Donnerstag, 19. März 2015

Jean Paul - Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei


Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört' ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«
Er antwortete: »Es ist keiner.«
Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«
Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?...
Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«
Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹... Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹... Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«
Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern... als ich erwachte...
 
Aus "Siebenkäs" von Jean Paul

Ernst Fuchs 1930-2000  
Jean Paul. Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei

1971/1972



 

Mittwoch, 18. März 2015

Theater ist manchmal vollends neben der Kappe und da genau richtig


Letzte Woche, die Dritte Vorstellung von "Mahagonny" am Volkstheater Rostock steht bevor, Susanne, die weltbeste Regieassistentin, ruft an, um mir mitzuteilen, dass drei Chortenöre erkrankt sind und die Einspringer aus Berlin zu spät eintreffen werden, um sie gründlich einzuweisen. Dann verändert sich ihre Stimmlage ins Kicherige und sie teilt mit, dass sie, um Chaos zu vermeiden, drei Blindenarmbinden bei der Requisite bestellt hat und einen Strick, an den die drei "blinden" Bewohner Mahagonnys angebunden werden sollen, um von einem der verbliebenen "geprobten" Sänger an diesem Strick durch den Abend und in ihre Arrangements geschleift zu werden.  

Hat geklappt, die ausverkaufte Vorstellung mußte nicht abgesagt werden.

Vor gefühlten zweihundert Jahren sitze ich allein in der Kantine des Kleist-Theaters in Frankfurt/Oder, im Foyer läuft "In Sachen Adam & Eva" von Rudi Strahl, das panische Gesicht des Abendienstes erscheint in der Tür, und seine weitaufgerissenen Augen saugen sich an mir fest. Die Darstellerin der Hela, Freundin der Stücktitel-Eva ist nicht erschienen, die Vorstellung läuft schon, ich bekomme ein Textbuch in die Hand gedrückt, ich kenne weder Stück noch Inszenierung, finde mich auf der Bühne wieder und werde eine Stunde lang von Kollegen erbarmungslos und doch liebevoll hin und her geschoben, derweil ich alle Sätze sage vor denen der Name Hela steht.

Leipzig, einige Jahre später. Ich, nunmehr probenfreier Regisseur, wieder in der Kantine. An diesem Abend gibt es "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" von Peter Handke. Ein stummer beredter Abend an dem sämtliche Spieler des Ensembles beteiligt sind, jeder spielt circa zehn stumme Rollen, nur leider ist eine Darstellerin plötzlich erkrankt. Kantinenauftritt Intendant/Regisseur Wolfgang Engel - ich bekomme einen Zettel mit kurzen Regieanweisungen in die Hand gedrückt, etwa 15 Auftritte in unterschiedlichsten Kostümen. Der einzige konstante Ort zur Unterbringung des Zettels ist meine Unterhose, alles andere ändert sich durch die Umzüge ständig. Leider schwitze ich vor Angst so stark, dass das Geschriebene nach 10 Minuten völlig unleserlich geworden ist. Ich reagiere von nun an widerspruchslos auf verbale Anweisungen. 
Die Frau im roten Kleid, Regieanweisung: "Du bist schön" und "du gehst langsam und verführerisch von rechts nach links" (Von der Bühne aus gesehen!) "an der Rampe entlang". Ich tue, was mir gesagt wird. Untertext: "Ich bin schön." Drei Schritte, sechs, plötzlich ahne ich im Augenwinkel eine Person, die sich von der gegenüberliegenden Seite auf mich zubewegt (Ich bin stark kurzsichtig!), sie rennt, sie ist nackt, sie ist mein Regieassistent! Was wird geschehen? Ich habe keine Ahnung! Er rennt vorbei, ich schreite weiter majestätisch die Rampe entlang. Untertext: "Ich bin schön.

Das Bühnenbild verweigert sich, die Drehbühne klemmt, alle Spieler wandern mit ihren Requisiten nach vorne und können sich von nun an auf nix verlassen, als auf einander.
Kunstvoll befestigte Haarteile entwickeln ein Eigenleben und fliegen bei heftigen Bewegungen in zutiefst tragischen Szenen, wie aufgeschreckte Vögel, über die Bühne.
Der für den Abend eingeteilte Feuerwehrmann nickt ein und fällt mitten in einer scharfen politischen Auseinandersetzung von seinem Stuhl auf die Bühne.
Der Hauptdarsteller eines seit einer Ewigkeit laufenden Stückes weiß eines Abends seinen schon dreihundertmal gesprochenen Text nicht und geht ab, nachdem er dem Publikum mitgeteilt hat, dass ihm den "Rest" der Kollege xxx mitteilen würde. Der Kollege xxx tut sein Bestes.
Onkel Wanja klagt mir, in diesem Fall, Jelena, sein Leid. Ich, erst kürzlich eingesprungen, kann mich ums Verrecken nicht an seinen Namen erinnern. Da ich im Stück nicht mit ihm verwandt bin, kann ich ihn ja schlecht als Onkel ansprechen. Ich spiele mich unauffällig in seine Nähe, frage flüsternd: " Wie heißt du?". Mein Kollege schaut mich tief verletzt an und nennt seinen echten Namen.
Hosen verlieren Knöpfe und fallen vom Körper, angeklebte Bärte entwickeln ein dynamisches Eigenleben, Gebisse verlassen ihren ihnen ursprünglich zugewiesenen Ort, Scheinwerfer gehen im falschen Moment an oder aus oder fallen laut scheppernd herunter. 
Souffleusen haben das falsche Textbuch, der Inspizient ist betrunken, ein Kollege hat gerade seine Frau verlassen.
Eine Grippewelle ereilt in kurzen Abständen die drei weiblichen Mitspielerinnen des "Diener zweier Herren" und jedesmal erwischt mich die Übernahme. Beim letzten mal weiß der Darsteller des Truffaldino nicht einmal mehr, wer genau ich an diesem Abend bin. Da hat er mich halt gefragt.

Nichts ist schöner, als wenn auf der Bühne völlige Panik herrscht. Dann kommen wir zum Eigentlichen, zum ums Leben spielen. 

Dienstag, 17. März 2015

Wir leiden uns ins Wissen.




Ich lese mich manchesmal unerwartet ins bloggen. Ein Essay über die Illias und ich falle urplötzlich in einen Satz. Den Zorn besinge, o Göttin, des Peleussohns Achilles. Die erste Zeile der Illias. Im Original ist "Zorn" sogar das erste Wort. Dass der Zorn eines Menschen Thema eines ganzen Buches sein kann, ist schon großartig, aber heute war es ein anderer Satz, der mich gewurmt hat. Nur in einem Nebensatz erwähnt und nicht einmal aus der Illias, sondern aus einem Stück von Aischylos.

Aischylos
Agamemnon 

Vers 176-183

Wir leiden uns ins Wissen.

Zeus, der den Menschen zum Denken geführt hat,
der bestimmt hat, dass Weisheit
nur durch Leiden kommt.
Dennoch, tropft im Schlaf 
Die Trauer der Erinnerung gegen das Herz; gegen
unsere Freude sind wir maßvoll.
Von den Göttern, die in Erhabenheit sitzen
kommt Gnade irgendwie grausam.

Zeus, who guided men to think,
who has laid it down that wisdom
comes alone through suffering.
Still there drips in sleep against the heart
grief of memory; against
our pleasure we are temperate
From the gods who sit in grandeur
grace comes somehow violent.
 
Übersetzt von Richmond Lattimore
 


Zeus hat die Sterblichen auf den Weg zur Weisheit gesetzt
als er dies Gesetz festlegte;
Durch Leiden lernen wir.
Doch tropft im Schlaf vor meinem Herzen
ein trauererinnernder Schmerz.
Gesunden Menschenverstand gewinnt man nur auf die harte Tour.
Und die Gnade der Götter
(Da bin ich mir ziemlich sicher)
Ist eine Gnade, die durch Gewalt kommt.


Zeus put mortals on the road to wisdom
when he laid down this law;

By suffering we learn.
Yet there drips in sleep before my heart
a griefremembering pain.
Good sense comes the hard way.
And the grace of the gods
(i'm pretty sure)
is a grace that comes by violence. 

Übersetzt von Anne Carson



Totenmaske des Agamemnon (mykenisch, 16. Jh. v. Chr.). Gold. 
Gefunden im Grab V des Gräberrunds A auf der Akropolis in Mykene (Peloponnes, Argolis). 
Athen, Archäologisches Nationalmuseum (Griechenland, Attika).

Ihn, der uns zum ernsten Nachsinnen leitet, uns in Leid
Lernen läßt zu seiner Zeit;
Drum weint auch im Traum im Herzen noch
Kummer leideingedenk, und es keimt
Wider Willen weiser Sinn.
Wohl heißt streng und schonungslos der ewgen hochgethronten Götter Gunst!


Übersetzt von J. G. Droysen (Berlin 1832)

Denn der Weisheit Führer ist 
Zeus des Urgesetzes Herr,
Dass im Unglück Lehre wohnt.
Wachsam stirbt Gewissenbissesangst

Selbst im Schlaf unser Herz; Zwang sogar
Leitet manchen zur Vernunft.
Solches leihn die Götter uns,
In Hoheit prangend auf dem stolzen Thron.


Übersetzt von J. Minckwitz

πάθει μάθος
Pathei mathos
Aischylos Agamemnon Vers 177

Wikis Liste griechischer Phrasen schlägt Folgendes vor:
Durch Leiden lernen. Der Ausspruch geht auf Aischylos' Agamemnon zurück, wo er vom Chor als Huldigung des Zeus gesungen wird. Die zugrundeliegende Textpassage wurde recht unterschiedlich ins Deutsche übersetzt, u. a. "Dass im Unglück Lehre wohnt" (Johannes Minckwitz), oder auch "uns in Leid Lernen läßt zu seiner Zeit" (Johann Gustav Droysen), wiewohl die Grundaussage stets als die gleiche aufzufassen ist: „Er (sc. Zeus) setzte dies: dass aus Leid wir lernen.“ (Max Treu, mündlich)

We suffer into knowledge, habe ich dann als englische Übersetzung gefunden. Das gefällt mir:
Wir leiden uns ins Wissen. Oder in die Erkenntnis.
 
http://www.suhrkamp.de/buecher/zorn_und_zeit-peter_sloterdijk_45990.html

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zorn-und-zeit-von-peter-sloterdijk-wenn-ganze-kulturen-sich-beleidigt-fuehlen-1380330.html


Sonntag, 15. März 2015

Grün & Rot - Félix Vallotton


FÉLIX VALLOTTON

 La Blanche et la Noire 
 Die Weiße und die Schwarze
1913

EMPFINDUNG

In blauer Sommernacht werd` ich durch Felder geh`n,
Hälmchen zertreten auf den kühlen Pfaden
Und träumerisch ein Prickeln spüren an den Zeh`n.
Ich werde meinen bloßen Kopf im Winde baden.

Ich werd` nicht sprechen, werde an nichts denken:
Doch wird die Liebe meine Seele ganz durchtränken;
Und ich werd` geh`n, wie ein Zigeuner, durchs das Blau,
Durch die Natur, - so glücklich wie mit einer Frau.

März 1870 - Arthur Rimbaud


Femme nue assiste dans un fauteuil rouge 
Frau auf einem roten Sofa seiend 
1897

SENSATION

Par les soirs bleus d`été, j`irai dans les sentiers,
Picoté par les blés, fouler l`herbe menue:
Rêveur, j`en sentirai la fraîcheur à mes pieds.
Je laisserai le vent baigner ma tête nue.


Je ne parlerai pas, je ne penserai rien:
Mais l`amour infini me montera dans l`âme,
Et j`irai loin, bien loin, comme un bohémien,
Par la Nature, - heureux comme avec une femme.


Ach neiche, Du Schmerzensreiche...



Peter Cornelius: Illustrationen zu Goethes Faust
Faust und Gretchen im Kerker.

Ach neige,
Du Schmerzenreiche,

Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Das Schwert im Herzen,
Mit tausend Schmerzen
Blickst auf zu deines Sohnes Tod.

Zum Vater blickst du,
Und Seufzer schickst du
Hinauf um sein' und deine Not.

Wer fühlet,
Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein?
Was mein armes Herz hier banget,
Was es zittert, was verlanget,
Weißt nur du, nur du allein!

Wohin ich immer gehe
Wie weh, wie weh, wie wehe
Wird mir im Busen hier!
Ich bin, ach! kaum alleine,
Ich wein, ich wein, ich weine,
Das Herz zerbricht in mir.

Die Scherben vor meinem Fenster
Betaut ich mit Tränen, ach!
Als ich am frühen Morgen
Dir diese Blumen brach.

Schien hell in meine Kammer
Die Sonne früh herauf,
Saß ich in allem Jammer
In meinem Bett schon auf.

Hilf! rette mich von Schmach und Tod!
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!

 J.W. v. Goethe

        Nun muß ich mich ja mit Johann Wolfgang von Goethe beschäftigen, den ich bisher zu Gunsten 
        von Schiller, Lenz, selbst Lessing umschifft habe, wenn ich in die Klassik geriet. Mal sehen, ob 
        er mir doch noch ans Herz wächst.
        Den "Urfaust" allerdings liebe ich sehr. Ich habe mich aber immer gewundert, wenn sich neige 
        auf Schmerzensreiche reimen sollte. Heut ist's mir klar geworden. Der Mann kam aus 
        Frankfurt/Main. Da reimt sich neiche auf -reiche! Großartig, wenn man sich Fausts Monologe in 
        der Sprachfärbung vorstellt.



Der März im Chronograph von 354 des Kalligraphen Filocalus

MÄRZ

Im März fängt bunt de Frühling aa.
Die Blümmcher blühe hie un da,
umschwärmt von Biencher mit Gesumm.
Aa Glück: De Winter is erum!
De aale Urlaub werd genomme.
Der is aan jetzt so recht willkomme.

Zum Winterschlaf in dere Zeit
kimmt oft noch Frühjahrsmüdigkeit.
Doch wenn in alle Äst un Zweische
so nach un nach die Säfte steische,
erwache Triebe, lacht des Herz.
En scheene Monat is der März!

Quelle: Frankfurter Mundartgedicht


Donnerstag, 12. März 2015

Vivian Maier & Birdman & Frau von Stein



And did you get what
you wanted from this life, even so?
I did.
And what did you want?
To call myself beloved, to feel myself
beloved on the earth.

Raymond Carver A New Path to the Waterfall
 
Und hast du bekommen, was
du vom Leben wolltest, trotz allem?
Hab ich.
Und was wolltest du?
Mich geliebt fühlen, mich geliebt fühlen in der Welt.
 
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In diesen Tagen beschäftige ich mich der Liebe zwischen Frau von Stein und Herrn von Goethe, mit Peter Hacks und der deutschen Klassik unter rabiat-marxistischen Aspekten, und zwischendurch im Willy-Brandt-Haus mit Vivian Maiers Bildern von Menschen auf den Strassen Chicagos und New Yorks in den Sechzigern, und dann abends im Kreuzberger Babylon mit "Birdman".
Das Hirn wankt und schwankt, aber Carvers Zitat setzt eine Klammer, die etwas beruhigt.


Undatiert © Vivian Maier/Maloof, in der Ausstellung abphotographiert
Was hat sie gesehen, was ertragen müssen? 
Woher hat sie die riesige Herrenarmbanduhr? 
Sie ist, in meinen Augen, fast unerträglich schön.

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Birdman. Ein alternder Hollywoodstar spielt einen alternden Hollywoodstar, der sich im Theater als Regisseur/Autor/Hauptdarsteller neu erfinden will. Versimpelt: Riggan Thomson,
vor zwanzig Jahren gefeierter Filmstar, gealtert und gefangen im Image des Superhelddarstellers, adaptiert eine Kurzgeschichte Carvers, What We Talk About When We Talk About Love - Worüber wir sprechen, wenn wir von Liebe sprechen, für die Bühne und hofft auf Erlösung durch das Theater. Drei Voraufführungen und eine Premiere, vier Tage und Nächte.

Später wird ein Mann Macbeths großen Monolog nächtens durch die Strassen schreien.

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Idioten, voll von Klang und Wut,
Das nichts bedeutet.

"Der nackte Wahnsinn" unter heutigen New Yorker Bedingungen. 
Regisseur/Drehbuchautor/Produzent Alejandro González Iñárritu und sein Kameramann Emmanuel Lubezki gaukeln uns auf eleganteste Art und Weise eine Geschichte in nur einer fortlaufenden Einstellung vor. Die Welt dieses Films ist ein architektonisch verwirrendes Labyrinth von Backstage-Gängen, dem Broadway menschengefüllt und menschenleer, von oben, mittendrin und seitwärts. Die Bühne auf der das Carverstück gespielt wird, sehen wir aus der Sicht der Spieler, aus der Seitengasse, von hinten im Bühnenbild. Versatzstücke von typischen Superhelden-Effekten und/oder Mitteln des magischen Realismus schnipseln hier und da, dann zunehmend öfter, in die Handlung hinein. Anstatt des Klavieres der Stummfilme, untermalt, schiebt, verzieht, treibt Schlagzeugsound die Szenen (Antonio Sanchez!), ja manchmal schwenkt die Kamera sogar beiläufig über den trommelnden Mann hinweg.
Das ist durch die Bank toll gespielt, exzessiv und mit krassen Überraschungskippern von der Satire in die Tragödie und retour. Und es ist spannend. 
Es bleibt ein kleiner ungenauer Rest von selbstreferentieller Eitelkeit, aber das kann auch an meiner ningeligen Natur liegen.

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Brief 42 von Goethe an Charlotte von Stein
Warum soll ich dich plagen! Liebstes Geschöpf! – Warum mich betrügen und dich plagen und so fort. – Wir können einander nichts seyn und sind einander zu viel – Glaub mir wenn ich so klar wie Faden mit dir redte, du bist mit mir in allem einig. – Aber eben weil ich die Sachen nur seh wie sie sind, das macht mich rasend. Gute Nacht Engel und guten Morgen. Ich will dich nicht wiedersehn – Nur – du weisst alles – Ich hab mein Herz – Es ist alles dumm was ich sagen könnte. – Ich seh dich eben künftig wie man Sterne sieht! – denck das durch.
Wahrscheinlich geschrieben am 15. April 1776
 
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Hochinteressanter Zeitartikel über Peter Hacks:

Mittwoch, 11. März 2015

Dagmar Manzel und Max Hopp an der Komischen Oper



Ein schnoddriges Berlinertum, Bachstelze, Erotik hinter tausend Vorhängen, Seidenkissen mit einem hitzigen Parfum, einen Eiskübel über den Kopf, ein helles Frauenlachen: Massary.
Kurt Tucholsky Die Schaubühne, 20.11.1913, Nr. 47

Besser kann man es fast nicht sagen, und es trifft auf die Manzel genau so zu! 

Ein großer Abend. 
Eine Wand mit einer Tür vor einem Vorhang, ein feines Orchester, Licht und zwei Schauspieler, die besser singen können, als anständig wäre und erlaubt ist. 
Zwei, nur zwei Darsteller, aber die in circa zwanzig Rollen. Ein Vaudeville-Nummernprogramm mit wildem Tempo, Einfällen, die anderswo für fünf Inszenierungen reichen müßten und, Wunder über Wunder, man wird in den Glauben versetzt, dies sei alles ganz unanstrengend, aus der Hüfte geschossen, mal eben so hingeworfen. Man weiß, dass das nicht stimmt, aber die Illusion der Schwerelosigkeit ist herrlich.
Dagmar Manzel und Max Hopp, ganz und gar unterschiedlich und sich auf schönste Art ergänzend. Beide sind in spielerischer Personalunion Clowns und Kabarettisten und Sänger und Komiker und sehr heutige Menschen.
Der Regisseur des Abends ist übrigens Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper. 
Die Produktion wird wegen massiver Nachfrage in die nächste Spielzeit übernommen. Also früh Karten bestellen, fein anziehen, hingehen, geniessen und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht die restliche Nacht verbringen.


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Wiki schreibt:
Eine Frau, die weiß, was sie will (auch: Manon) ist eine musikalische Komödie in zwei Akten (fünf Bildern) nach Louis Verneuil. Das Buch stammt von Alfred Grünwald, die Musik schrieb Oscar Straus. Die Operette wurde am 1. September 1932 im Metropol-Theater (Damals im Gebäude der heutigen Komischen Oper befindlich!) in Berlin uraufgeführt. In der Uraufführung spielte Fritzi Massary die Titelrolle.

Louis Verneuil ist 1940 in die USA emigriert, 1952 kehrte er nach Frankreich zurück und beging noch im selben Jahr Selbstmord. 

Alfred Grünwald wurde 1938 von der Gestapo verhaftet, 1940 gelang ihm die Flucht über Casablanca und Lissabon in die USA, wo er 1953 starb.

Oscar Straus mußte nach dem "Anschluß" Österreichs 1939 emigrieren, zuerst nach Paris, dann in die USA. Er kehrte 1950 zurück und starb 1954 in Bad Ischl.


Fritzi Massary floh 1932 aus Deutschland, spielte noch einige wenige Male in Wien und London, und verbrachte den Rest ihres Lebens in Los Angeles, ohne je wieder aufzutreten. Sie starb 1969.


Kurt Tucholsky zog 1929 schon nach Göteborg in Schweden, wo er 1935 mit Schlaftabletten aus dem Leben schied.

„Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erobern – ich bin damit fertig.“
– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1984, S. 121


Fünf ausgewählte Kollateralschäden des tausendjährigen Irrsinns, und meiner festen Überzeugung nach Teil der Ursache unserer heutigen "Unterhaltungkunst"-Misere. Wir haben damals unseren Witz, unsere Ironie und unsere Fähigkeit über uns selbst zu lachen aus dem Land oder in den Selbstmord getrieben, in Konzentrationslagern umgebracht oder auf andere Art aus unserer Seele geschnitten. Und finden uns nun eingepfercht zwischen Comedy und Klamotte, dem Kichern nachhastend und meist nur einen Lacher fangend, ohne Leichtigkeit, nur mit Pointen.

 
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Fritzi Massary singt "Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben"
https://www.youtube.com/watch?v=XAIWBgfeq2o

Tucholsky über die Massary
http://www.textlog.de/tucholsky-massary.html

Zeitartikel über den Tod von Louis Verneuil
http://www.zeit.de/1952/48/er-war-lustspieldichter

Zeitinterview mit Barrie Kosky
http://www.zeit.de/2014/40/komische-oper-berlin-barrie-kosky

Samstag, 7. März 2015

Mein Stift ist stiften gegangen, wer stiftet mir einen neuen?


DER STIFT ist stärker als das Schwert. 
niederländische Sprichwort

Bei uns sagt man, es ist die Feder. So sagt das Sprichwort, aber sagt es auch die Realität?
 
Vor kurzem habe ich mit meiner Lieblingsnichte Englischvokabeln geübt, ein anstrengend und letztendlich tristes Unterfangen. Das arme Kind mußte so relevante Wörter wie: Doppelhaushälfte (semi-detached house) auswendig lernen. Und bei der Vorstellung, wie eine lustige Zehnjährige gerade dieses Wort in ein Gespräch mit irgendeiner englisch sprechenden Person einflechten würde, verdrehten sich meine Augäpfel mehrmals gen Himmel. Überhaupt schien die ganze, enorme Menge von zu lernenden Wörtern, es waren mindestens fünfzig, seltsam wilkürlich, trocken und unsinnlich ausgewählt. Kein Spaß mit der völlig irrationalen und gerade deswegen vergnüglichen Rechtschreibung der Briten. Keine Lust an Wörtern, die Eines sagen, aber auch ein Anderes. Alles, was Sprache genüsslich macht, Doppel- und Mehrdeutigkeit, Überschneidungen, Widersprüchlichkeit, blieb ausgespart. 
Sprache ist doch wie Pudding, es gibt nie genug davon und doch, um ins Schlaraffenland, zu kommen, muß man sich durch den süßen Brei durchfressen, bis man irgendwo, in der Sprache ankommt. Sprache ist lustvoll und nie völlig greifbar. Mysterium und logische Konstruktion in einem. Eine Stripteasetänzerin, die nie ganz nackt isein wird.

Stift. 
Ein Wort, fünf Buchstaben. Nur eine Vokabel, wenn ich Deutsch als Fremdsprache lernen würde. Und wenn ich sie gelernt hätte, was wüßte ich dann?

 
DER STIFT, DER SCHREIBT
Buntstift, Rotstift, Bleistift; länglich, ehemals immer aus Holz, nur angespitzt nützlich
&
DER STIFT, DER WÄCHST UND LERNT
Lehrling, Bube, kleiner Kerl, manche Jungs sehen aus wie zu lange Stifte mit Armen dran.

&
DER STIFT, DER BEFESTIGT
Er ist oft spitz, ein Nagel ohne Kopf.
&
DER STIFT, DER VERBINDET
Er ist flach und braucht eine Nut, in die er hineinpasst.

&
DAS STIFT, DAS GESTIFTET WURDE
Es braucht Geld und existiert zu Ehren des stiftenden Geldgebers, oder des einzigen und
alleinigen Gottes, das ist Ansichtssache.
&
DER STIFTER, DER EINE STIFTUNG STIFTET
Er gibt Geld und stiftet es für eine Stiftung zu eigener Ehre oder siehe oben.
&
DER ANSTIFTER
Er stiftet Unruhe, Ärger oder gar einen Austand.
&
DER, DER STIFTEN GEHT
Er macht sich aus dem Staub, verduftet, verschwindet, sucht das Weite, nimmt die Füsse unter den Arm, büxt aus, entrinnt.


Kunigunde.
Der Schlüssel, liebes Herzens-Töchterchen,
Hängt, jetzt erinnr' ich michs, am Stift des Spiegels,
Der überm Putztisch glänzend eingefugt!

Käthchen.
Am Spiegelstift?

Das Käthchen von Heilbronn H. von Kleist
 
Es scheint mir, daß ein Mensch bei dem allerbesten Willen unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist.
F. Nietzsche

Der Frauenleib ist der Anstiftung dringend verdächtig.
K. Tucholsky
 
Wo sie eine Verwüstung stiften, nennen sie es Frieden.
Ubi solitudinem faciunt, pacem appellant
Tacitus über die Eroberungen der Römer

Gedanken, weisheitsvoll, wenn ich sie jemals hab.
Sie brechen immer mir beim Bleistiftspitzen ab.

Carl Spitzweg 


Die Stiftshütte wird verschiedentlich auch das Zelt der Zusammenkunft oder das Zelt des Zeugnisses genannt. Dies war der von Gott anerkannte Ort, wo er unter seinem Volk wohnte und ihm begegnen wollte, und wo in Absonderung von der Außenwelt sein Wille bekannt gegeben wurde. In ihrem Innern befand sich die Bundeslade.
Wiki 

 Stiftskirche in Innichen im Hochpustertal
 
---------------------------------------------------------------------------------------------- Stift, der
indogermanische wurzel stip- 'steif sein'
lat. stipes 'pflock, pfahl' - künstlich hergestellter länglicher, meist cylindrischer körper aus metall oder holz, oft mit einer spitze
Grimms Wörterbuch
Bei einem »Stiftermahl« für eine gemeinnützige Einrichtung kam die Frage auf, wie die Wendung stiften gehen im Sinne von ›abhauen, sich verdrücken‹ entstanden sein mag. In den Lexika, die mir vorliegen, auch bei Lutz Röhrich, findet sich der Ausdruck wohl erwähnt, aber ohne Erklärung. Könnte nicht das Wort Stift in der Bedeutung ›etwas Geringes, Kleinigkeit‹ – man vergleiche Stift als ›Lehrling‹ – der Ausgangspunkt sein? Wer sich schnell aus dem Staub macht, »sich dünne macht«, wirkt nur noch wie ein Strich in der Landschaft?
[!] Der Ausdruck stiften gehen, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts geläufig ist und in vielen Wörterbü­chern, auch Dialektwörterbüchern, ver­zeich­net wird, ist trotz verschiedener Deu­tungsversuche noch nicht plausibel und sicher erklärt.
In der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs ist der Ausdruck stiften ge­hen reichlich belegt. Gustav Hochstet­ter ­(Der feldgraue Büchmann. Geflügelte Kraftworte aus der Soldatensprache, 1916) und Otto Maußer (Deutsche Solda­tensprache, 1917) haben stiften und stiften gehen im Sinne von ›weggehen, sich entfernen, bei Gefecht sich wegmachen‹ bzw. (in der Fliegersprache) ›schnell verschwin­den, Deckung suchen‹ doku­mentiert. Dies wird wiedergegeben im Deut­schen Wörterbuch der Brüder Grimm, Bd. 10.II.II (1942, Sp. 2890), wo auch vermerkt wird, dass stiften gehen in die Umgangssprache über­nommen wurde. Die Wendung hat sich ja gehalten, und in der späteren Soldatensprache, auch der in der DDR war stiften gehen zu beobachten.
Entstanden ist der Ausdruck ver­mutlich schon zuvor. Heinz Küpper gibt in seinem Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache (Bd. 7, 1984) bei stiftengehen ›sich heimlich entfernen‹ an: »1900 ff.«, und er verweist nicht nur auf die Soldatensprache, sondern auch auf die Verbrecher- und die Polizeisprache. Zur Deutung schreibt er: »Gehört zu mhd ›stieben = Staub aufwirbeln; schnell laufen‹.« Anscheinend unter Bezug auf Küpper erwägt dies auch das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von F. Kluge/E. Seebold (zuletzt 2002). Doch bleibt dies spekulativ. Auch Johann Knoblochs Hypothese, hier liege eine Wendung aus der Imkersprache vor – siehe das Stiften der Bienen –, ist unbewiesen. Knobloch weist darauf hin, dass die Königin nach dem Bestiften des Eis (die Bieneneier werden also als Stifte angesehen) ihre besondere Zelle verlässt und wegfliegt; ein Einfluss der Imkerfachsprache auf die Umgangssprache sei denkbar (siehe Muttersprache, 1978, S. 261 f.). Zustimmend aufgegriffen wurde diese Erklärung unseres Wissens nicht.
Für Ihren Deutungsversuch spricht zunächst, dass in der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs, für die stiften gehen ja reichlich belegt ist, seinerzeit auch Stift in der Bedeutung ›Rekrut‹ geläufig war; dies übrigens schon früher, wie bei Paul Horn belegt (Die deutsche Soldatensprache, 1905). Doch eine rechte Sinnbeziehung will sich für mich nicht herstellen, da der Gang der Erklärung sehr verwickelt und der Ausdruck offenbar älter ist sowie auf andere Weise zu erklären sein müsste. Einige Dialektwörterbücher haben schon diese Beziehung zu Stift formal hergestellt, doch auch kein nachvollziehbares Motiv benannt.
Schon die Autoren jenes Bandes des Deutschen Wörterbuchs vermuten, die Wurzel liege in der Gaunersprache. In anderer Weise wird auf dieses Idiom Bezug genommen in Trübners Deutschem Wörterbuch, Band 6, 1955. Hier wird stiften gehen im Sinne von ›weglaufen‹ erklärt unter Hinweis auf das hebräische Wort schataf mit der Bedeutung ›überströmen‹; der Ausdruck sei »durch Gaunerkreise vor allem der Soldatensprache vermittelt worden«. Eine Bestätigung allerdings war nicht zu ermitteln.
Einen weiteren Hinweis mit Blick auf die Gaunersprache bietet Sigmund A. Wolfs Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache (1956): Stift ist mehrfach belegt, für ›Knabe‹ und Lehrling, Kellnerlehrling‹ (Stiftche meint ›Knäbchen‹, Stiftbohrer ›Päderast‹). Stift heißt weiterhin aber auch ›Kautabak‹ und stiften ›Tabak kauen‹ (dies wird übrigens von den Dialektwörterbü­chern zum Berlinischen und zum Preußischen unterstützt). So wäre eine weitere Spe­kulation möglich: Könnte die frag­liche Wendung nicht mit Blick auf denjenigen entstanden sein, der sich aus dem Staube macht und Deckung sucht, weil er sich aus dem Gefecht zurückziehen und in Ruhe priemen will?
Eine schlüssige Erklärung für stiften gehen steht wohl noch aus, aber mir scheint, die Herleitung aus stieben hat viel für sich. Im Mittelhochdeutschen meinte stieben nicht nur ›wie Staub umherfliegen‹ und ›Staub von sich geben, stäuben‹, sondern auch ›schnell laufen, rennen, fliegen‹. Auch das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Bd. 11, 2006) belegt stieben, übertragen und auf den Menschen bezogen, im Sinne von ›sich schnell entfernen, entfliegen‹.
Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS.de) 

stiften - afries. stifta 'stiften, gründen, erbauen, in ordnung bringen; neben diesem j-verb steht vielleicht ein ō-verb im altostndfränk. gestiftoda s. u. I. entlehnt sind norw., schwed. stifta, dän. stifte 'stiften, anstiften, errichten'. die herkunft des wortes ist unklar.

von stiften der sinngehalt 'durch einen willensentschlusz und zweckentsprechendes handeln den beginn eines werkes oder einer handlung herbeiführen', doch kann damit keine grundbedeutung festgelegt werden; bereits in den ältesten zeugnissen auf die einmalige handlung des einrichtens bezogen, nicht auf die handwerkliche tätigkeit wie bei gründen und bauen; daher ist eine konkrete grundbedeutung unwahrscheinlich 
Grimms Wörterbuch

 http://www.zeno.org/Adelung-1793/A/Stift,+das

Mittwoch, 4. März 2015

Kindheit - Reim dich oder ich schlag dich


Der S-Bahnhof Friedrichstrasse

Warum ich Gedichte liebe. 
Warum? 
Weil ich einst Kinderreime gelernt habe.
Geleiert, gemurmelt,
gebrüllt und gebetet.
Bei der Gummihopse,
beim Abnehmen (das ist Gummihopse mit den Händen)
beim Hüpfen,
Rennen,
Verstecken,
bei Himmel & Hölle
&  beim Abklatschen.
Kindergarten, Vorschule, Schule. Schulschluß. 
Danach nix wie raus.
Auf die Strasse.
Mitten in Berlin Mitte. 
(Der östlichen Mitte zumindestens.)
Kein Spielplatz weit und breit.
Aber Hinterhöfe und leere Plätze und der Monbi (Monbijou-Park).
Ich habe eigentlich in der Spree schwimmen gelernt.
Ich kann heute noch ziemlich schnell schwimmen.
Wir mußten schneller sein als die Boote der "Grenzer".
Die mutigen Jungs sind sogar vom Bodemuseum aus in das Dreckwasser gesprungen.
Wahrscheinlich bin ich deshalb frei von jedweder Allergie.
Mein Vergiftungsniveau ist einfach zu hoch.

Einerseits der Terror der sozialistischen Schule.
Stillsitzen.
Melden nur mittels Heben des rechten Unterarms in gerader Linie zum angewinkelten linken Arm.
Eine unmögliche Forderung, wenn alles in mir nach Bewegung verlangte.
Aber mein gutes Kurzzeitgedächtnis verkürzte die Hausaufgabenzeit.
Raus.
Raus.
Buddelkasten im Hinterhof.
Schweineschaukel an der Teppichstange.
(Erinnert sich noch jemand an diese geflochtenen Teppichschlaggeräte?)
Meine Freunde waren aus einer kinderreichen Familie.
Am Samstag wurde durchgebadet.
Erst der Vater.
Dann, ein wenig heißes Wasser dazu, die Mutter.
Undsoweiter.
Alle acht Kinder.
Beim letzten war das Wasser schwarz.
Frau Göhrler wohnte im fünften Stock und hatte weder Wasser noch Klo.
Beides war in einem Häuschen dort im Hof.
Ihre Manieren entstammten einer vergangenen Zeit.
Ebenso ihre Kleidung.
Aber zum Pinkeln mußte sie fünf Stockwerke über die hintere Treppe.
Die hintere Treppe.
Ein Mysterium.
Warum gab es sie?
Wir hatten eine Haushälterin, Gerda, meine Zweitmutter.
Meine andere Mutter war oft im Krankenhaus.
Minna nahm immer die hintere Treppe.
Geboren in einem Dorf im Anhaltinischen.
Schule nur bis sie dreizehn war.
Der Verlobte  gefallen im großen Krieg.
Ihre Katze hieß Muschi.
Sie hat viele Bücher gelesen.
Und ist gestorben, bevor sie ihren Traum von einer Rhein-Schiffsreise realisieren konnte.
Gerda Niemeyer.
Genannt Minna, weil ich, als Kleinkind, ihren Namen nicht aussprechen konnte.
Meine liebste unverwandte Verwandte.
Berlin, meine Stadt, war immer bevölkert von Zugereisten.
Schusti aus Schlesien, Gerda aus Sachsen-Anhalt, meine Mutter aus Amerika und mein Vater aus dem zerbombten Magdeburg. 
Berlin.
Meine Stadt, vollgestopft mt halberinnerten Geschehnissen.
Die aus der Vorkriegszeit übrig gebliebene Hure auf der Auguststrasse, die Freier nur noch für ein geselliges Frühstück mit nach Hause nahm.
Wände voller Einschüsse.
Räume, die nur durch ihre übriggebliebenen Wände an ihre Existenz erinnerten.
Diese Stadt ist weg.
Renoviert.
Saniert.
Es ist gut so.
Aber trotzdem bin ich voll von Erinnerungen.
 Ich bin alt.
Und doch jung, weil ich froh bin über die Veränderungen, selbst die blöden.


Ene mene mopel,
wer frisst Popel,
süß und saftig,
eine Mark und achtzig,
eine Mark und zehn
und du darfst gehn. 

Auf einem Baum ein Kuckuck
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Auf einem Baum ein Kuckuck saß.
Da kam ein junger Jägers-
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Da kam ein junger Jägersmann.
Der schoß den armen Kuckuck,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Der schoß den armen Kuckuck tot.
Und als ein Jahr vergangen,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Und als ein Jahr vergangen war.
Da war der Kuckuck wieder,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Da war der Kuckuck wieder da.
Da freuten sich die Leute,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Da freuten sich die Leute sehr. 
Backe, backe, Kuchen,
der Bäcker hat gerufen!
Wer will guten Kuchen backen,
der muss haben sieben Sachen:
Eier und Schmalz, Butter und Salz,
Milch und Mehl, Safran macht den Kuchen gehl!
Schieb, schieb in’n Ofen ‘nein.
Das ist der Daumen,
der schüttelt die Pflaumen,
der hebt sie auf,
der trägt sie nach Haus,
der kleine Schelm isst sie alle auf.
Hoppe, hoppe, Reiter,
wenn er fällt dann schreit er.
Fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben.
Fällt er in die Hecken,
fressen ihn die Schnecken.
Fällt er in den Sumpf, macht der Reiter: plumps!