Mittwoch, 15. Februar 2012

Joseph Brodsky und John Donne




"ES GIBT KEINE LIEBE OHNE ERINNERUNG;

keine Erinnerung ohne Kultur, keine Kultur ohne Liebe. Deshalb ist jedes Gedicht ein Faktum der Kultur wie ein Akt der Liebe und ein Blitzlicht der Erinnerung, und ich würde anfügen – des Glaubens.“  

Joseph Brodsky, "Beyond Consolation" The New York Review of Books,
7. Februar 1974


JOSEPH BRODSKY

GROSSE ELEGIE AN JOHN DONNE

John Donne schlief ein. Alles ringsum schlief ein.
Wand, Boden, Bettzeug, Bilder schliefen ein,
Tisch, Teppich, Riegel, Haken schliefen ein,
die ganze Garderobe, Anrichte, Gardinen, Kerzen.
Alles schlief ein. Glas, Flasche, Schüsseln,
Brot, Brotmesser, Keramik, Porzellan, Geschirr,
Uhr, Schränke, Wäsche, Fensterscheiben, Lampe,
die Treppenstufen, Türe. Überall ist Nacht…
… Wild, Vögel schlafen, tote Welt, das Leben.
Nur weißer Schnee fällt aus dem Nachtgewölbe.
Selbst dort wird jetzt geschlafen, über allen Köpfen.
Die Engel schliefen ein. Die Heiligen vergaßen
die angsterfüllte Welt – zu ihrer heilgen Schande…
… John Donne schlief ein. Es schlafen die Gedichte,
und alle Bilder, Rhythmen, starke, schwache,
sind unauffindbar. Laster, Sehnsucht, Sünden,
sie ruhen lautlos gleich in ihren Silben.
Ein Vers ist zu dem andern wie ein Bruder,
obwohl sie zueinander flüstern: rück ein wenig.
Doch jeder ist so weit vom Himmelstor entfernt,
so arm, so dicht, so rein, daß – Einigkeit sie füllt…
… Doch horch! Du hörst: dort, in dem kalten Finstern,
dort weint ja jemand, jemand flüstert ängstlich.
Jemand ist dort dem Winter ausgeliefert.
Und weint. Dort ist im Dunkel jemand…
… Wer schluchzt denn dort. Bist du’s, mein Engel,
der auf die Rückkehr meiner Liebe wartet, unterm Schnee,
so wie der Lethefluß…
… Nein, das bin ich, John Donne, ich, deine Seele.
Ich trauere verlassen hier in Himmelshöhen,
daß ich mit meiner Arbeit alle die Gefühle
und die Gedanken, schwer wie Ketten, schuf.
Mit dieser Last beherrschtest du den Flug
durch Leidenschaften, Sünden, und noch höher.
Du warst ein Vogel, und du sahst dein Volk,
ganz, überall, über den Dächern segelnd…
… Du hast
selbst Gott umflogen, und du jagtest weiter.
Doch diese Last wird dich nicht aufwärts lassen,
seit diese Welt – nur hundert Türme
und ein paar Flüsse, wo dem Blick nach unten
das schreckliche Gesicht fast gar nicht schrecklich dünkt…
… Doch höre! Während ich dein Nachtquartier mit Weinen
bestürze hier – fällt in das Dunkel, ungeschmelzt,
der Schnee und näht hier unsere Entzweiung,
und hin und her fliegt, hin und her, die Nadel.
Ich bin es nicht, der schluchzt. John Donne, du weinst… 

Übersetzer: Ralph Dutli  
 
 

JOHN DONNE

GEISTLICHES SONNETT N° 10

Erstürme mein Herz! Dreifaltiger Gott, der scheu
Bis jetzt nur anklopft, haucht, heilsam bespricht.
O wirf mich nieder, daß ich mich aufricht!
Brauch deine Kraft, blas, brenn und mach mich neu!

Ich eine Stadt, dem Feind verpfändet, freu
Mich auf dein Kommen. All mein Mühn hilft nicht:
Vernunft, Dein Vogt, dem mich verteidigen Pflicht,
Wird bald gefaßt, da schwach und ungetreu,

Doch innigst lieb ich Dich, möcht, daß Du mich
Auch liebst. Und bin dem Feind versprochen doch!
Löse, zerhau den Knoten, scheide mich,

Reiß mich zu Dir, wirf mich ins Kerkerloch!
Ich bin ich nicht frei, außer Du bändest mich.
Ich bin nicht rein, außer Du schändest mich.

Übersetzer: Wolfgang Breitwiesers


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen