Montag, 10. Oktober 2011

Rilke - Schiele - Benn - Herbst

HERBSTTAG

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten reif zu sein
gib Ihnen noch zwei südlichere Tage

dräng sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr
wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird lesen, wachen, lange Briefe schreiben

und wird auf den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


Rainer Maria Rilke Herbst 1902


Egon Schiele Vier Bäume 1917
Egon Schiele Herbstsonne I - Sonnenaufgang 1912
Egon Schiele Pflaumenbaum 1909/10





Egon Schiele Herbstsonne 1914





Egon Schiele Herbstbaum in bewegter Luft 1912





Egon Schiele Kleiner Baum im Spätherbst 1911




Egon Schiele Herbstbäume 1911


ASTERN

Astern - schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du -
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,

Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht. 

Gottfried Benn

Sonntag, 9. Oktober 2011

Die Wohlgesinnten am Maxim Gorki Theater


Hm. Vorweg, ich habe den Roman nicht gelesen und teile die Einwände mancher nicht, dass man dann dem Abend nicht folgen könnte. Im Gegenteil, ich wünschte, ich wäre mehr verwirrt, irritiert, verstört worden. 
Nachdem Peter Kurth, als alter Max Aue, (er wird später noch wunderbar Klarinette spielen.) aus dem ersten Rang, den Prolog, gespickt mit schweren Pausen, beendet hatte, wusste ich, für meinen Geschmack, bereits zu viel. Vereinfacht: auch in mir steckt die Möglichkeit des Unmenschen, des Mörders, des Monsters. Ja. Schrecklich. Mit diesem schwer erträglichen Gedanken mußte ich mich bereits vor Jahren unwillig, doch intensiv beschäftigen und werde mit der Auseinandersetzung damit wohl auch nie zu einem Ende kommen. Aber ich habe an diesem Abend wenig Neues erfahren, nur fühlte ich mich gelegentlich schwerfällig belehrt. Ganz ungewöhnlich für Armin Petras, dessen Arbeiten mich oft auf den Rand des Sitzes treiben und mich dann tagelang beschäftigen.
Was folgt, ist ein hybrides, abgebremstes Gemisch aus chorischem Sprechen und Bewegen und manchmal fast simpler Individualisierung, Statisch, streng geformt, aber doch irgendwie behauptet privat und manchmal eigenartig illustrierend.
Die Bühne, ein riesiger, den Zuschauerraum und damit das Publikum widerspiegelnder Spiegel, wird im Lauf des Abends immer mehr schräg geneigt, ein toller Effekt, der aber nach 10 Minuten an Wirkung verliert und seltsam wenig bespielt wird. Ein einzelnes Cello (natürlich) begleitet lange Passagen. Wie immer am MGT sind großartige Schauspieler auf der Bühne, auch wenn ich sie alle schon glücklicher gesehen habe.
Ist diesem Thema mit Theater heute überhaupt noch nahe zu kommen? Lassen wir uns noch erschrecken? Ist Katharsis noch erreichbar? Und überhaupt wünschenswert? Oder, wie kann die intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung theatralisch gereizt werden? Ich weiß es nicht.

The Debt - Eine offene Rechnung - Helen Mirren

John Madden, Regisseur von "Shakespeare in Love", ok., aber auch von "Corellis Mandoline" einem unsäglich sentimentalen Machwerk, dass Nicolas Cage nahezu pausenlos mit tränenfeuchten Augen und zitternder Unterlippe durchleidet, hat einen neuen Film gedreht, der mich überrascht hat. Ein Agententhriller dachte ich, kenne ich, weiss ich wie es geht. Ansehen und vergessen, aber doch ansehen, weil Helen Mirren mitspielt. 

Und dann sehe ich einen klassischen Thriller, aber auch noch etwas anderes, aber was genau? 

Einen Film über drei Mossad-Agenten, die in den 60er Jahren einen in der DDR untergetauchten KZ-Arzt aufstöbern und nach Israel vor Gericht bringen sollen. Sie finden und kidnappen ihn, er entkommt unter psychologisch höchst komplizierten Umständen und... Und sie beschliessen, zu lügen. Um des eigenen Ansehens willen, und auch zum Wohle des Staates, dem sie dienen, melden sie bei ihrer Rückkehr den Tod des Gefangenen.

Zeitsprung. Die drei sind nun, als Helden verehrt, alt und erfolgreich geworden, und plötzlich wird der damals Entflohene und mittlerweile gut Verdrängte von einem Journalisten in einem russischen Krankenhaus wiedergefunden und wird zur Gefahr für die lang gelebte Lüge.

Es ist ncht wirklich ein guter Film, aber auch kein schlechter - weil die Schauspieler besser sind, als die Dramaturgie, und weil, in zwei Szenen, Dinge, den Holocaust betreffend, zur Sprache kommen, die meist unbefragt bleiben und weil Heldentum einmal nicht als ungebrochener, glorifizierter Zustand beschrieben wird. 

Und weil Helen Mirren mitspielt! Und hier mal ein paar ältere Photos, jetzt ist sie anders genauso schön.

Helen Mirren
Helen Mirren
Helen Mirren

Samstag, 8. Oktober 2011

Mascha Kaleko - Sozusagen grundlos vergnügt



Sozusagen grundlos vergnügt

Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
- Dass Amseln flöten und das Immen summen,
Dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.

Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht
und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freu mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem. Dass ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter;
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
- weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freue mich, dass ich… Dass ich mich freu.

Mascha Kaléko ("in meinen Träumen läuft es Sturm", dtv)


Das Mohnfeld bei Vetheuil von Claude Monet um 1880

Manchmal ist man fröhlich, auch wenn vieles dagegen spricht. Manchmal geht es einem einfach ungehörig gut. Ist das nicht herrlich? Wie öde wäre das Leben, wenn alles immer einen Sinn ergäbe. Demnächst bin ich wieder traurig ohne Anlaß.

Schwächen
Du hattest keine
Ich hatte eine:
Ich liebte.
Bertolt Brecht

Donnerstag, 6. Oktober 2011

The Rest is Noise - das 20. Jahrhundert hören von Alex Ross


Das Wenige, was ich über klassische Musik weiß, löst sich leider mit dem Beginn des letzten Jahrhunderts vollends in Verwirrung auf, 12-Ton Musik, atonale Musik - Begriffe und oft auch Töne, die mich verstört und hilflos zurücklassen. 
Und nun dieses Buch, Alex Ross ist Musik-Kritiker beim New Yorker, einer altehrwürdigen Wochenzeitschrift, berühmt für ihre Cartoons und Kunst/Theater/Musik-Beiträge und die beinah unglaubwürdig lange Liste ihrer berühmten Artikellieferanten, unter anderen: Roald Dahl, Sallinger, Phillip Roth, Nabokov, John Updike und Kurt Vonnegut 
Alex Ross kann schreiben, Kreuz- und Querverbindungen aufzeigen, und so Musik und Musiker in die politischen, künstlerischen und zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen, manchmal Grabenkämpfe, ihrer Zeit einordnen. 

Er kann Musik beschreiben, sinnlich und poetisch, und lustmachend aufs Anhören.

Er setzt einen Anfang: Richard Strauss, Gustav Mahler und den Fin de Siècle, um den Leser dann über fast 600 Seiten durch die vielfältigen und widersprüchlichen Verzweigungen des folgenden "musikalischen" Jahrhunderts zu führen. Er schreibt über musikalische Revolutionen und Revolten, Konterrevolutionen, Restaurationsversuche, Außenseiter, Trendsetter, Haßlieben und Freundschaften. Dabei legt er zwar ein besonderes Gewicht auf die amerikanischen Komponisten, aber nicht so, dass es unverhältnismäßig wirkt. Und die Kapitel über Nazi-Deutschland und die stalinistische Sowjetunion sind hochspannend und sehr ausführlich.

Ich höre jetzt vorsichtig aber neugierig klassische Musik des 20. Jahrhunderts. Nicht leicht, weiß Gott nicht, aber das Buch hat mir geholfen die gigantische Schwellenangst des totalen Laien zu überwinden. Zum Beispiel Arvo Pärt's Variationen zur Gesundung von Arinuschka haben mich sehr berührt.

 
Es gibt zum Buch eine Website mit vielen Musikbeispielen, eine weitere herrliche Möglichkeit des digitalen Zeitalters, oder?

Aus dem Englischen hat es Ingo Herzke übersetzt. 


Mittwoch, 5. Oktober 2011

Basel - Kunstmuseum - Schiele - Erich Lederer

Egon Schiele, Porträt Erich Lederer

Dieses Bild hängt im Kunstmuseum Basel, ist der schön, oder wie? Was das wohl für rote Dreiecke seien mögen?
 
Egon Schiele verstarb, erst 28 Jahre alt, am 31. Oktober 1918.

"Im Herbst 1912 machte Egon Schiele durch die Vermittlung seines Mentors Gustav Klimt die Bekanntschaft des Industriellen August Lederer, der als einer der führenden Spirituosenhersteller der Monarchie mit Fabriken in Ungarn und Böhmen zu Reichtum gelangt war. Gemeinsam mit seiner Frau Serena hatte Lederer eine bedeutende Kunstsammlung, insbesondere von Werken Klimts, angelegt. Auf Einladung Lederers traf Schiele am 21. Dezember 1912 auf dessen Anwesen im ungarischen Raab (heute Györ) ein, wo er mit der Familie des Gastgebers die Weihnachtsfeiertage verbrachte und ein Porträt des fünfzehnjährigen Sohnes Erich malte. Dazu entstanden um den Jahreswechsel 1912/13 zahlreiche vorbereitende Skizzen in verschiedenen Techniken und Ausführungszuständen, die das Modell in unterschiedlichen Haltungen wiedergeben. Mit Erich Lederer, der selbst künstlerische Ambitionen hegte, blieb Schiele zeitlebens in Kontakt, gab ihm Zeichenunterricht und porträtierte ihn in späteren Jahren noch mehrmals.








Basel - Helvetia - Nachträglich zum Tag der Einheit

Das ist "Helvetia", die weibliche Personifizierung der Schweiz, bzw. der Helvetier (ein gallischer Stamm, der das Schweizer Gebiet vor der römischen Eroberung bewohnte). Bettina Eichin hat die Skulptur geschaffen, die 1980 in Basel aufgestellt wurde.
Gefällt mir sehr. 
Sie hat ihre Symbole, den Speer und den Schild abgelegt, wahrscheinlich erschöpft von einer Reise durch die Schweiz, daher wohl der Koffer, und schaut nachdenklich rheinabwärts.
Nun stelle man sich die Goldelse oder Marianne oder die Freiheitsstatue oder auch unseren Reichsadler mal nachdenklich vor, innehaltend!
Als über die Nationalhymne der neuzugründenden DDR diskutiert wurde, soll Brecht, außer der später abgelehnten  "Kinderhymne", vorgeschlagen haben, die Hymne mit der Zeile: "Mir san ein Scheißvolk" zu beginnen. Vielleicht hätte das was genützt?


Montag, 3. Oktober 2011

Nick Hornby - Juliet Naked

Wie groß muß Erfolg sein, um Erfolg zu sein? Wie klein ist Glück, wenn es kein Glück mehr ist?

Nick Hornby - seine Romane wurden oft verfilmt - "High Fidelity" mit John Cusack als Plattenladenbesitzer, der die Urgründe von Liebe und Kunst in unterschiedlichsten Listen obskurer Langspielplatten unter noch obskureren Gesichtspunkten, zu ergründen sucht.
Oder "About a Boy", wo Hugh Grant einen nahezu erfolgreichen Windmühlenkampf gegen
die Verstrickung in menschliche Beziehungen kämpft. 
Immer geht es um Musik, immer um intensiv ignorierte Einsamkeit, immer um Verweigerung des eigenen Anspruches auf Verzweiflung oder Jubel. Die Figuren erlauben sich nicht, wirklich unglücklich zu sein, sie verspotten sich für ihre Erwartung von außergewöhnlichem Glück und beschreiben ihren Zustand von üblichem Elend mit Witz und Selbstironie und Unmengen musikalischer Zitate.

Wenn ich diese Bücher, kleine Bücher nenne, meine ich das keineswegs abwertend, weil Hornby selbst, wahrscheinlich, den Anspruch große literarische "Werke" zu schreiben, mit peinlich berührtem Gesicht und einigen bittersüßen Bonmots abwehren würde, um dann zu gehen und ein weiteres kleines, wahres Buch über Menschen, die er (und ich) kennen, zu schreiben.



Basel - Surrealismus in Paris

Basel - Foundation Beyeler - eine Austellung von 200 Meisterwerken des Surrealismus von Dali, Margritte, Miro, Man Ray etc., gesammelt, unter anderem, von Peggy Guggenheim und Andre Bretons erster Frau Simone Collinet. 
Man geht, in ehrender Referenz zur Internationalen Surrealismus Ausstellung 1938 in der Galerie Beaux-Arts in Paris, durch Ausstellungsräume mit Namen wie Rue Cerise, Rue d'une Perle, Rue de tous les Diables, was heißt, die Strasse sämtlicher Teufel oder Rue Nicolas-Flamel.*
Wie unterschiedlich diese Künstler gearbeitet haben! Hochindividuell haben sie sich, für eine Zeit, unter einem Konzept zusammengefunden, wie unter einem sehr großen Schirm.
Lautréamont in den "Gesängen des Maldoror" beschreibt die Schönheit eines Jünglings mittels einer Metapher die von den Surrealisten aufgegriffen wurde: „Er ist schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!“  So ging es mir mit dieser Ausstellung.

Man Ray, Seziertisch, Regenschirm, Nähmaschine
Apropos Lautréamont oder eigentlich Isidore Lucien Ducasse und Die Gesänge des Maldoror, ein Wahnsinnstext, 1874 erschienen und von wilder, dunkler Schönheit. Breton sagte dazu: Alles noch so Kühne, das man in den kommenden Jahrhunderten denken und unternehmen wird, es ist hier in seinem magischen Gesetz im voraus formuliert worden.

 "Ich bin der Sohn von Mann und Frau, wie man mir gesagt hat. Das erstaunt mich ... Ich glaubte, mehr zu sein. Außerdem, was kümmert's mich, wo ich herkomme? Ich, wenn es von meinem Willen abhinge, ich würde lieber der Sohn des Haifischweibchens sein, dessen Hunger Freund der Stürme ist, und des Tigers, mit seiner anerkannten Grausamkeit: dann wäre ich nicht so bösartig. Ihr, die ihr mich anseht, entfernt euch von mir, denn mein Atem strömt einen vergifteten Hauch aus. Niemand hat noch die grünen Furchen meiner Stirn gesehen; auch nicht die aus meinem mageren Gesicht herausspringenden Knochen, die den Graten irgendeines großen Fisches gleichen, oder den Felsen an den Ufern des Meeres, oder den jähen Alpenbergen, die ich oft durcheilte, als die Haare meines Hauptes von anderer Farbe waren. Und wenn ich um die Wohnungen der Menschen streife, in den stürmischen Nächten, mit heißen Augen, mit vom Sturmwind gepeitschten Haaren, allein wie ein Stein inmitten des Weges, dann bedecke ich mein gebrandmarktes Gesicht mit einem Stück Sammet, schwarz wie der Ruß, der das Innere der Schornsteine bedeckt: es ist nicht nötig, das die Augen die Häßlichkeit schauen, die der Erhabene mir mit einem haßerfüllten Lächeln auferlegt hat. Jeden Morgen, wenn für die anderen die Sonne aufgeht und dabei Freude und heilsame Wärme in der Natur verbreitet, während meine Züge unbeweglich bleiben und ich starr den nebelerfüllten Raum betrachte, im Grunde meiner geliebten Höhle zusammengekauert, in einer Verzweiflung, die mich trunken macht wie der Wein, dann zerdrücke ich mit meinen gewaltigen Händen meine zerfetzte Brust. Dennoch fühle ich, daß ich nicht von Wut besessen bin! Dennoch fühle ich, daß ich nicht der einzige bin, der leidet! Dennoch fühle ich, daß ich atme! Wie ein Verurteilter, der über sein Schicksal nachdenkend seine Muskeln prüft, bevor er das Schafott besteigt, so wende ich, auf meinem Strohlager stehend, mit geschlossenen Augen, langsam meinen Hals von rechts nach links, von links nach rechts, stundenlang. Ich falle nicht tot um. Von Zeit zu Zeit, wenn mein Hals sich nicht mehr in gleicher Richtung weiterbewegen kann, wenn er stillsteht, um in entgegengesetzter Richtung neu zu beginnen, betrachte ich plötzlich den Horizont durch die wenigen Zwischenraume im dichten Nebel, der den Eingang verdeckt: ich sehe nichts! Nichts... es seien denn die Gefilde, die mit den Bäumen und den langen, die Luft durchstreifenden Vogelzügen tanzend umherwirbeln. Das beunruhigt mein Blut und mein Hirn... Wer schlägt denn mit Eisenstangen auf mein Haupt, wie ein Hammer, der den Amboß trifft?
Aus: Lautréamont Die Gesänge des Maldoror (1869) Gesang I, Strophe 8
Max Ernst 
Der König spielt mit seiner Königin , 1944
René Margritte, La Belle de Nuit, c.1932
Francis Picabia Der Tier-Dresseur
*Flamel war Sohn zum Katholizismus konvertierter Juden und Alchimist. Er soll mit Hilfe des "Buches von Abraham dem Juden" den Stein der Weisen gefunden haben und so unsterblich geworden sein. Breton bezieht sich auf ihn im ersten surrealistischen Manifest.

Dali, dieses Bild habe ich nur zufällig gefunden zum obigen Zitat, es war nicht in der Ausstellung
 

Sonntag, 2. Oktober 2011

Basel - Die Götter weinen von Dennis Kelly im Theater

Ein Autor von dem ich nie vorher gehört hatte , ein Stück, das, nach Aussage von Kennern, ganz und gar anders ist, als die Stücke, die er gewöhnlich schreibt.
"Kelly wuchs in Barnet in einer irischen Familie auf und wurde katholisch erzogen. Sein Vater war Busschaffner und hatte insgesamt fünf Kinder. Kelly verließ mit 16 Jahren die Schule." Diese Information und ein Liste aufgeführter Stücke findet man auf Wikipedia. Nicht viel.
Das Stück gestern abend hat sich in mein Hirn geha(c)kt. Ursprünglich wohl mit 5 Stunden Spieldauer, gestern immer noch mit dreien, und damit noch mindestens 30 Minuten zu lang, ist es ein überraschendes, wagemutiges Ding. Nicht kleinteilig, nicht privatflüchtig, nicht randgruppenexotisch, erzählt es den Untergang einer Wirtschaftsdynastie nach dem Muster von König Lear. Und es spielt in überraschender Weise mit altbekannten dramatischen Formen und unseren Erwartunggewohnheiten hinsichtlich Dramaturgie und Sprache.
Ich habe gestern nur eine Strichfassung gesehen und muß das Original erst lesen, aber auch in der gestrigen, etwas unentschiedenen und sich letztendlich in den Naturalismus flüchtenden Form, hatte es einen großen Sog und eine geradezu unerbittliche Logik des Geschehens, die trotzdem, thrillerartig, unerwartete Wendungen zuließ. Spannend und analytisch und, welch Seltenheit, ja Peinlichkeit heutzutage, ganz offen politisch, ohne Zuflucht zu allegorischen Pappfiguren und Symbolismen zu nehmen. Ob es wohl daran liegt, dass er in Deutschland wenig gespielt wird?