...Wenn die klassischen Formen der sozialpolitischen Auseinandersetzung nicht mehr funktionieren, dann entstehen eben andere, die radikaler und unvorhersehbarer sind. Aber das ist das Werk unseres neoliberalen Regimes. (Louis)
Zu bestimmten, den genau richtigen Zeitpunkten stolpere ich in Bücher. Bücher, die ich dringend benötige, auch wenn das ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wußte.
Sie werfen sich mir in den Weg und verlangen, gelesen zu werden.
Und jede neue Produktion beginnt damit, dass ich Bücher sammle, manche zum Thema, manche drumherum, einige völlig abwegig. Verschieden viele, je nach Stück. Bei "Sie können Gott zu mir sagen" wurde es ein laufender Meter. Jetzt ist es "Hase Hase" und in diesem Herbst werde ich "Die Tage der Commune" inszenieren, eins von Brechts zärtlichsten Stücken, in dem die Familie Cabot, mehr oder weniger zufällig, Teil eines Aufstandes wird, einer Revolte gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sie blüht auf und wird dann binnen Kurzem vollständig vernichtet. Es wird sicher einiges an Lektüre zusammenkommen.
... ebenfalls sehr wichtig und bewegend ist die Tatsache, dass die Herrschenden sich fürchten. Sie haben Angst, und das ist wundervoll. Die Gewalt und die Zerstörungen machen der herrschenden Klasse Angst, sie teilen endlich die Erfahrung, die das Leben von so vielen Menschen permanent beherrscht.
https://www.republik.ch/2019/01/12/die-herrschenden-haben-angst-und-das-ist-wundervoll
Also: Charles Townshend schreibt über Terrorismus, Florian Grams betrachtet die Pariser Commune aus neo-marxistischer Sicht, C.G. Jungs Archetypen sind immer wichtig. Proudhon, Marx, Zeitdokumente, die Brüder Goncourt, Rimbaud, ...
Aber auch Didier Eribon und Édouard Louis, die über ihre Kindheit in Arbeiterfamilien, ihren harterkämpften Ausbruch aus den ihnen unausweichlich erscheinenden engen Lebenswegen, ihre persönlichen Siege und schlußendlich über den Preis, den sie dafür gezahlt haben, schreiben. Zwei erwachsene Männer, Schriftsteller, Lehrer treffen auf ihre Väter, nun alt, Arbeiter, ohne Schulabschluß, zornig ob ihrer unerfüllten Träume, zerstört durch harte Arbeit und hartes Leben. Welche Möglichkeiten sind da unwiderruflich verloren gegangen. Jetzt schreibt Eribon über seine Mutter.
Édouard Louis und Didier Eribon |
Als ich die ersten Bilder der Gelbwesten sah, empfand ich einen Schock, der schwer zu beschreiben ist. Auf den Fotos zu den vielen Artikeln sah man Körper, die im medialen und öffentlichen Raum fast immer unsichtbar bleiben. Leidende Körper. Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind, die gezeichnet sind von räumlicher und sozialer Ausgrenzung. Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände.
Der Mauerfall und meiner völligen Vorahnungslosigkeit bezüglich der Wiedervereinigung zweier einander mir gänzlich fremd scheinder Länder, hat bei mir 1990 zu einem erschrocken beschämten Rückzug aus der Politik geführt. Meine augenblickliche Lektüre repolitisiert mich. Macht mich wacher. Wach sein ist gut, aber was sehe ich, aufgeweckt? Esoterisches Geschwafel, Bösartigkeit verschiedenster Art, Empathiemangel, Hilflosigkeit, Hass, Wut, Identitätsgerangel.
Auf der einen Seite irritiert mich das ungenaue, verallgemeinernde Gerede über weiße Privilegien, auf der anderen, begreife ich, dass ich ein Besitzer eben dieser Privilegien bin.
What the fuck? Worüber reden wir überhaupt? Wer bin ich? Wofür bin ich? Für wen? Und warum?
Und dann begann ich über die anstehende Europawahl nachzudenken und fiel in mich zusammen, wie eine durchlöcherte Luftmatratze. Ich habe den Wahlomat zur Europawahl getestet, und er empfiehlt mir Volt zu wählen. What the Fuck? Von der Partei habe ich noch nie ein Wort gehört. Nachgeguckt, steht ganz unten auf der Liste. Klingt nett. Die Werbung ist liebenswürdig, handgemacht und aufmunternd nichtssagend. Vier Tierschutzparteien gibt es und eine für Gesundheit, eine für Liebe und eine für Frauen. Und welche ganz rechts, ganz links, ganz irgendwas. Manche sind so klein, dass man seinen Wahlzettel genausogut als Grußkarte verschicken könnte, die Großen sind so verfettet und ausgehöhlt, dass sie eigentlich nur noch PD oder U heißen sollten und keiner eine Karte von denen kriegen mag. Was wählen? Regen oder Traufe? Verfaulte Äpfel oder unreife Papayas? Chancenlos oder die Chance nicht verdienend?
Was wählen? Die verflixte Demokratie verlangt mir Teilnahme ab. Ich muß mich informieren, muß nachdenken, muß mich entscheiden.
Die beste Ausrede ist immer, hat ja alles keinen Sinn, macht ja eh keinen Unterschied. Aber für diese Ausrede habe ich zu lang in einem Land gelebt, in dem eine Partei immer fast neunundneunzig (in Zahlen 99) Prozent aller Stimmen "gewann".
Ich leide keinen Mangel, aber viele andere tun es. Mangel an Geld, an Hoffnung, Zuversicht. Und einige auch Mangel an Hirn, Anstand und Mitgefühl. Aber das sind halt auch meine Mitbürger, berechtigt zu wählen, selbst wenn ich denke, sie sind zu ignorant und faul, um zwischen Nektar und Deck zu unterscheiden.
Was wählen?
https://www.voltdeutschland.org/partei
"Ich leide", kann man auf ganz verschiedene Weisen sagen. Eine soziale Bewegung ist der Moment einer Möglichkeit, dass Leidende etwas anderes sagen als: "Ich leide unter der Einwanderung und weil meine Nachbarin Sozialhilfe erhält." Dass sie sagen: "Ich leide unter denjenigen, die regieren. Ich leide am Klassensystem. Ich leide unter Emmanuel Macron und Édouard Philippe." Im Moment der sozialen Bewegung wanken alte Sprachmuster, kann die Sprache selbst subvertiert werden. Genau das sieht man seit einigen Tagen. Das Vokabular der Gelbwesten ändert sich. Anfangs hörte man nur von Benzinpreisen, manchmal auch von "Transferempfängern". Jetzt ändert sich der Ton. Es geht um Ungleichheit, höhere Löhne, Gerechtigkeit. (Louis)
https://www.zeit.de/kultur/2018-12/gelbwesten-frankreich-gesellschaft-sozialitaet-klassen-gewalt-edouard-louis