Sonntag, 8. Dezember 2013

Weihnachtsmarkt oder Untergang des Abendlandes


     Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind

     und  hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was 
     kindisch war.
     1. Korinther 13:11 Luther 1912 - Oder natürlich "da ich eine Frau wurd".
     
     In meiner frühen Kindheit war der jährliche Besuch des Weihnachtsmarktes
    
ein sehnlichst erwarteter, nahezu magischer Familien-Ausflug.
      
     Ost-Berlin hatte damals nur einen einzigen dieser Märkte, auf der Karl-Marx-
     Allee, stadtauswärts linker Hand, und soweit ich mich erinnere kurz vor dem 
     Frankfurter Tor in einer der größeren Häuserlücken. Franziska Trögner sagt, 
     es war da, wo die Sporthalle stand, zwischen Lebuser und Koppenstraße, da,
     wo, nur wenige Jahre vorher, noch direkt gegenüber das Stalin-Denkmal
     gestanden hatte.
     Es gab ein paar Karussels, eine recht kleine, aber damals aus meiner 
     Perspektive (circa 80 cm), himmelhohe Achterbahn, ein Kettenkarussel, 
     eine Berg-und-Tal-Bahn und, als herrlichste der Herrlichkeiten, die 
     Zehnerbahn, was eine Riesenrutsche mit individueller Rutschdecke war.  
     Und auch eine versiffte Geisterbahn mit echten, lebendigen Gespenstern und
     noch einige, wenige Freßstände inklusive langer geduldiger Warteschlangen.
     In einer provisorischen Weihnachtshütte, mit Wänden aus echten 
     ungeschälten Baumstämmen, oder direkt in der Sporthalle, da bin ich mir
     nicht sicher, konnten wir, die Kinder, Weihnachtsgeschenke basteln,
     das hieß Kleiderbügel mit Lötkolben bemustern oder Luftschlangen zu 
     sinnfreien Untersetzern umformen. Meine arme Mutter muß eine großartige 
     Schauspielerin sein, wenn ich mir ihre jubelnden Freudenbezeugungen im 
     Angesicht meiner doppellinkshändig gefertigten Monstrositäten ins
     Gedächtnis rufe.
     Den Höhepunkt bildete jedesmal die Photosession mit dem Weihnachtsmann 
     oder, siehe unten, dem Weihnachtseisbären, manchmal unter Tränen und
     und dem Druck elterlicher Überredung, manchmal als Mutprobe gegen die 
     eigene Kinderangst.
     Sentimentalisierte Erinnerungen an lang vergangene Zeiten?


 Der Weihnachts-Horror-Bär. Und das linke Kind weiß um die Gefahr.

      Gestern, nur vierzig Jahre später, der Weihnachtsmarkt in Rostock auf

      dem Weg zu einer Verabredung. Mehr oder weniger ist Rostock im
      Dezember ein einziger nichtendenwollender Weihnachtsmarkt, mit der
      Betonung auf Markt. Buden mit Nippes, Buden mit Tand, Buden mit 
      Ramsch, Buden mit fettigem Freßzeug, Buden mit hochprozentigem Gesöff, 
      Buden, Buden, Buden. Die Besucher, sonst Menschen genannt, fressen,
      kaufen, grapschen, saufen, schubsen, rempeln, drängeln, brüllen, blöken,
      wanken, torkeln. Vor mir ein Mann um die 60, an jedem Arm einen
      weiblichen Zwilling um die 40, alle drei im Zustand des vorkomatösen 
      Trunkes. Fröhliche Weihnacht! Wenn der doppelt sieht, hat er vier Frauen 
      dabei.
      Kinder werden gezerrt, beschimpft, überfüttert, angemeckert, mit
      häßlichen Strickmützchen verunstaltet und gucken von weit unten mit 
      panischen Augen, ob der sich über sie hinwegwälzenden Menge von
      unachtsamen und sehr viel größeren Leuten.
      Eine Freundin nannte es: Schweinestall mit Glitzer, ich will es hier, aus 
      Rücksicht gegenüber  den sprachlichen Empfindlichkeiten meiner Leser,
      gar nicht benennen. Nur so viel: im Angesicht dieser Manschmasse 
      mißgelaunter Konsumenten, scheint mir für Momente das Überleben
      unserer Spezies ein nur bedingt wünschenswertes Ziel.
      Ich, die ich Weihnachten liebe, bin verstört.

5 Kommentare:

  1. Deine Verstörung ist verständlich. Die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes hat sich so lange und kontinuierlich entwickeln können, dass sie zu routinierter Perfektion aufgestiegen ist. Oder herabgesunken, je nach Perspektive.
    Dazu kommt der zum 24.12. hin ansteigende Stresspegel... Geschenke, Dekoration, Baum, Fest organisieren, Fressalien besorgen... besinnlich ist nichts davon und den Charme verliert es schnell im Druck der Aufgabenbewältigung.
    In dieser Zeit kenne ich verschiedene Phasen: 1. Verdrängung - Weihnachten ist ja noch so lange hin. 2. Vermeidung - wenn sich die Signale mehren, dass Weihnachten anrückt ausweichen wo man kann. 3. Panik - WAS, es ist WEIHNACHTEN???
    Die Besinnlichkeit, die weihnachtliche Schönheit findet abseits dessen statt was Du beschreibst. Mit Plätzchen, Tannenzweigduft, ein wenig Schnee, ein wenig Stille, heiße Maroni, die die Hände wärmen und gemütlich schmecken, ein paar Kerzen mehr als sonst, der "Drei ???"-Adventskalender und sein tägliches Rätselritual... Zimtgeschmack und Weihnachtsmatinee, ein bißchen Kinderaugenleuchten nach dem Märchen... man bastle sich eine kleine Weihnachtszeit und lasse die große außen vor.

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  2. Das hat mich schwer beeindruckt!
    Habe hierrauf einen Link in mein Blog gesetzt.
    Silvia Rhode bringt es auch für mich auf den Punkt: ...man bastle sich eine kleine Weihnachtszeit....

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  3. Meine Söhne sind schon jenseits der 30 und haben selber Kinder. Diese werden die Adventszeit anders als ihre Väter erleben. Wir leben in Berlin und hier gab es schon immer einen Riesenrummel um dieses Fest. Da ich, als unsere Kinder noch klein waren, in der "alternativen Szene" zu Hause war, fiel es uns nicht schwer, diesen Rummel zu meiden. Kaufhäuser waren tabu! Wir haben viel gebastelt, gesungen, gebacken und den kleinen Weihnachtsmarkt unseres Bezirkes sowie den Adventsbasar unserer Kirchengemeinde besucht. Die Kinder spielten im Krippenspiel zum Familiengottesdienst mit. Ich habe mich essenstechnisch verweigert. Zum Kaffee gab es die Plätzchen, die die Kinder gebacken haben und eine von mir gebackene Torte. Es wurde gesungen und musiziert. Am Baum waren die Kerzen echt. Weder in der Vorweihnachtszeit noch an den Festtagen erinnere ich mich an Stress, Hektik oder gar Streit. Wir hatten überwiegend einfach Spaß! Ich bedauere die Menschen, die diese Zeit nicht genießen können. "Süßer die Kassen nie klingeln" habe ich schon vor 30 Jahren gesungen. Ein Klassiker! Leider!
    Liebe Grüße,
    Elvira

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  4. Erinnert sich noch jemand, wo der Weihnachtsmarkt in den 60er Jahren auf der Karl-Marx-Allee war? Irgendwo auf der linken Strassenseite stadtauswärts.

    Ingvar Jensen:
    jawoll - bitte! bis 1968 war da also der weihnachtsmarkt: Für dierepräsentative Gestaltung des Eingangs der Sporthalle wurden vier Plastiken aus der gesprengten Schlossruine von Andreas Schlüter rekonstruiert. Das Relief am Eingangsportal stammte vom Berliner Bildhauer Konrad Velzmann. Auf Grund erheblicher Bauschäden, die sicher auch in den Umständen ihrer raschen Erbauung begründet waren, musste sie 1968 baupolizeilich geschlossen werden. Bis dahin fanden hier vor allem Ausstellungen, Wettkämpfe und der alljährliche Weihnachtsmarkt statt.
    Mit dem Abriss der Sporthalle 1971 ging ein bedeutsames Zeugnis der frühen DDR-Geschichte verloren.

    Franziska Troegner:
    Gegenüber stand bis 1961 das Stalin-Denkmal.

    René Meyer-Brede:
    ein grosser Teil des Marktes war innen, dort vorallem die Bastelarbeiten mit dem Lötkolben unter der Losung "Laubsägen mit den jungen Pionieren!

    Oliver Breite:
    Ja. Am und im damals noch vorhandenem "Sportpalast". Der Parkplatz ist heute noch vorhanden (neben dem "Haus des Lichtes", wie der Lampenladen glaube ich hieß.) der Sportpalast wurde in den 70' er Jähren abgerissen, weil wohl minderwertiger Stahl zu Bauschäden geführt hat. Übrigens war auf der Straßenseite gegenüber eine Blumenrabatte. Dort stand ursprünglich das Stalindenkmal. Das habe ich nicht mehr gesehen, aber an den Weihnachtsmarkt erinnere ich mich noch gut...(Achterbahn aus Holz! ;))

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