Freitag, 16. März 2012

Die Tagebücher der Henker von Paris


DIE TAGEBÜCHER DER HENKER VON PARIS

162 Jahre lang, von 1685 bis 1847, übten Angehörige der Familie Sanson de Longval das Amt des Scharfrichters von Paris aus. Henri-Clément Sanson, auch unter dem Titel "Monsieur de Paris" bekannt, das letzte männliche Mitglied der Henkerfamilie, schrieb diese Bücher, um den einst edlen Namen derer von Longeval "von Rost zu befreien" und nutzte hierfür die Totenregister seiner Vorgänger als Quellmaterial.
Während seiner Amtszeit wurde die Guillotine eingeführt, ihr Spitzname war übrigens le rasoir national - das nationale Rasiermesser, sie galt damals als modernes und humaneres Tötungsmittel. Im Vergleich zum Rad zum Beispiel, das dem Delinquenten unzählige Knochen brach und seinen Tod hinzögerte, galt die Guillotine als schnell und (relativ) schmerzlos. Bei Ludwig XVI. allerdings waren mehrere Durchgänge nötig, da sein Hals so fett gewesen sein soll.  
Henry hatte die Oberaufsicht über etwa 3000 Hinrichtungen, unter anderem die von Ludwig XIV., Marie Antoinette, Danton und Robbespierre.

Die Exekution der Marie Antoinette.  Circa 1793, Künstler unbekannt

Die Anfänge der Familie Sanson gehen zurück auf das 15. Jahrhundert, wo sie sich in der Picardie in der Stadt Abbeville niederließ und in der Geschichte dieser Stadt einen ehrenvollen Platz einnahm. Ein Mitglied der Familie diente Heinrich IV. in den von ihm geführten Kriegen. Als er lange genug seinen Dienst geleistet hatte, kehrte er in seine Geburtsstadt zurück und starb dort hoch geachtet und verehrt am 31. Mai 1593. Sein Enkel, Nicolas Sanson, wurde 1600 geboren und war der Erfinder und Vater der neueren Kartographie und geschätzt bei Kardinal Richelieu. Der allmächtige Minister holte den tüchtigen Mann nach Paris.
Charles-Louis Sanson de Longval (1635 - 1707), Sohn des Nicolas Sanson, war Leutnant im Regiment de la Boissiére. Als er eines Tages mit seinen Freunden beim Trinken und Kartenspielen saß, betrat ein Fremder das Wirtshaus. Dieser prophezeite ihm, sein adeliger Freund neben ihn würde eines Tages durch seine Hand sterben. Charles Sanson sollte den Fremden noch einmal begegnen: Dann nämlich, als er bei einem Unwetter vom Pferd stürzte und sich verletzt zu einem nahe gelegenen Gehöft schleppte. Es war das des Henkers, jenes Fremden im Wirtshaus. Die Tochter des Henkers pflegte den Leutnant gesund. Charles Sanson verliebte sich in die schöne junge Frau. Als diese ungeheuere Schande Monsieur de la Boissiére erreichte, wurde er prompt aus dem Regiment entlassen.

Zitiert aus: Suite101.de http://annelore-poljasevic 


Der Tod der Lucille Desmoulin


17. Germinal. 
Ich erfüllte den Auftrag, den mir der arme Bürger Desmoulins erteilt hatte. In seiner Wohnung, Straße des französischen Theaters, gab mir der Türsteher die Adresse des Bürgers Duplessis in der Rue des Arcs. Ich hütete mich, hinaufzugehen, sondern ließ die Magd holen, ohne zu sagen, wer ich sei; ich teilte ihr mit, ich hätte dem Tode Desmoulins beigewohnt und wäre von ihm ersucht worden, dieses Medaillon seiner Schwiegermutter zu übergeben. Ich legte es in ihre Hände und ging fort. Noch hatte ich nicht hundert Schritte zurückgelegt, als ich mich rufen hörte; die Magd kam hinter mir hergelaufen und bat mich, zurückzukehren, der Bürger Duplessis wolle mich sehen; ich entgegnete, ich hätte es eilig und würde ein anderes Mal wiederkommen; in diesem Augenblicke aber kam der Bürger Duplessis selber; es war ein bejahrter, ehrwürdig aussehender Mann. Ich wiederholte, was ich der Magd erzählt hatte; er antwortete mir, ich müßte ihm noch mehr erzählen, wofür er mir dankbar sein würde. Ich sträubte mich noch immer, indem ich meine Geschäfte vorschützte; aber er bestand dringend auf seinem Verlangen, so daß die Vorübergehenden stehenblieben und lauschten. Sie konnten mich kennen; ich hielt es daher für das beste, ihm zu folgen. Er wollte meinen Arm nehmen, ich zog ihn aber zurück, und als wir in der engen Straße nicht nebeneinander gehen konnten, hielt ich mich hinter ihm. Er wohnte im zweiten Stockwerk; er ließ mich in ein großes, reich möbliertes Zimmer treten, wies mir einen Stuhl an, setzte sich selber vor einem mit Papieren bedeckten Tische in einen Lehnstuhl und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ich hörte den Schrei eines Kindes und bemerkte in der Vertiefung eines Bibliothekzimmers eine Wiege mit herabgelassenen Vorhängen. Der Bürger Duplessis lief nach der Wiege hin und nahm einen kleinen Knaben heraus, der krank zu sein schien und fortwährend ächzte. Er zeigte ihn mir mit den Worten:
»Das ist ihr Sohn.«
Seine Stimme verriet Tränen, aber seine geröteten Augen blieben trocken.
»Dies ist ihr Kind«, wiederholte er.
Dann umarmte er es mit einer krampfhaften Hast, legte es wieder in sein Bett und fragte mit einiger Anstrengung.'
»Ihr waret zugegen, Ihr habt ihn gesehen?«
Ich machte eine bejahende Gebärde.
»Als ein mutiger Mann, als ein Republikaner, nicht wahr?« fügte er hinzu, ohne das Wort sterben auszusprechen.
Ich antwortete, seine letzten Worte hätten seinen Geliebten gegolten. Nach ziemlich langer Pause rang er plötzlich seine Hände, erbleichte und rief:
»Und sie? o meine Tochter? meine arme Lucile? Werden sie ebenso unbarmherzig gegen sie sein wie gegen ihn? Ist es nicht zu viel für einen elenden Greis, zwei Kinder beweinen zu müssen? Man hält sich für einen Philosophen, mein Herr, man glaubt sich durch die Vernunft gegen den Gedanken an die Zerstörung gestählt ... Gibt es denn aber eine Philosophie, gibt es eine Vernunft, wenn man unser Kind bedroht? wenn wir uns ohnmächtig fühlen, es zu verteidigen, für dasselbe zu kämpfen, unser Blut zu seiner Rettung zu vergießen? Mein Gott, wenn ich denke, daß es uns nicht erlaubt sein soll, ihren letzten Athem zu empfangen, daß sie sich abquälen, daß sie zwei Stunden Todesqual leiden soll, während wir uns hier in Sicherheit befinden, in diesem Hause, wo sie geboren wurde, in diesem Zimmer, wo sie spielte, vor diesem Herde, der sie erwärmte. Wenn wir uns sagen, daß sie vielleicht, noch unglücklicher als Camille, niemand anders haben wird, uns ihr letztes Lebewohl zu übersenden, als den elenden Henker, der sie tötet!«
Ich fühlte, wie mich ein Schauer durchrieselte und mein Haar sich sträubte. Er ging im Zimmer auf und ab, indem er seine weißen, verworrenen Haare schüttelte und mit stierem Blick und wilder Miene die Fäuste ballte. Als er vor einer Büste der Freiheit, die auf dem Kaminsims stand, vorüberkam, warf er sie wütend herunter und zertrat die Trümmer vollends mit dem Fuße. Ich war zu gleicher Zeit entsetzt und bestürzt und fand kein Wort des Trostes, kein Wort der Hoffnung für ihn. Ich bedauerte bitter, den Bitten des armen Mannes nachgegeben zu haben. In diesem Augenblicke klingelte man; eine Bürgerin, etwa fünfzig Jahre alt, aber noch schön, obgleich das Gesicht von Verzweiflung entstellt war, trat ein und sank dem Bürger Duplessis in die Arme, mit den Worten:
»Verloren! sie ist verloren! binnen drei Tagen wird sie vor das Tribunal geführt.«
Sie war die Mutter von Desmoulins' Gattin. Ich entsetzte mich bei dem Gedanken, von dieser Frau erkannt zu werden, der ich das Glück ihrer Tochter geraubt und wahrscheinlich ihre eigene Tochter nehmen mußte; ich entfloh, als hätte ich ein Verbrechen begangen. Niemals habe ich so schmerzlich gelitten wie in Gegenwart dieser Unglücklichen.
18. Germinal. Gestern erschien ein großmütiger Bürger vor der Schranke des Nationalkonvents und erbot sich, auf seine Kosten die Guillotine zu unterhalten.
20. Germinal. Die Frau von Desmoulins befindet sich mit ihren Mitschuldigen bei der sogenannten Luxembourg-Verschwörung in der Conciergerie; morgen werden sie mit dem Bürger Anaxagoras Chaumette, Gobel, ehemaligem Bischof, dem Repräsentanten Simon und vielen anderen vor dem Tribunal erscheinen.
24. Germinal. Der Prozeß der Frau des Bürgers Desmoulins wurde heute um zehn Uhr morgens geschlossen; um fünf Uhr abends war auch ihr Leben und ihr Schmerz beendigt. Als sie nach der Conciergerie kam, rührte sie alle Leute durch den Ausdruck ihrer Verzweiflung. Einen Augenblick hielt man sie für verrückt und hoffte, obgleich dies eine kühne Hoffnung war, ihre Verstandsverwirrung könnte sie vom Schafott retten; aber der Gedanke, ihren Camille wiederzusehen, herrschte in diesem gestörten Hirne vor, und dieser Gedanke war so mächtig, daß sie in der Gerichtssitzung die ganze Klarheit ihres Geistes wieder erhielt; sie antwortete dem Vorsitzenden Dumas mit großem Nachdruck und mit Lebhaftigkeit. Sie wäre schneller abgefertigt worden, denn die Angelegenheit hat nicht weniger als drei Sitzungen in Anspruch genommen, aber man hielt es für schicklich, die Angeklagten der vorgeblichen Luxembourg-Verschwörung mit den Mitschuldigen Héberts, Vincents und Ronsins zu vereinigen, d. h. mit Leuten, die sich gegenseitig verabscheuten; es saßen fünfundzwanzig auf den Bänken, von denen neunzehn verurteilt und hingerichtet wurden. Der Bürger Chaumette, Schriftsteller und Agent der Pariser Kommune, verleugnete seinen Ruf als Philosoph nicht; er ertrug sein trauriges Schicksal mit großer Festigkeit und unerschütterlicher Heiterkeit des Gesichts; von Zeit zu Zeit wendete er sich an das Publikum mit seiner gewöhnlichen Beredsamkeit. Aber dieses Volk ist unter der Republik ebenso wandelbar und vergeßlich, wie es unter dem alten Regime gewesen ist. Vor vier oder fünf Monaten galt der Bürger Chaumette bei den Parisern noch für eine große Berühmtheit; es war die erste Sorge des Fremden, seine Reden zu hören; man drängte sich an die Türen des Gemeindehauses; heute antworteten viele dieser damals Begeisterten auf seine ergreifenden Worte nur mit Spottgeschrei.
In seiner Verteidigung entwarf Chaumette in kurzem seine Lebensbeschreibung.
»Ich habe erklärt,« sprach er, »daß ich der Sohn eines ehrlichen Handwerkers bin; dreizehn Jahre alt, ging ich zur See; ich begann als Schiffsjunge und wurde Steuermann; nach dem beendigten amerikanischen Kriege hoffte ich, die Freiheit in meinem Vaterlande hergestellt zu sehen. Vom Adel und den Priestern, namentlich von den Bischöfen verfolgt, warf ich mich in die Schriftsteller-Laufbahn; ich übersiedelte nach Avignon, wo ich das Tageblatt dieser Stadt schrieb. Dann eilte ich bald nach Brest, bald nach Calais, bald nach Marseille; überall lieferte ich Artikel von philosophischem Wert.
In mein Departement zur Zeit der Revolution zurückgekehrt, ergriff ich die Partei der Sansculotten. Ich erklärte den Generälen der Nationalgarde, welche zuletzt auswanderten, den Krieg. Meine Mitbürger forderten mich auf, den zu Nancy verstorbenen Patrioten die Leichenrede zu halten; darauf schilderte und entlarvte ich Bouillé; ich wagte es, Schmähschriften gegen Lafayette zu schleudern. Ich kam nach Paris, Loustalot lebte noch, Prudhomme nahm mich auf, und ich arbeitete bis zum 19. August an den ›Révolutions de Paris‹. Mein Benehmen während dieser denkwürdigen Zeit ist bekannt. Seitdem wurde ich vom Volk zu einem Gemeindeamte berufen, und man weiß, wie ich seine Rechte wahrgenommen habe. Jetzt soll der Gerichtshof mein Todesurteil sprechen. Ich bin ruhig über mein zukünftiges Geschick!«
Ganz anders war Gobels Haltung; mit dem Unglück war ihm das Gewissen erwacht; er hörte nicht auf, den Gott, den er geleugnet hatte, anzurufen. Er beichtete seinem ehemaligen Vikar, dem Bürger Lothringer, der sich entschieden geweigert hatte, seinen Glauben abzuschwören. In dem Vorzimmer der Kanzlei kniete der ehemalige Bischof nieder und bat mit lauter Stimme um Verzeihung für den Skandal, den er verursacht hatte; er wollte Chaumette vorpredigen, aber dieser fiel ihm gleich in die Rede und sagte ihm mit Entrüstung:
»Stirb du in deinem Glauben, ich werde in dem meinigen sterben; wenn es einen Gott gibt, so mag er mir die Fehler, die ich in guter Meinung beging, verzeihen, aber er würde mir nicht eine Lüge, die mir die Furcht eingeflößt, vergeben.«
Beysser zeigte bis zum letzten Augenblicke völlige Sorglosigkeit. Die Bürgerin Desmoulins benutzte die wenigen Augenblicke, die ihr nach dem Urteilsspruch blieben, sich zu schmücken, als ob dieser Tag ihr zweiter Hochzeitstag wäre. Sie war ebenso wie die Witwe Heberts in das Zimmer der Gefängnisschließer gebracht worden und sollte dort bis zum Abgange bleiben; dort haben wir sie zur Hinrichtung vorbereitet. Die Witwe Hébert weinte sehr; die Bürgerin Desmoulins lächelte im Gegenteil; mehrmals umarmte sie die Frau des erbittertsten Feindes ihres Gatten und wandte alles zu ihrem Troste auf. Als sie auf den Karren steigen sollte, näherte sich ihr Dillon. Sie drückte ihr herzliches Bedauern aus, seinen Tod veranlaßt zu haben; Dillon antwortete, dies sei nichts als ein Vorwand; und zeigte sich über das Schicksal eines so jungen und reizenden Geschöpfes gerührt. Die Bürgerin Desmoulins unterbrach ihn:
»Betrachtet doch einmal mein Angesicht,« rief sie, »ob es das einer Frau ist, die des Trostes bedarf? Seit acht Tagen hege ich nur den einen Wunsch, Camille wiederzusehen; dieser Wunsch wird erfüllt werden. Wenn ich nicht diejenigen haßte, die mich verurteilt haben, weil sie den edelsten und besten der Männer mordeten, so würde ich sie für den Dienst, den sie mir heute erweisen, segnen.«
Darauf sagte sie Dillon Lebewohl, ohne Rührung und mit der Heiterkeit einer Frau, die sich von einem Freunde trennt, den sie bald wiederzusehen hofft. Dillon saß im ersten Karren, im zweiten die Bürgerin Desmoulins mit Grammont-Nourry, Lacroir, Lapalu, Lassalle und der Witwe Hébert. Während der Fahrt plauderte sie mit diesen beiden Bürgern, die sehr jung waren: Lapalu war sechsundzwanzig und Lassalle vierundzwanzig Jahre alt. Sie scherzte mit solcher Heiterkeit, daß sie jene mehrmals zum Lächeln zwang. Ihre Unterhaltung wurde durch die Tränen der Witwe Hébert und durch die beiden Grammont gestört, die sich in einen elenden Streit verwickelten: der Sohn warf dem Vater vor, er habe durch seine Ratschläge und durch sein Beispiel seinen Tod verschuldet. In seiner Angst ließ sich der junge Mann dazu verleiten, seinen Vater wie einen Schurken zu behandeln.
»Mein Herr,« sagte die Bürgerin Desmoulins zu ihm, »man behauptet, Sie hätten Antoinette, als sie zum Schafott geführt wurde, beleidigt; darüber bin ich nicht erstaunt; Sie hätten sich aber ein wenig Kühnheit aufsparen sollen, um einer anderen Majestät Trotz zu bieten: der Majestät des Todes dem Sie entgegengehen.«
Grammont, der Sohn, antwortete mit einer Beleidigung, und sie wendete sich mit Widerwillen ab. Sie stieg mutig hinauf und sah kaum bleich aus. Wie Adam Lux ging sie mit der Überzeugung dahin, daß die Seele des Geliebten sie jenseits erwarte. Dillon rief:
»Es lebe der König!«
Im Augenblick des Sterbens wollte Grammont, der Vater, seinen Sohn gerührt umarmen, aber dieser stieß ihn zurück.
25. Germinal. Heute morgen habe ich das Haar der Bürgerin Desmoulins ihren Eltern geschickt. Ich übergab das Paket einem Savoyarden, den ich von der Barrière Saint Jacques geholt hatte; ich sprach lange mit ihm, um mich zu überzeugen, daß er mich nicht kenne und ihnen den Namen dessen, der ihnen diese Reliquien überschickte, nicht nennen werde. Der Gedanke, mir Dank zu schulden, würde ihnen wahrscheinlich schrecklich gewesen sein. Übrigens mußten sie bereits einen Teil des Haupthaares ihrer Tochter besitzen, denn ich bemerkte, daß sie dasselbe schon vorn und an den Seiten verschnitten hatte.

Aus den Tagebüchern der Henker von Paris - Zweiter Band; Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1923
Übersetzer: Eduard Trautner














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