

Dann zürn' ich nicht,
Dann zank' ich nicht,
Dann schrei' ich nicht,
Dann schelt' ich nicht,
Dann bin ich liebenswürdig,
Liebenswürdig,
Liebenswürdig, liebenswürdig,
Ich hab' Kultur
Und ich sage nur:

"Ach, lege Deine Wange
Doch mal an meine Wange
Und bleibe da recht lange
Mit Deiner Wange,
Du süßer Herzens-Clown!
Ich kann Dir stundenlang,
Stundenlang, stundenlang,
In die Augen schau'n,
Ja, stundenlang.
   Tritt mir im Omnibus
Wer auf die Beine,
Wenn ich mal rausgehn muß
Und da ist schon eine,
Sitz' ich am Steuerrad --
Gott soll bewahren! --
Und schreit der Schupo "Wat?
Sie könn'n nicht fahren?"

Dann zürn' ich nicht,
Dann zank' ich nicht,
Dann schrei' ich nicht,
Dann schelt' ich nicht,
Dann bin ich liebenswürdig,
Liebenswürdig,
Liebenswürdig, liebenswürdig,
Ich hab' Kultur
Und ich sage nur:

"Ach, lege Deine Wange
Doch mal an meine Wange
Und bleibe da recht lange
Mit Deiner Wange,
Du süßer Herzens-Clown!
Ich kann Dir stundenlang,
Stundenlang, stundenlang,
In die - Schnauze hau'n,
Ja, stundenlang!
 
Kurt Tucholsky 
 
H. Zille Ringkampf in der Schaubude, 1903 

Heinrich Zille


Zweeter Uffjang, vierta Hof
wohnen deine Leute;
Kinder quieken: »Na, so doof!«
jestern, morjn, heute.
Liebe, Krach, Jeburt und Schiß ...
Du hast jesacht, wies is.

Kleene Jöhren mit Pipi
un vabogne Fieße;
Tanz mit durchjedrickte Knie,
er sacht: »Meine Sieße!«
Stank und Stunk, berliner Schmiß ...
Du hast jesacht, wies is.

Jrimmich wahste eijntlich nich –
mal traurich un mal munta.
Dir war det jahnich lächalich:
»Mutta, schmeiß Stulle runta –!«
Leierkastenmelodien ...
Menschen in Berlin.

Int Alter beinah ein Schenie –
Dein Bleistift; na, von wejn ... !
Janz richtich vastandn ham se dir nie –
die lachtn so übalejn.
Die fanden dir riehrend un komisch zujleich.
Im übrijen: Hoch det Deutsche Reich!

Malen kannste.
Zeichnen kannste.
Witze machen sollste.
Aba Ernst machen dürfste nich.
Du kennst den janzen Kleista –
den ihr Schicksal: Stirb oda friß!
Du wahst ein jroßa Meista.
Du hast jesacht, wies is.


Theobald Tiger
Die Weltbühne, 03.09.1929


Heinrich Zille 
Hurengespräche


Der Zyklus Hurengespräche erschien 1913 als Privatdruck des Verlags Fritz Gurlitt unter   dem Pseudonym W. Pfeifer und wurde von der preußisch-kaiserlichen Zensur auf der Stelle verboten.

„Hätt’n wir nich so dreckig jewohnt un’ wär’n nicht so arm gewesen, dann wär woll manches anders jeworden.“.


 
 


Gustave Courbet - Der verzweifelnde Mann


Der verzweifelnde Mann - Selbstporträt 1843-45, Gustave Courbet

Alchemie des Schmerzes
 
Der Eine füllt die Welt mit Glühn,
Dem Andern ist sie Schmerz und Grauen,
Er kann nur die Verwesung schauen,
Wo Jener Leben sieht und Blühn.

Du unbekannter Gott voll Listen,
Der meine Kräfte hemmt und spannt,
Du machst dem Midas mich verwandt,
Dem traurigsten der Alchimisten.

Du wandelst mir das Gold in Blei,
Das Paradies in Wüstenei;
Du lässt in lichten Wolkendecken

Geliebte Leichen mich entdecken
Und auf den himmlisch heitren Auen
Prunkvolle Sarkophage bauen.

Charles Baudelaire aus "Les Fleurs du Ma - Die Blumen des Bösen"
übersetzt von Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)



Der Ursprung der Welt 1866, Gustave Courbet