Dienstag, 22. April 2014

Böse, böse Stiefmutter


Vor vielen Jahren fuhren meine "Stieftochter" und ich aufs Land, sie saß auf dem Rücksitz und war etwa sieben Jahre alt. Wir waren sozusagen ganz frische Stiefverwandte.

Wiki: stief, mit der ursprünglichen Bedeutung: beraubt, verwaist

Wir schwatzten, dann schwiegen wir, und dann hörte ich sie leise singen. Ein langes Lied, ein schrecklich trauriges Lied über ein Mädchen, dass von seiner Stiefmutter gequält wird, beim Vater keine Hilfe findet und am Grab ihrer Mutter ihr schreckliches Leid beklagt. Das Lied hatte sehr viele Strophen und sie sang es ganz zart, ohne Nachdruck, fast monoton. Ich wusste, ich wurde getestet.
Wir haben nie darüber gesprochen und schon lange und noch heute, dreissig Jahre später ein sehr zugeneigtes Miteinander. Aber als ich sie heute anrief, um sie nach dem Lied zu fragen, wusste sie sofort welches gemeint war und konnte sich noch an Textfetzen erinnern. 
Die Mythen leben in uns fort! Eine schöne Erinnerung.(Ihre Mutter war und ist übrigens bei bester Gesundheit!)

Siehe auch: C.G. Jung Die psychologischen Aspekte des Mutter-Archetyps


Ein Kind von viereinhalb Jahr, 
Das auch schon ein Waisenkind war;
 Das Kind, es war so klug,
Nach seiner Mutter frug.

Ach liebster Vater mein,
Wo ist denn mein Mütterlein;
Ach liebster Vater mein, ja mein
Wo ist den mein Mütterlein

Dein Mütterlein ist tot,
Es liegt im Grabe und ruht;
Dein Mütterlein ist tot, ja tot
Es liegt im Grabe und ruht.
 
Da lief das Kind geschwind
Zum Grabe der Mutter hin;
Da lief das Kind geschwind, ja schwind
Zum Grabe der Mutter hin

Da grub es sich ein Loch,
Ach liebste Mutter so sprich doch;
Da grub es sich ein Loch, ja Loch
Ach liebste Mutter so sprich doch

Das Sprechen fällt mir schwer,
Die Erde, sie drückt mich so sehr;
Das Sprechen fällt mir schwer, ja schwer,
Die Erde, sie drückt mich so sehr

Lauf heim mein Kind, lauf heim,
Eine andere Mutter ist dein;
Lauf heim mein Kind lauf heim, ja heim,
Eine andere Mutter ist dein

Da lief das Kind geschwind
Zum hause der Stiefmutter hin;
Da lief das Kind geschwind, ja schwind
Zum hause der Stiefmutter hin

Die kämmt mir nun das Haar,
Da blutet die Kopfhaut sogar;
Die kämmt mir nun das Haar, ja Haar,
Da blutet die Kopfhaut sogar;

Aber du mein Mütterlein, du
Gabst immer noch Schleifen dazu.
Aber du mein Mütterlein, du ja du
Gabst immer noch Schleifen dazu.

Und wäscht sie mir die Händ,
So rubbelt sie bis es brennt;
Und wäscht sie mir die Händ, ja Händ
So rubbelt sie bis es brennt;

Aber du mein Mütterlein, du
Gabst immer noch Seife dazu.
Aber du mein Mütterlein, du ja du
Gabst immer noch Seife dazu

Und schmiert sie mir das Brot,
So wünscht sie mir den Tod;
Aber du mein Mütterlein, du
Gabst immer noch Honig dazu.

Und bringt sie mich zur Ruh,
dann schlägt sie die Zimmertür zu;
Und bringt sie mich zur Ruh, ja Ruh
so schlägt sie die Zimmertür zu;

Aber du mein Mütterlein, du
Gabst immer noch Küsse dazu.
Aber du mein Mütterlein, du ja du
Gabst immer noch Küsse dazu

Am nächsten Morgenrot
Da war das Kind auch schon tot;
Am nächsten Morgenrot, ja Rot
Da war das Kind auch schon tot;

Am Abend weht der Wind
Übers Grab von Mutter und Kind
Am Abend weht der Wind, ja Wind
Übers Grab von Mutter und Kind




DANIEL RICHTER
OHNE TITEL







Das eigensinnige Kind

Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.
Aus: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Erster Band. Göttingen: Druck und Verlag der Dieterichischen Buchhandlung, 1837. S.291ff.


Das Kind

Schlage mich nicht,
liebe Mutter, Schlage mich nicht
ins Gesichte;
Dann aus meinen blauen
Augen
Sprühen, wenn du mich
so schlägest,
Tausend helle
Feuerfunken;
Und wie leichtlich fällt ein
Funke
Auf mein taftes
Flügelkleidgen!


In: Johann Nikolaus Götz: Gedichte. Stuttgart 1893, S. 56. entstanden Mitte des 18. Jahrhunderts




Ohne Titel I,, III, II & IV 2007
Daniel Richter
EditionGrimm
Holzschnitt Und Radierung 
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1 Kommentar:

  1. "Stiefkind", ein hartes Wort irgendwie.

    Ich kenne Leute, die sagen zu den Patchwork-Kindern "Beutekinder".

    Und mein Patchwork-Kind hat mit ca. 9 Jahren mal "demie-maman" ("halbe Mutter") zu diesem "Verwandtschaftsgrad", in logischer Analogie zu "demi-frère", "Halbbruder".
    Das ist hübsch, finde ich.
    Aber heute benutzt sie am liebsten meinen Vornamen.

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