Donnerstag, 18. August 2011

Sisyphos

 „Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.“
Homer Odyssee: 11. Gesang, 593–600 Übersetzung Schadewaldt

Persephone beaufsichtigt Sisyphos mit seinem Stein in die Unterwelt. Seite A von einer schwarzfigurigen attischen Amphora, um 530 v. Chr. Aus Vulci
„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. [...] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. […] Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Albert Camus Der Mythos des Sisyphos: 6. Aufl., Reinbek, 2004. S. 159f.

Tizian1549































CAMILLE. Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu verlieren!

DANTON er kleidet sich an. Aber die Zeit verliert uns. Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß Millionen es schon so gemacht haben, und daß Millionen es wieder so machen werden, und daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so daß alles doppelt geschieht – das ist sehr traurig.
Georg Büchner Dantons Tod Akt 2 Szene 1

Franz von Stuck 1920
Wenn kein Sinn darin ist, so erspart uns das eine Menge Arbeit, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen.
Lewis Caroll Alice im Wunderland


Mrs Sisyphus 

That’s him pushing the stone up the hill, the jerk.
I call it a stone – it’s nearer the size of a kirk.
When he first started out, it just used to irk,
but now it incenses me, and him, the absolute berk.
I could do something vicious to him with a dirk.
Think of the perks he says.
What use is a perk, I shriek,
when you haven’t the time to pop open a cork
or go for so much as a walk in the park?
He’s a dork.
Folk flock from miles around just to gawk.
They think it’s a quirk,
a bit of a lark.
A load of old bollocks is nearer the mark.
He might as well bark
at the moon –
that feckin’ stone’s no sooner up
than it’s rolling back
all the way down.
And what does he say?
Mustn’t shirk –
Keen as a hawk,
lean as a shark
Mustn’t shirk!
But I lie alone in the dark,
feeling like Noah’s wife did
when he hammered away at the Ark;
like Frau, Johann Sebastian Bach.
Her voice reduced to a squawk,
my smile to a twisted smirk;
while, up on the deepening murk of the hill,
he is giving one hundred per cent and more to his work.

Carol Ann Duffy

Mittwoch, 17. August 2011

Ein wirklich dicker Mann

Charles Mellin zugeschrieben, 1645, Porträt eines dicken Herrn, des sogen. Feldhauptmanns Alessandro del Borro
Del Borro studierte Mathematik und Mechanik und nahm später an den Kriegen gegen das  Ottomanische Empire teil und "verdiente" sich den Titel "Der Terror der Türken". Er fiel 1656 in einer Seeschlacht in der Nähe der Küste von Korfu.


Charles Mellin, 1597 in Nancy geboren, verbrachte den größten Teil seines Lebens in Italien, dort nannte man ihn Carlo Lorenese, Karl aus Lorraine. Er starb 1649.


"... Nehmen wir an, wir wollen einen massigen, wuchtigen Mann darstellen. Wir können das, indem wir eine kleine Figur in der Entfernung zeichnen, und die Perspektive und andere Objekte in der Nähe so einrichten, dass wir ihn als dicken Mann erkennen, obwohl die Form, die ihn darstellt, klein ist.
Aber wenn wir ihn nahe zur Bildfläche stellen, wie es ein Porträtmaler tuen würde, und ihn die vorhandene Bildfläche füllen lassen, dann wird auch die Fläche, die ihn darstellt, massiv sein und, wenn wir es wollen, wuchtig; hier, wird der Massigkeit des Mannes durch die Massigkeit der Gestaltungsfläche entsprochen...
(Ein Beispiel findet sich in) einem Gemälde, wie dem unschmeichelhaften Porträt des Feldhauptmanns Allessandro del Borro... Hier wird der Eindruck von Masse noch verstärkt durch die Positionierung des Hauptmanns zwischen Säulen, und indem die Augenhöhe des Betrachters auf der Höhe seiner Füßen liegt."


Aus: Monroe Beardsley in Aesthetics: Problems in the Philosophy of Criticism

"Das Fehlen spanischer Werke, vor allem solche des 17. Jahrhunderts, in der Gemäldegalerie machte nochmal ihre qualitative Unterlegenheit gegenüber den Museen in London und Paris deutlich, wo die spanische Schule gut vertreten war. Bode unternahm einiges, um diese Bestandeslücken zu schliessen, und holte sich dabei immer wieder Rat bei Justi. Allerdings äussert sich Justi immer wieder enttäuscht darüber, dass nur wenige seiner zahlreichen Empfehlungen für Ankäufe spanischer Gemälde berücksichtigt wurden. Auch seine Meinung um die Echtheit eines Gemäldes wurde von Bode nicht immer ernst genommen. So erwarb dieser 1873 trotz Justis geäusserten Bedenken in Florenz das ganzfigurige «Bildnis des toskanischen Generals Alessandro del Borro», das man zunächst Velázquez, dann Carreño de Miranda, später mehreren italienischen Malern zuschrieb und das seit 1990 als Werk des Franzosen Charles Mellin gilt."

Aus: Kunsthistoriker im Kaiserreich, Die Wissenschafter Carl Justi und Wilhelm Bode im 
Dialog 1872–1908, NZZ Online

Dienstag, 16. August 2011

e.e. cummings schon wieder


 alles was nicht singen ist ist bloß reden  
und alles reden ist reden mit sich selbst
(ob das selbst gesucht sei oder suchend
meister oder schüler oder wolf)

schwärme es an als gott oder teufel
-streue schluchzer ein und gründe drohungen und lächeln
nenne es grausam schön oder gesegnet bös-
es ist du (née ich) niemand sonst

mach die stumme menschheit wirr mit tiraden
-du bist betäubend jeder mutter sohn-
alles ist bloßes gerede was nicht singen ist
und alles reden ist nur mit sich selbst

aber das ganz eigene lied des (wie berge
fühln und liebende) singens ist stille

Shaker Lebensbaum
all which isn't singing is mere talking
and all talking's talking to oneself
(whether that oneself be sought or seeking
master or disciple sheep or wolf)

gush to it as diety or devil
-toss in sobs and reasons threats and smiles
name it cruel fair or blessed evil-
it is you (ne i)nobody else

drive dumb mankind dizzy with haranguing
-you are deafened every mother's son-
all is merely talk which isn't singing
and all talking's to oneself alone

but the very song of(as mountains
feel and lovers)singing is silence 
 
Gustav Klimt 1909 Lebensbaum Fries
2 kleine wers 
(er und sie) 
unter sind diesem 
wundervollen baum 

lächelnd stehn 
(alle gefilde von wo 
und wann jenseits) 
jetzt und hier 

(weit von einer er- 
wachsenen ich&du- 
vollen welt des bekannten) 
wer und wer 

(2 kleine bins 
und über ihnen dies 
brennend mit träumen 
wunderbar ist) 


Balian- Armenische Kachel aus Jerusalem Lebensbaum
2 little whos
(he and she)
under are this
wonderful tree 

smiling stand
(all realms of where
and when beyond)
now and here 

(far from a grown
-up i&you-
ful world of known)
who and who 

(2 little ams
and over them this
aflame with dreams
incredible is)  

Montag, 15. August 2011

Theater hat auch Kinder im Publikum


"Kinder im Saal!" Je nach Sachlage und Tagesform, tief gequälter Ausruf unausgeschlafener, gnatziger, kaum menschenähnlicher Existenzen um 9.00 Uhr früh bei der gefühlten 5642. Märchenvorstellung oder Ausdruck gespannter Vorfreude von Schauspielern, auf das, was da an Unerwartetem, Überraschendem stattfinden wird, wenn sich 30 oder 500 Kinder in einem Raum versammeln, um Theater zu gucken.
Kinder sind sachlich.
Ein gut hörbares "das ist aber langweilig", von einer Vierjährigen in den Raum geworfen, läßt sich nicht ignorieren. Alte Leute benehmen sich, und wenn sie es mal nicht tun, dann nimmt man das heute eher als Kompliment. In Zeiten in denen lethargisch jeder noch so große Mist ertragen oder sogar goutiert wird, ist eine geworfene Tür, ein wütender Zwischenruf, selbst ein Buh fast wie ein kleiner Ehrenorden. Aber ein Kind, das sich langweilt, langweilt sich einfach. Ich würde das ein künstlerisches Todesurteil nennen.
Kinder sind erbarmungslos.
Vor einigen Jahren saß ich mit circa 450 Kindern im "Schneewittchen". Zwerge gab es zwar, aber keine Bettchen, keine Tellerchen, nur einen eigenartigen Morasthaufen mit Scherben und der Zauberspiegel der bösen Stiefmutter wanderte als personifiziertes schlechtes Gewissen hinter der entsprechenden Darstellerin her und guckte bekümmert. Die Kinder waren nicht amüsiert. Es kam der grosse Moment des Verkaufes des vergifteten Apfels, Schneewittchen nahm ihn entgegen - - - und ein kleiner fetter Junge in der dritten Reihe stand von seinem Sitz auf und rief: "Und Tschüß!" Der Saal applaudierte brausend, ob zu Ende gespielt wurde, habe ich vergessen.
Kinder sind genau.
Wenn sie ein Gedicht kennen und du sagst es anders, werden sie dir das mitteilen, manchmal mitsamt Hintergrundinformationen über die jeweilige Oma/Tante/grosse Schwester, die die richtige Variante vorgetragen hat, und dass diejenige gerne Klösse isst oder weisse Turnschuhe trägt und/oder andere Fakten, die im Kindergehirn mit diesem Vers oder Lied oder dieser Stelle in der Geschichte verbunden sind.
Kinder sind hilfreich.
Man soll nur versuchen, über den total geheimen Namen des buckligen kleinen Männchens zu spekulieren und dabei das aus voller Kehle und mitfühlendem Herzen gebrüllte "Rumpelstilzchen" ignorieren, dass einem aus dem Saal entgegenschallt! Da ist wahrhaftig Schauspielkunst gefragt. Und als der kleine Tiger sich krank fühlte und zum Arzt ging und die Diagnose bekam: Streifen verrutscht, rief ein ernstes Mädchen dem Tiger daraufhin ein aufmunterndes "Das hatte ich auch schon Mal!" auf die Bühne. Und sie hatte es gut überstanden, also keine Angst!
Sie sind das beste Publikum und das härteste, und wenn sie in die Geschichte einsteigen und mitphantasieren, dann kann so eine 5642. Märchenvorstellung wie ein Labsal für geschundene Schauspielerseelen sein.
Noch eine Warnung: ein Freund bat die kindlichen Besucher mal ihm die Daumen zu drücken, ganz doll drücken, ganz doll drücken! Einige Mütter mussten mit ihren Kindern kurz darauf eilig den Saal verlassen, es war zu doll gedrückt worden.
Grimms Märchen
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mit Karusseit, Mellies, Franke Ludwig, Piontek.....hinreißende Hör-Märchen, wirklich, gar nicht blöde ostig.

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Sonntag, 14. August 2011

Planet der Affen - Prevolution

 

Planet der Affen - Prevolution oder, wie es im Original so bescheiden heisst: "Rise Of The Planet Of The Apes": Evolution Becomes Revolution, ist ein WAHNSINNSFILM - und das verdankt er vor allem einem Mann: Andy Serkis.

Mister Serkis, geboren 1964 in England, gesegnet mit dem Gesicht einer witzigen Spitzmaus, ist wohl der unbekannteste Superstar, den es augenblicklich gibt. Chewbacca, Darth Vader und R2D2 teilen zu Teilen das gleiche Schicksal, aber Serkis ist der erste Schauspieler, der verborgen hinter Computeranimationen nun auch seine Wandlungsfähigkeit und Intelligenz beweisen kann. 


 
Und wenn Gollum noch sehr von der Freak-Qualität der Figur lebte, aber immerhin kennt mitlerweile fast ein jeder den irrsinnigen Tonfall und die verdrehte Körperlichkeit wenn er "Mein Schatz" schlurrte, und King Kong einfach ein zu schlechter Film war, als dass der Spieler dagegen eine Chance gehabt hätte, so ist die Figur des Cäsar in diesem Film eine ausgewachsene, differenzierte, überraschende Person geworden. Serkis trägt den Film weg, zu uns in den Saal, Affe oder nicht, er ist der Held.

Roddy McDowall war übrigens Cäsar in Teil 4 und 5 der ursprünglichen "Planet der Affen"-Filme.

Tell Halaf - Die zauberische Macht der Leidenschaft

Eine so herrliche Ausstellung habe ich lange nicht mehr gesehen. 
Sicher ist die Gestaltung, der Aufbau des Ganzen wunderbar und die Ausstellungsstücke hochinteressant und manche hinreissend schön, aber was mich zu Tränen gerührt hat, ist das Bild, das in meinem Kopf entstand, von unzähligen Menschen, die Genauigkeit und Geduld und Interesse investiert haben, um diese Figuren und Köpfe und Reliefs auszugraben, zu transportieren, zu sortieren, zu rekonstruieren. 300 große Paletten mit Scherben und Steinsplittern wurden nummeriert, verglichen, in Handarbeit zusammengepuzzelt. Alter Kram, gefertigt von Menschen, die schon zu Staub zerfallen waren, als Romulus und Remus ihre Stadt gründeten.

Doppelsitzbild

"Für Archäologen gehört die menschliche Geschichte niemandem. Sie repräsentiert die kulturelle Hinterlassenschaft eines jeden, der  je auf der Erde gelebt hat oder in der Zukunft dort leben wird. Archäologie stellt alle menschlichen Gesellschaften auf eine gleichberechtigte Stufe."
"To archaeologists, the human past is owned by no one. It represents the cultural heritage of everyone who has ever lived on Earth or will live on it in the future. Archaeology puts all human societies on an equal footing."  
Brian Fagan. 1996. Introduction to the Oxford Companion to Archaeology




Und was diesen Steinen alles zugestossen ist: Erst war da die Zeit, die das ihre getan hatte (manche Geschirrteile sind 5000 Jahre alt, vieles andere "nur" 3000), dann musste die erste Ausgrabung unterbrochen werden und ein kleiner lokaler Konflikt zerstörte noch mehr und dann, im Tell-Halaf-Museum in Berlin in der Franklinstrasse, im Winter 1943 eine Phosphorbombe, Brand, Löscharbeiten, das Wasser traf die noch heissen Steine,  gefror, viele Werke zerbarsten infolge der "thermischen Spannungen", und dann lagen sie noch den Winter lang in der Ruine. 
In einem Video, sagte eine ältere Dame, offensichtlich eine Archäologin oder Restauratorin: "Jede Scherbe ist in unserer Verantwortung, jede Scherbe." 
Wissend, dass unsere Welt so voll Schrecklichem und scheinbar Unlösbarem ist, hat es mich berührt, dass so viel Mühe und Kraft verwendet wird, auf dass wir nicht vergessen, wer wir sind, Menschen, die einzige Rasse auf diesem Planeten, die sich bewusst ist, dass sie eine Vergangenheit hat.



Samstag, 13. August 2011

Barbara Gowdy - Seltsam wie die Liebe - We so seldom look on love


"Wir schauen die Liebe so selten an" wäre eine mögliche Übersetzung des englischen Titels, aber warum nicht einen schlechteren wählen? In der Originalausgabe sind es 8, in der deutschen 11, Kurzgeschichten über, na was schon, die Liebe. Die Helden sind ungewöhnlich, die Sprache seltsam und spartanisch, die Geschichten höchst menschlich und tröstlich.
Die Helden: Ein einsamer siamesischer Zwilling, ein Mann, der zwei Köpfe hatte, eine junge Frau, die nur Leichen lieben kann, ein blindes Mädchen, dass sehen lernt, eine Frau, die gerne beobachtet wird.



Nun,
         es ist besser,
                               dass
                                            EMAN
                                        J sie liebt D
und wir
           schauen so selten auf die Liebe,
                                                               dass es abscheulich scheint. 


"Ode an die Nekrophilie" Frank O'Hara
           

Well,
         it is better
                            that

                                      OMEON
                                 S loves them E
and we
            so seldom look on love
                                                 that it seems heinous



"Ode on Necrophilia", Frank O'Hara

13. August 1961 - 13. August 2011

Die Mauer
Zum 3. Oktober 1990

Rainer Kunze
 
Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht,
wie hoch sie ist
in uns
Wir hatten uns gewöhnt
an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten warfen
alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt
jeder entschuldigung 





 
Ein Mensch steht an der Mauer

Inge Müller 1962

Ein Mensch steht an der Mauer
Siebenköpfig ist sein Tod:
In vierzehn Menschenaugen
Schneller als das Eisen
Ist der Schrei aus dem zerschlagenen Mund:
Brüder, ihr erschießt euch selber!

Ein Mensch fällt an der Mauer.
Ein Gewehrlauf weist zitternd
In den weiten Himmel
Gelenkt von zwei Händen.
Die die blieben sauber
Und legten sie in Fesseln.

Morgen steht wieder ein Mensch
An der Mauer. 
 


Internationalen Pressekonferenz in Ost-Berlin am 15. Juni 1961, die Journalistin Annamarie Doherr von der Frankfurter Rundschau hatte damals die Frage gestellt:
„Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. Doherr, Frankfurter Rundschau. Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“
Walter Ulbricht antwortete:
„Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Ääh, mir ist nicht bekannt, dass [eine] solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen und ihre Arbeitskraft voll ausgenutzt, ääh, eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

DIE MAUER

Volker Braun 1966

Zwischen den seltsamen Städten, die den gleichen
Namen haben, zwischen vielem Beton
Eisen Draht Rauch, den Schüssen
Der Motore: in des seltsamen Lands
Wundermal steht aus all dem
Ein Bau, zwischen den Wundern
Auffallend, im erstaunlichen Land
Ausland. Gewöhnt
An hängende Brücken und Stahltürme
Und was noch an die Grenze geht
Von Material und Maschinen, faßt
Der Blick doch nicht
Das hier.
Zwischen all den Rätseln: das ist
Fast ihre Lösung. Schrecklich
Hält sie, steinerne Grenze
Auf was keine Grenze
Kennt: den Krieg. Und sie hält
Im friedlichen Land, denn es muß stark sein
Nicht arm, die abhaun zu den Wölfen
Die Lämmer. Vor den Kopf
Stößt sie, das gehn soll, wohin es will, nicht
In die Mässengräber, das
Volk der Denker.
Aber das mich so hält, das halbe
Land, das sich geändert hat mit mir, jetzt
Ist es sichrer, aber
Ändre ichs noch? Von dem Panzer
Gedeckt, freut sichs
Seiner Ruhe, fast ruhig? Schwer
Aus den Gewehren fallen die Schüsse:
Auf die, die es anders besser
Halten könnte. Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

2
Die hinter den Zeitungen
Anbelln den Beton und, besengt
Von den Sendern, sich aus dem Staub machen
Der Baustellen oder am Stacheldraht
Unter Brüdern harfen und
Unter Kirchen scharrn Tunnel: die
Blinden Hühner finden sich
Vor Kimme und Korn. Unerfindlich
Aber ist ihnen, was diese Städte
Trennt. Weil das nicht
Aus Beton vor der Stirn pappt.
Uns trennt keine Mauer.
Das ist Dreck aus Beton, schafft
Das dann weg, mit Schneidbrennern
Reißt das klein, mit Brecheisen
Legts ins Gras: wenn sie nicht mehr
Abhaun mit ihrer Haut zum Markt
Zerhaut den Verhau. Wenn machtlos sind
Die noch Grenzen ändern wollen
Zerbrecht die Grenze. Der letzte Panzer
Zerdrück sie und sie ihn.
Daß sie weg ist.
Jetzt laßt das da.
Aber
Ich sag: es steht durch die Stadt
Unstattlich, der Baukunst langer Unbau
Streicht das schwarz
Die Brandmauer (scheißt drauf).
Denn es ist nicht
Unsre Schande: zeigt sie
Macht nicht in einem August
Einen Garten daraus, wälzt den Dreck nicht
Zu Beeten breit, mit Lilien über den Minen
Pflanzt Nesseln, nicht Nelken
Vermehrt nicht, zwischen den seltsamen
Städten, die Rätsel, krachend
Schmückt das Land nicht
Mit seiner Not. Und
Laßt nicht das Gras wachsen
Über der offenen Schande: es ist
Nicht unsre, zeigt sie.

Freitag, 12. August 2011

Max Ernst für Ö.

Max Ernst 1937 L'Ange du Foyer - Engel des Kamins  

Max Ernst 1945 Die Versuchung des Heiligen Antonius

Max Ernst 1939 Die Einkleidung der Braut
Oh Gott, damit muß man erstmal fertig werden! So viel ROT!

Dylan Thomas - Fern Hill - Verlust



FERN HILL

Als ich jung war und leicht unter den Apfelzweigen

Durch das trillernde Haus, und glücklich wie das Gras grün
und die Nacht überm Tal voll Sternen,

Ließ Zeit mich jubeln und klettern

Golden in der Blütezeit ihrer Augen,

Und geehrt bei den Heuwagen war ich Prinz der Apfelstädte,

Und einmal vor tiefer Zeit befahl ich den Bäumen und Blättern

Mit Maßliebchen und Gerste

Die Flüsse des Fallobstlichtes hinunterzuziehen.

Und ich war grün und sorglos, berühmt unter den Scheunen

Auf dem glücklichen Hof, und singend da die Farm mein Heim war,
In der Sonne, die nur einmal jung ist,
Ließ Zeit mich spielen und sein,

Golden in der Gnade ihrer Möglichkeiten,

Und grün und golden war ich Jäger und Hirte, die Kälber

sangen zu meinem Horn, auf den Hügeln die Füchse bellten
 klar und kalt,
Und der Sabbath läutete langsam

In den Kieseln der heiligen Bäche.

Die ganze Sonne lang war es Rennen, war es herrlich, die Heu-
Felder hoch wie das Haus, Die Lieder aus den Schornsteinen, 
es war Luft,

Und Spielen, herrlich und nass

Und Feuer grün wie Gras.

Und nächtens, unter den einfachen Sternen

Während ich schlafen ritt, trugen die Eulen den Hof davon,
den ganzen Mond lang hörte ich, gesegnet unter den Ställen, die
 Nachtschwalbe

Fliegen mit den Heuschobern, und die Pferde

Flackern ins Dunkel.

Und dann zu erwachen, und die Farm, wie ein Wandrer weiß,
Von Tau, kommt zurück, mit dem Hahn auf der Schulter: Es war alles
Strahlend, es war Adam und junge Frau,
Der Himmel versammelte sich wieder

Und die Sonne wurde an jenem Tage rund.

So muss es gewesen sein nach der Geburt des einfachen Lichts

Am ersten wirbelnden Ort, als die verzauberten Pferde liefen,
Warm aus dem wiehernden grünen Stall

Auf die Felder des Jubels.

Und geehrt von Füchsen und Fasanen bei dem heiteren Haus

Unter den frisch gemachten Wolken und glücklich wie das Herz lang war,
In der Sonne geboren wieder und wieder,
Rannte ich meine achtlosen Pfade.

Meine Wünsche jagten durchs haushohe Heu
Und nicht kümmerte mich, bei meinen himmelblauen Geschäften, dass
 Zeit

In all ihren klingenden Biegungen so wenige und nur solche
 Morgenlieder 
erlaubt,
Bevor die Kinder grün und golden

Ihr folgen aus der Gnade.

Nicht kümmerte mich, in den lammweißen Tagen, dass Zeit mich

Hinauf in den gedrängten Schwalbenschlag führen würde am Schatten meiner Hand
Im Mond, der immer steigt,

Noch, dass ich sie beim Schlafenreiten

Fliegen hören würde mit den hohen Feldern

Und erwachen würde, der Hof für immer entflohen aus dem
 kindlosen Land.

Ach, als ich jung war und leicht in der Gnade ihrer Möglichkeiten,
hielt mich Zeit grün und sterbend,
Ob ich auch sang in meinen Ketten wie die See.


Salvador Dali 1931 La persistencia de la memoria  - Die Beharrlichkeit der Erinnerung
FERN HILL

Now as I was young and easy under the apple boughs
About the lilting house and happy as the grass was green,
The night above the dingle starry,
Time let me hail and climb
Golden in the heydays of his eyes
And honoured among wagons I was prince of the apple towns
And once below a time I lordly had the trees and leaves
Trail with daisies and barley
Down the rivers of the windfall light.

And as I was green and carefree, famous among the barns
About the happy yard and singing as the farm was home,
In the sun that is young once only,
Time let me play and be
Golden in the mercy of his means,
And green and golden I was huntsman and herdsman, the calves
Sang to my horn, the foxes on the hills barked clear and cold,
And the sabbath rang slowly
In the pebbles of the holy streams.

All the sun long it was running, it was lovely, the hay
Fields high as the house, the tunes from the chimneys, it was air
And playing, lovely and watery
And fire green as grass.
And nightly under the simple stars
As I rode to sleep the owls were bearing the farm away,
All the moon long I heard, blessed among stables, the nightjars
Flying with the ricks, and the horses
Flashing into the dark.

And then to awake, and the farm, like a wanderer white
With the dew, come back, the cock on his shoulder: it was all
Shining, it was Adam and maiden,
The sky gathered again
And the sun grew round that very day.
So it must have been after the birth of the simple light
In the first, spinning place, the spellbound horses walking warm
Out of the whinnying green stable
On to the fields of praise.

And honoured among foxes and pheasants by the gay house
Under the new made clouds and happy as the heart was long,
In the sun born over and over,
I ran my heedless ways,
My wishes raced through the house high hay
And nothing I cared, at my sky blue trades, that time allows
In all his tuneful turning so few and such morning songs
Before the children green and golden
Follow him out of grace.

Nothing I cared, in the lamb white days, that time would take me
Up to the swallow thronged loft by the shadow of my hand,
In the moon that is always rising,
Nor that riding to sleep
I should hear him fly with the high fields
And wake to the farm forever fled from the childless land.
Oh as I was young and easy in the mercy of his means,
Time held me green and dying
Though I sang in my chains like the sea.