Sonntag, 26. Juni 2011

Allen Ginsberg - Das Geheul - The Howl - Nachtrag zum CSD

Das Geheul

Von Allen Ginsberg
für Carl Solomon



I
1. Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahnsinn zerstört, verhungernd hysterisch nackt, wie sie sich durch die Negerstraßen schleppten im Morgengrauen, auf der Suche nach einer letzten Spritze,
2. engelköpfige Freaks, gierig nach der alten himmlischen Verbindung zum Stern-Dynamo in der Maschinerie der Nacht,
3. die armselig und verwahrlost und hohläugig und high in der übernatürlichen Finsternis ihrer über den Städten schwebenden Kaltwasserbuden hockten und kifften und Jazz meditierten,
4. die dem Himmel ihre Gehirne entblößten unter der Hochbahn und mohammedanische Engel taumeln sahen auf den Dächern erleuchteter Mietskasernen,
5. die durch Universitäten strichen mit strahlenden kühlen Augen und Arkansas halluzinierten und düstere Blake-Tragödien zwischen den Magistern des Krieges,
6. die wegen Wahnsinns der Akademien verwiesen wurden, weil sie an die Fenster des Totenschädels obszöne Oden geschmiert hatten,
7. die in Unterwäsche kauerten in unrasierten Buden, ihr Geld in Papierkörben verbrannten und dem Terror lauschten, der durch die Wand kam,
8. die mit ihren Schamhaar-Bärten an der Grenze bei Laredo hochgenommen wurden mit einem Gürtel Marijuana für New York,
9. die Feuer frassen in Absteigen oder Terpentin schluckten in Paradise Alley und daran verreckten und ihre Rümpfe im Fegefeuer quälten Nacht für Nacht,
10. mit Träumen, mit Drogen, mit Nachtmahren bei offenen Augen und Alkohol und Schwänzen und endlosen Ficks,
11. unvergleichlich blinde Strassen mit schaudernden Wolken und Blitzen im Kopf, die übersprangen auf Telegraphenmasten von Kanada & Paterson und die ganze reglose Welt der Zeit dazwischen mit Licht übergossen
12. Meskalinversteinerte Hausflure, hinterhof-baumgrüne Friedhofsdämmerungen, Weinräusche über den Dächern, ekstatische bekiffte Fahrten durch Einkaufsviertel und neonblinkende Ampeln, Sonne und Mond und Baumvibrationen in den brüllenden Winterdämmerungen von Brooklyn, Predigten zwischen Mülltonnen und das sanfte Königslicht des Geistes,
13. die sich auf Benzedrin an U-Bahnen ketteten zur endlosen Fahrt von Battery Park zur heiligen Bronx, bis der Lärm der Räder und Kinder sie runterbrachte, zitternd, sabbernd, zerschlagen, mit stumpfen glanzlosen Hirnen im traurigen Licht des Zoos,
14. die nachts im Unterwasserlicht von Bickford's versanken, hinaustrieben und die schalen Biernachmittage abhockten im öden Fugazzi's, wo sie aus der Wasserstoff-Jukebox die Posaunen des Jüngsten Gerichts hörten,
15. die ohne Aufhören siebzig Stunden lang redeten, zwischen Park und Bude und Bar und Bellevue und Museum und Brooklyn Bridge,
16. ein verlorener Haufen platonischer Schwätzer, die von der Veranda sprangen, von Feuerleitern, von Fensterbrettern, vom Empire State Building, vom Mond,
17. und Tatsachen und Erinnerungen und Anekdoten und visuelle Kicks und Schocks aus Krankenhäusern und Knästen und Kriegen herplapperten, herausschrien, auskotzten, vor sich hinflüsterten,
18. ganze Verstandesgebäude, mit glänzenden Augen herausgewürgt in sieben Tagen und Nächten im Sturm der Erinnerung, Fleisch für die Synagoge, auf die Straße geworfen,
19. die ins Nirgendwo eines Zen-New-Jersey verschwanden und nichts hinterließen als eine Spur zweideutiger Ansichtskarten von Atlantic City Hall,
20. die in Newark in trostlosen möblierten Zimmern auf Entzug gingen und asiatische Schweißausbrüche durchlitten und Gliederschmerzen aus Tanger und Migränen aus China,
21. die um Mitternacht auf dem Güterbahnhof hin- und herwanderten und überlegten, wohin sie fahren sollten, und dann fuhren sie und niemand trauerte ihnen nach,
22. die Zigaretten rauchten in Güterwaggons Güterwaggons Güterwaggons auf der ratternden Fahrt durch den Schnee, einsamen Farmen entgegen in der großväterlichen Nacht,
23. die Plotin lasen und Poe und Johannes vom Kreuz und sich mit Telepathie beschäftigten und der Kabbala des Bebop, weil sie fühlten, wie der Kosmos unter ihren Füßen vibriert hatte in Kansas,
24. die einsam durch die Strassen von Idaho irrten auf der Suche nach visionären indischen Engeln, die visionäre indische Engel waren,
25. die dachten, dass sie einfach verrückt seien, als Baltimore in übernatürlicher Ekstase erstrahlte,
26. die in Limousinen sprangen mit dem Chinesen von Oklahoma, einfach so, weil Winter war, Mitternacht, Strassenlaternen, Kleinstadt, und es regnete,
27. die ausgehungert und vereinsamt durch Houston lungerten, auf der Suche nach Jazz oder Sex oder einer Suppe, und mit dem brillanten Spanier loszogen, um über Amerika und die Ewigkeit zu reden, ein hoffnungsloses Unterfangen, und sich dann nach Afrika einschifften,
28. die in den Vulkanen von Mexico verschwanden und nichts hinterließen als den Schatten ihrer Arbeitsklamotten und die Lava und Asche verbrannter Dichtungen im Feuerofen von Chicago,
29. die an der Westküste wieder auftauchten und gegen das FBI ermittelten, bärtig, in Shorts, mit großen pazifistischen Augen, sexy und braungebrannt, und unverständliche Flugblätter austeilten,
30. die mit Zigaretten Löcher brannten in ihre Arme aus Protest gegen die betäubenden Tabakschwaden des Kapitalismus,
31. die auf dem Union Square superkommunistische Pamphlete austeilten und weinten und sich auszogen, während die Sirenen von Los Alamos sie in Grund und Boden heulten und die Wall Street entlangheulten, und die Fähre nach Staten Island heulte auch,
32. die schluchzend zusammenbrachen in weißen Turnhallen, nackt und zitternd vor der Maschinerie anderer Skelette,
33. die Polizisten in den Nacken bissen und in den Streifenwagen kreischten vor Vergnügen, weil sie nichts auf dem Kerbholz hatten als ihr wildes blühendes Schwulsein und ihre Räusche,
34. die in der U-Bahn auf die Knie gingen und schrien und vom Dach gezerrt wurden und Genitalien und Manuskripte schwenkten,
35. die sich von frommen Motorradfahrern in den Arsch ficken ließen und schrien vor Freude,
36. die den Matrosen einen bliesen, diesen Seraphen in Menschengestalt, und sich von ihnen einen blasen ließen, atlantische Zärtlichkeiten und karibische Liebe,
37. die morgens und abends in Rosengärten herumfickten und im Gras der öffentlichen Parkanlagen und Friedhöfe und ihren Samen großzügig verschleuderten an jeden, der vorüberkam,
38. die endlosen Schluckauf hatten und zu kichern versuchten und dann hinter einer Trennwand in einem türkischen Bad nur noch schluchzten, als der blonde & nackte Engel erschien, um sie mit einem Schwert zu durchbohren,
39. die ihre Loverboys an die drei alten Parzen des Schicksals verloren: die einäugige Parze des heterosexuellen Dollars, die einäugige Parze, die mit den Schamlippen zwinkert und die einäugige Parze, die nur auf Ihrem Arsch sitzt und die intellektuellen Goldfäden am Webstuhl des Künstlers durchschnipst,
40. die ekstatisch und unersättlich kopulierten mit einer Bierflasche, mit einem Sweetheart, mit einer Schachtel Zigaretten, mit einer Kerze und vom Bett fielen und auf dem Boden weiterfickten bis in den Hausflur und schließlich an einer Wand ohnmächtig wurden mit einer Vision der ultimativen Möse und des absoluten Orgasmus, mit dem sie den letzten Zuckungen des Bewusstseins entkommen würden,
41. die eine Million im Abendlicht zitternder Girls nass machten zwischen den Beinen und am Morgen blutunterlaufene Augen hatten, aber bereit waren, auch die Sonne nass zu machen, indem sie ihr mit blanken Arschbacken zuwinkten unter Scheunendächern und nackt im See,
42. die auszogen und in Myriaden gestohlener Autos nachts durch Colorado hurten, N.(eal) C.(assady), geheimer Held dieser Gedichte, Schwanzträger und Adonis von Denver - mit Freude gedenken wir seiner unzähligen Ficks auf leeren Grundstücken & Diner-Hinterhöfen, in wackligen Kino-Sitzreihen, auf Bergspitzen in Höhlen oder mit hageren Kellnerinnen, denen er an vertrauten Straßenrändern den einsamen Petticoat hob, und besonders beim heimlichen Fürsichsein auf Tankstellen-Klos & in den Gassen seiner Heimatstadt auch,
43. die in endlosen ekelerregenden Filmen das Bewußtsein verloren, in Träumen umhertrieben, plötzlich in Manhattan erwachten und aus Kellern herauskrochen, verkatert von herzlosem Süßwein und gusseisernen Alpträumen der Third Avenue & zum nächsten Arbeitsamt stolperten,
44. die nächtelang mit Schuhen voll Blut über die verschneiten Docks wanderten und darauf warteten, daß sich im East River eine Tür auftat zu einem Raum voll Sauna-Dampf und Opium,
45. die großartige Selbstmord-Dramen abzogen auf den Apartment-Klippen des Hudson unter dem wie im Krieg verdunkelten blauen Flutlich des Mondes & ihre Häupter sollen gekrönt werden mit Lorbeer bis sie dem Vergessen anheimfallen,
46. die das Lammfleisch der Vorstellungskraft aßen oder die Filzläuse verdauten auf dem schlammigen Grund der Flüsse der Bowery,
47. die die Romantik der Straßen beweinten mit ihren Schubkarren voller Zwiebeln und schlechter Musik,
48. die in Pappkartons in der Dunkelheit unter der Brücke saßen und atmeten und sich dann erhoben, um Cembalos zu bauen in ihren Lofts.
49. die in Harlem husteten im sechsten Stock, flammengekrönt unter dem tuberkulösen Himmel, umgeben von Orangenkisten voll Theologie,
50. die nächtelang in Trance erhabene Hymnen hinkritzelten und in der gelben Morgendämmerung war es dann nur leeres Gestammel,
51. die sich Borschtsch kochten aus angefaulten Tierkadavern Lungen Herzen Füßen und Schwänzen und sich Tortillas buken und dabei träumten vom reinen Königreich des Gemüses,
52. die unter Fleischerwagen robbten auf der Suche nach einem Ei,
53. die ihre Armbanduhren vom Dach warfen, um ihre Stimme abzugeben für eine Ewigkeit jenseits der Zeit, und während der nächsten zehn Jahre fiel ihnen jeden Tag ein Wecker auf den Kopf,
54. die sich dreimal hintereinander die Pulsadern aufschnitten, ohne Erfolg, und dann aufgaben und Antiquitätenläden aufmachen mussten, in denen sie sich alt vorkamen und weinten,
55. die bei lebendigem Leibe verbrannt wurden in ihren unschuldigen Flanellanzügen auf der Madison Avenue, unter schwerem Beschuss bleierner Verse & dem Panzergerassel eiserner Moderegimenter & den spitzen Nitroglyzerinschreien schwuler Werbefritzen & dem Senfgas der finsteren Intelligenz von Verlegern oder sie wurden einfach über den Haufen gefahren von den trunkenen Droschken der Absoluten Wirklichkeit,
56. die von der Brooklyn Bridge sprangen, das ist wirklich passiert, und unerkannt und vergessen verschwanden in die gespenstische Umnachtung der Suppengassen und Feuerwehrlöschzüge von Chinatown, nicht ein Bier umsonst,
57. die aus ihren Fenstern sangen voller Verzweiflung, aus dem U-Bahn-Fenster kippten, in den vermüllten Passaic sprangen, Neger anfielen, auf der Straße lauthals weinten, barfuß auf zerbrochenen Weingläsern tanzten, Schallplatten zerbrachen mit nostalgischem europäischem 30er-Jahre-Jazz aus Deutschland, dann den Whisky austranken und stöhnend in die blutige Kloschüssel kotzten, Gewinsel in den Ohren und das Dröhnen kolossaler Dampfpfeifen,
58. die über die Highways der Vergangenheit bretterten, unterwegs zu ihren Straßenrennen-Golgathas, ihren Gefängnis-Gethsemanes und ihren Jazz-Inkarnationen in Birmingham,
59. die zweiundsiebzig Stunden quer durch das Land fuhren, um herauszufinden, ob ich eine Vision hatte oder du eine Vision hattest oder er eine Vision hatte vom Weg in die Ewigkeit,
60. die nach Denver reisten, die in Denver starben, die zurückkamen nach Denver & vergeblich warteten, die wachten über Denver & in Denver grübelten & vereinsamten und schließlich abhauten, um herauszufinden, was die Uhr geschlagen hatte & nun ist Denver einsam und sehnt sich nach seinen Helden,
61. die in die Knie brachen in hoffnungslosen Kathedralen und füreinander beteten, um Erlösung und Licht und Brüste, bis die Seele ihr Haar für einen Augenblick erleuchtete,
62. die durchdrehten im Knast in Erwartung unerträglicher Krimineller mit goldenen Häuptern und dem Zauber der Wirklichkeit in ihren Herzen, mit sanften Blues-Songs für Alcatraz,
63. die sich nach Mexico zurückzogen, um in Ruhe zu fixen oder nach Rocky Mount, um sich dem Buddha anzudienen oder nach Tanger wegen der Jungs dort oder zur Southern Pacific und ihrer schwarzen Lokomotive oder nach Harvard zu Narziss oder nach Woodlawn zum Gruppenfick oder ins Grab,
64. die Untersuchungen des öffentlichen Geisteszustandes forderten und dem Rundfunk hypnotische Praktiken vorwarfen & und am Ende dastanden mit ihrer Geisteskrankheit & ihren Händen & und einer uneinigen Jury,
65. die am City College von New York die Dadaismus-Dozenten mit Kartoffelsalat bewarfen und sich anschließend mit geschorenen Köpfen und clownesken Selbstmordreden auf den Granittreppen der Irrenanstalt präsentierten und sofortige Lobotomie verlangten,
66. und denen man stattdessen die betonharte Leere von Insulin verabreichte und Metasol Elektroschocks Hydrotherapie Psychotherapie Tischtennis & Gedächtnisverlust,
67. die in humorlosem Protest nur eine symbolische Tischtennisplatte umwarfen und sich kurz ausruhten in Katatonie,
68. um Jahre später zurückzukehren, jetzt wirklich kahlköpfig, bis auf eine Perücke aus Blut und Tränen und Fingern, in das unausweichliche Irrenschicksal in den geschlossenen Abteilungen der Irrenstädte des Ostens,
69. in die von Verwesungsgeruch stinkenden Hallen von Rocklands Pilgrim State Hospital und Greystone, flackernd von den Echos der Seele, rollend und zuckend in den Liebesgräbern der mitternächtlichen Anschnalltische, der Traum vom Leben ein Alptraum, die Körper versteinert und schwer wie der Mond,
70. mit Mutter schließlich ***** und das letzte phantastische Buch aus dem Fenster geschleudert und die letzte Tür um vier Uhr morgens verschlossen und das letzte Telephon als Antwort an die Wand gefeuert und das letzte möblierte Zimmer ausgeleert bis auf das letzte Stück der geistigen Einrichtung, eine gelbe Rose aus Papier, um einen Drahtbügel im Wandschrank gewunden, und selbst das ist nur Einbildung, nichts als ein hoffnungsvolles kleines bisschen Halluzination -
71. ah, Carl, solange du nicht in Sicherheit bist, bin ich es auch nicht, und jetzt bist du wirklich in der totalen tierischen Suppe der Zeit -
72. und die deshalb durch die eisigen Straßen rannten, besessen von plötzlicher Einsicht in den alchemistischen Gebrauch des Ellipsen-Kataloges der variablen Maße und der vibrierenden Fläche,
73. die träumten und durch Bilder nebeneinandergestellt leibhaftige Löcher in Zeit & Raum schufen und den Erzengel der Seele zwischen zwei Bildvorstellungen einfingen und die elementaren Verben verbanden und das Nomen und den Bindestrich des Bewusstseins zusammenfügten und herumsprangen mit dem Allmachtsgefühl des Pater Omnipotens Aeterne Deus
74. um Syntax und Rhythmus der ärmlichen menschlichen Prosa neu zu erschaffen und vor euch zu stehen, sprachlos und intelligent und zitternd vor Scham, zurückgewiesen, doch frei die Seele bekennend im Einklang mit dem Rhythmus der Gedanken in seinem nackten und unendlichen Kopf,
75. der wahnsinnige Penner und Engel, geschlagen in der Zeit, unbekannt, aber hier um festzuhalten, was vielleicht noch zu sagen bleibt in der Zeit nach dem Tod,
76. und die auferstanden, wiedergeboren in den geisterhaften Gewändern des Jazz im Goldhornschatten der Band und die Sehnsucht der nackten amerikanischen Seele nach Liebe hinausröhrten in einem eli eli lama lama sabachtani Saxophonschrei, der die Städte bis ins letzte Radio erzittern ließ
77. mit dem absoluten Herzen des Gedichts des Lebens, herausgerissen aus ihren eigenen Leibern, Nahrung genug für tausend Jahre.

II

1. Welche Sphinx aus Zement und Aluminium zertrümmerte ihnen die Schädel und fraß ihre Gehirne und ihre Phantasie?
2. Moloch! Einsamkeit! Dreck! Hässlichkeit! Mülleimer und unerschwingliche Dollars! Angstschreie von Kindern unter den Treppen! Schluchzende Jungs in der Armee! Alte Männer, weinend in den Parks!
3. Moloch! Moloch! Alptraum des Moloch! Moloch der Lieblose! Moloch des Denkens! Moloch der harte Richter über die Menschen!
4. Moloch, das unbegreifliche Gefängnis! Moloch, das totenköpfige seelenlose Zuchthaus, der Kongress der Ängste! Moloch, dessen Gebäude uns richten! Moloch, der riesige Stein des Krieges! Moloch, die gelähmten Regierungen!
5. Moloch, dessen Bewusstsein eine reine Maschine ist! Moloch, in dessen Adern Geld fließt! Moloch, dessen Finger zehn Armeen sind! Moloch, dessen Brust ein Kannibalen-Dynamo! Moloch, dessen Ohr ein rauchendes Grab!
6. Moloch, dessen Augen tausend blinde Fenster sind! Moloch, dessen Wolkenkratzer an den Alleen wie endlose Jehovas! Moloch, dessen Fabriken qualmen und röcheln im Smog! Moloch, dessen Schornsteine und Antennen die Krone der Städte sind!
7. Moloch, dessen Liebe ein Ozean von Öl und Stein ist! Moloch, dessen Seele Elektrizität ist und Banken! Moloch, dessen Armut das Gespenst des Genies ist! Moloch, dessen Schicksal eine Wolke geschlechtslosen Wasserstoffs ist! Moloch, dessen Name das Denken ist!
8. Moloch, in dem ich einsam sitze! Moloch, in dem ich Engel erträume! Verrückt in Moloch! Schwanzlutscher in Moloch! Ohne Liebe und Freundschaft in Moloch!
9. Moloch, der mir früh in die Seele drang! Moloch, in dem ich ein Bewusstsein bin ohne Körper! Moloch, der mich aus meiner natürlichen Ekstase schreckte! Moloch, von dem ich mich lossage! Erwachen in Moloch! Licht, das vom Himmel strömt!
10. Moloch! Moloch! Roboter-Apartments! unsichtbare Vorstädte! Tresore voll von Skeletten! blinde Hauptstädte! dämonische Industrien! Gespenstische Nationen! Unüberwindliche Irrenhäuser! Granitschwänze! monströse Bomben!
11. Sie brachen sich das Kreuz, als sie Moloch zum Himmel erhoben! Straßenpflaster, Bäume, Radios tonnenschwer! Sie hoben die Stadt in den Himmel, der existiert und uns von allen Seiten umgibt!
12. Visionen! Omen! Halluzinationen! Wunder! Ekstasen! Alles den amerikanischen Bach runter!
13. Träume! Anbetungen! Erleuchtungen! Religionen! die ganze Schiffsladung empfindsamer Scheisse!
14. Durchbrüche! über den Fluss! ausgeflippt und gekreuzigt! fortgespült mit der Flut! Räusche! Offenbarungen! Verzweiflungen! Zehn Jahre anhaltende tierische Schreie und Selbstmorde! Geister! Neue Liebschaften! Irrsinnige Generation! gestrandet auf den Felsen der Zeit!

15. Echtes heiliges Gelächter im Fluss! Sie sahen es alle! die wilden Augen! die heiligen Schreie! Sie verabschiedeten sich! Sie sprangen vom Dach! in die Einsamkeit! winkend! mit Blumen in den Händen! Hinunter zum Fluss! Hinaus auf die Straße!

III

1. Carl Solomon! Ich bin bei dir in Rockland
wo du wahnsinniger bist als ich

2. Ich bin bei dir in Rockland
wo du dir sehr seltsam vorkommen musst

3. Ich bin bei dir in Rockland
wo du den Geist meiner Mutter nachspielst

4. Ich bin bei dir in Rockland
wo du deine zwölf Sekretäre umgebracht hast

5. Ich bin bei dir in Rockland
wo du lachst über diesen unsichtbaren Humor

6. Ich bin bei dir in Rockland
wo wir große Schriftsteller sind an derselben entsetzlichen Schreibmaschine

7. Ich bin bei dir in Rockland
wo dein Zustand ernst geworden ist und im Radio durchgegeben wird

8. Ich bin bei dir in Rockland
wo die Fähigkeiten des Schädels sich den Würmern der Sinne verweigern

9. Ich bin bei dir in Rockland
wo du den Tee aus den Brüsten der alten Jungfern von Utica trinkst

10. Ich bin bei dir in Rockland
wo du die Leiber deiner Krankenschwestern mit den Harpyien der Bronx vergleichst

11. Ich bin bei dir in Rockland
wo du in der Zwangsjacke schreist, dass du das alles entscheidende Pingpongspiel mit dem Abgrund verlierst

12. Ich bin bei dir in Rockland
wo du auf dem katatonischen Piano hämmerst die Seele ist unschuldig und unsterblich und sollte nicht gottlos in einem gepanzerten Irrenhaus sterben

13. Ich bin bei dir in Rockland
wo auch fünfzig weitere Elektroschocks deine Seele nicht mehr in den Körper zurückholen werden von ihrer Pilgerfahrt zu einem Kreuz in der Leere

14. Ich bin bei dir in Rockland
wo du deine Ärzte des Wahnsinns bezichtigst und die hebräisch-sozialistische Revolution gegen das national-faschistische Golgatha planst

15. Ich bin bei dir in Rockland
wo du die Himmel über Long Island aufreissen wirst und wiederauferwecken deinen
lebendigen menschlichen Jesus aus dem übermenschlichen Grab

16. Ich bin bei dir in Rockland
wo fünfundzwanzigtausend geisteskranke Genossen gemeinsam die letzten Strophen der Internationale singen

17. Ich bin bei dir in Rockland
wo wir unter den Bettdecken die Vereinigten Staaten drücken und küssen, die Vereinigten Staaten, die die ganze Nacht husten und uns nicht schlafen lassen

18. Ich bin bei dir in Rockland
wo wir elektrisiert aus dem Koma erwachen vom Donner der Flugzeuge unsrer eigenen Seelen über dem Dach sie sind gekommen, um angelische Bomben zu werfen das Hospital erstrahlt im Licht imaginäre Wände fallen Oh knochige Legionen, rennt ins Freie Oh Sternenbanner-Schock der Gnade, der ewige Krieg ist ausgebrochen Oh Sieg vergiss deine Unterwäsche wir sind frei

19. Ich bin bei dir in Rockland
In meinen Träumen kommst du triefend von einer Seereise auf dem Highway durch Amerika, in Tränen aufgelöst, zur Tür meiner Hütte in der westlichen Nacht

San Francisco 1955/56


Carl Solomon

Allen Ginsberg

Fußnote zum Geheul/Howl


Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig!
 Heilig!
Die Welt ist heilig! jeder ist heilig! überall ist heilig! jeder Tag ist in Ewigkeit! Jedermann ist ein Engel!
Der Tramp so heilig wie der Seraph! der Irre so heilig, wie du meine Seele heilig bist!
Die Schreibmaschine ist heilig das Gedicht ist heilig die Stimme ist heilig die sie hören sind heilig die Ekstase
 ist heilig!
Heilig Peter heilig Allen heilig Solomon heilig Lucien heilig Kerouac heilig Hunke heilig Burroughs heilig
 Cassady heilig die namenlosen geschundenen und leidenden Bettler heilig die schrecklichen Engel in
 Menschengestalt!
Heilig meine Mutter in der Irrenanstalt! Heilig die Schwänze der Großväter aus Kansas!
Heilig das stöhnende Saxophon! Heilig die Bop-Apokalypse! Heilig die Jazzbands Marihuana Hipster Frieden
 Peyote Pfeifen & Trommeln!
Heilig die Einsamkeit der Wolkenkratzer und Straßen! Heilig die Cafetarias voll von den Millionen! Heilig
 die mysteriösen Tränenströme unter den Straßen!
Heilig der einsame Götze! Heilig das riesige Lamm der Mittelschicht! Heilig die irren Hirten der Rebellion!
 Wer auf los angeles steht, der ist einer!
Heilig New York Heilig San Francisco Heilig Peoria & Seattle Heilig Paris Heilig Tanger Heilig Moskau
 Heilig Istanbul!
Heilig die Zeit in Ewigkeit heilig die Uhren im All heilig die vierte Dimension
 heilig die fünfte Internationale heilig der Engel in Moloch!

Heilig das Meer heilig die Wüste heilig die Eisenbahn heilig die Lokomotive heilig die Visionen heilig die
Halluzination heilig die Wunder heilig das Auge heilig der Abgrund!
Heilig das Vergeben Barmherzigkeit! Glaube! Heilig! Unser! Körper! Leiden! Großmut!
Heilig die übernatürliche brillante intellegente Güte der Seele!
 
Berkeley 1955  

Aus dem Amerikanischen von Carl Weissner 
 
Die Links führen zum Text im Original:
 
http://sprayberry.tripod.com/poems/howl.txt 
 
http://www.everyday-beat.org/ginsberg/poems/footnote.txt         


6 Kommentare:

  1. Welche Wucht! Welcher Schmerz!
    Aufgerissene Sprache, selbst in der Übersetzung eine Ahnung davon.

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  2. Wie ein Schwall. Ganz anders und doch verwandt: I sing the body electric von Walt Whitman, im Original ist das wie eine Symphonie!


    http://www.zeno.org/Literatur/M/Whitman,%20Walt/Lyrik/Grashalme%20%28Auswahl%29/Aus%20%BBKinder%20Adams%AB/Ich%20singe%20den%20Leib,%20den%20elektrischen

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  3. http://www.candlelightstories.com/2009/04/14/audio-poem-by-walt-whitman-i-sing-the-body-electric/

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  4. Alexander Höchst26. Juni 2011 um 13:05

    Das ist keine Sprache; das ist der Rhythmus einer kreativen, gekränkten, aufbegehrenden und lebenshungrigen Generation mit berauschten Worten ausgekotzt; ganz dicht dran am alles verschlingen Schwarzen Loch des menschlichen Seins.

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  5. Sonntag mittag, am Tag nach dem CSD, Berlin Friedrichstraße:
    Weibliche Menschen, zu zweit miteinander,und männliche Menschen zu zweit miteinander.An den Händen gefasst oder die Arme umeinander gelegt. Ganz jung und gar nicht mehr jung.
    Anders als sonst: Es sind viel mehr. Viele sehen aus wie Touristen aus winzigen Städten. Viele schauen anders, als ich es hier täglich sehe. Als würden sie tapfer oder neugierig testen, wie es sich anfühlt, im Hellen auf der Straße so beieinander zu bleiben.
    So viel immer noch, aber auch so viel doch schon.

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  6. Vielen Dank für diesen unglaublichen Text! Ich habe ihn überall gesucht, weil ich so unglaublich beeindruckt von seiner Wucht war. Endlich habe ich ihn gefunden. Danke. :)

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