Sonntag, 5. Dezember 2010

Hans Magnus Enzensberger

verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1962)


soll der geier vergißmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom schakal,
daß er sich häute; vom wolf? soll
er sich selber ziehen die zähne?
was gefällt euch nicht
an politruks und an päpsten,
was guckt ihr blöd aus der wäsche
auf den verlogenen bildschirm?

wer näht denn dem general
den blutstreif an seine hosen? wer
zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
wer hängt sich stolz das blechkreuz
vor den knurrenden nabel? wer
nimmt das trinkgeld, den silberling,
den schweigepfennig? es gibt
viel bestohlene, wenig diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
lechzt denn nach lüge?

seht in den spiegel: feig,
scheuend die mühsal der wahrheit,
dem lernen abgeneigt, das denken
überantwortend den wölfen,
der nasenring euer teuerster schmuck,
keine täuschung zu dumm, kein trost
zu billig, jede erpressung
ist für euch noch zu milde.

ihr lämmer, schwestern sind,
mit euch verglichen, die krähen:
ihr blendet einer den andern.
brüderlichkeit herrscht
unter den wölfen:
sie gehen in rudeln.

gelobt sei'n die räuber; ihr,
einladend zur vergewaltigung,
werft euch aufs faule bett
des gehorsams, winselnd noch
lügt ihr, zerrissen
wollt ihr werden, ihr
ändert die welt nicht mehr.


 
sekundäres gerede.

ein poetischer text ist nicht mehr als das, was er enthält. deshalb kann er immer nur aus sich selber verständlich sein oder gar nicht. jede erläuterung, die von aussen kommt, und wäre es vom poeten selber, ist unnütz, ja ärgerlich. der verfasser, der sein produkt selber kommentiert, spricht sich sein eigenes urteil, wenn er das gedicht aus der poetischen in eine andere sprache rückübersetzt. er gibt damit nämlich zu, dass er das, was er mit den worten seines gedichtes sagte, auch anders, nämlich mit den worten seiner erläuterung hätte sagen können, also, wie das wort erläuterung zu verstehen gibt, lauterer, durchsichtiger, klarer. der satz, mit dem er seinen kommentar begänne, wäre bereits ein geständnis: «ich wollte mit meinem gedicht sagen...» – «warum haben sie es dann nicht gesagt?» die gegenfrage ist nur allzu berechtigt. mithin wäre das einzig richtige verfahren, über ein gedicht zu sprechen, die interpretation von fremder hand; mithin wäre alles andere sekundäres gerede oder indiskretion...

hans magnus enzensberger
[in: die entstehung eines gedichts]

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