Ich poste gern und wohl auch zu viel auf Facebook. Facebook ist mein Tante-Emma-Laden, mein Dorf-Brunnen. Mal haue ich daneben, mal provoziere ich mit Absicht, mal ist es gänzlich belangloses Zeugs, mal lustiges und ganz gelegentlich ist es interessant. Und andere Facebooker antworten und für sie gilt dasselbe.
Aber in letzter Zeit taucht sich so ein komischer Ton auf, so ein theatralisch fassungsloses Entsetzen, dass ich, was auch immer ich geschrieben wurde, überhaupt denken kann. Gegenwind ist super, Beschimpfungen sind ignorierbar. Aber diese tiefe moralische Empörung ist mir unheimlich.
Selbst in meiner kleinen, überwiegend liberalen Blase gehen Meinungen oft sehr auseinander, und eine der Nützlichkeiten von Facebook ist, dass ich es mir in meinen Überzeugungen nicht zu gemütlich machen kann, weil einige "Andersdenkende" verflixt schlau sind und Dinge wissen, die ich nicht weiß.
Die Schwierigkeiten der rein schriftlichen Kommunikation sind dabei erheblich. Ein Grinsen kann ich nicht notieren und Emojis mag ich nur bedingt. Ironie ist auch so eine riskante Sache, wenn nur Worte ohne Gesicht, Augen, Körper sprechen. All das sind "systemimanente" Schwierigkeiten.
Aber neuerdings macht sich so ein Ton breit, der mich unangenehm an die DDR erinnert. Schäfer zum dummem Schäfchen, Fleischer zum Kalb. Oder so eine wissende, amüsierte Überlegenheit, die sich unangreifbar wähnt, weil sie sich erst gar nicht zur Disposition stellt.
Letztendlich sind wir alle zuiefst verwirrt, überfordert und besorgt. Also woher nehmen manche Leute diese unerschütterliche Gewißheit ihres unerschütterlichen Im-Recht-Seins?
Ein Freund macht sich gern lustig über meine Neigung zum Zweifeln und nennt es meinen Shtick, meine Trickserei. Aber das ist es nicht, ich bin wirklich oft unsicher. Die Menge der Informationen, der Schauplätze, der Details ist enorm. Und voreilige Urteile sind schnell gefällt. Passiert mir.
Ein Beispiel: Ich möchte hiermit alle meine türkischen Mitbürger, die in dieser Wahl
für Erdogan gestimmt haben, aus welchen Gründen auch immer, darum
bitten, künftig in eben der Türkei zu leben, die dieser Mann regiert.
Das war mein aus dem Zorn geborener Beitrag.
Offensichtlich ist die satirische Zuspitzung für viele Menschen nicht erkennbar gewesen. Also wurde ich abgewatscht. Was ok wäre. Aber der Umgangston? Da trafen ich auf eifernde Oberlehrer und Menschen, die sicher wissen, das die Apokalypse naht, redliche Argumentateure und selbstgewisse Besitzer unerschütterlicher Wahrheiten. Türkische Nationalisten und preussische Kommunisten. Sie einigt eines, sie wollen kein Gespräch, sondern einen Kotau. Selbst ohne jede Demut, verlangen sie Unterwerfung.
Nölen, nörgeln, meckern, schmollen, schimpfen, mäkeln, quengeln, aburteilen, verächtlich machen sind billig und verhindern jedwede Kommunikation.
LOB DES ZWEIFELS
Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüßt mir
Heiter und mit Achtung den
Der euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft!
Ich wollte, ihr wäret weise und gäbt
Euer Wort nicht allzu zuversichtlich.
Lest die Geschichte und seht
In wilder Flucht - die unbesieglichen Heere.
Allenthalben Stürzen unzerstörbare Festungen ein und
Wenn die auslaufende Armada unzählbar war
Die zurückkehrenden Schiffe
Waren zählbar.
So stand eines Tages ein Mann auf dem unbesteigbaren Berg
Und ein Schiff erreichte das Ende des
Unendlichen Meeres.
O schönes Kopfschütteln
Uber der unbestreitbaren Wahrheit!
O tapfere Kur des Arztes
An dem rettungslos verlorenen Kranken!
Schönster aller Zweifel aber
Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und
An die Stärke ihrer Unterdrücker
Nicht mehr glauben!
O, wie war doch der Lehrsatz mühsam erkämpft!
Was hat er an Opfern gekostet!
Daß dies so ist und nicht etwa so
Wie schwer wars zu sehen doch!
Aufatmend schrieb ihn ein Mensch eines Tages in das Merkbuch des Wissens ein.
Lange steht er vielleicht nun da drin und viele Geschlechter
Leben mit ihm und sehn ihn als ewige Weisheit
Und es verachten die Kundigen alle, die ihn nicht wissen.
Und dann mag es geschehn, dass ein Argwohn entsteht, denn neue Erfahrung
Bringt den Satz in Verdacht. Der Zweifel erhebt sich.
Und eines anderen Tages streicht ein Mensch im Merkbuch des Wissens
Bedächtig den Satz durch.
Von Kommandos umbrüllt, gemustert
Ob seiner Tauglichkeit von bärtigen Ärzten, inspiziert
Von strahlenden Wesen mit goldenen Abzeichen, ermahnt
Von feierlichen Pfaffen, die ihm ein von Gott selber verfaßtes Buch um die Ohren schlagen
Belehrt
Von ungeduldigen Schulmeistern steht der Arme und hört
Daß die Welt die beste der Welten ist und daß das Loch
Im Dach seiner Kammer von Gott selber geplant ist.
Wirklich, er hat es schwer an dieser Welt zu zweifeln.
Schweißtriefend bückt sich der Mann, der das Haus baut, in dem er nicht wohnen soll.
Aber es schuftet schweißtriefend auch der Mann, der sein eigenes Haus baut.
Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln.
Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar.
Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall
Müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber
Ist unbegrenzt. Auf Argumente
Hören sie mit dem Ohr des Spitzels.
Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln
Begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln.
Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern
Um der Entscheidung auszuweichen. Ihre Köpfe
Benützen sie nur zum Schütteln. Mit besorgter Miene
Warnen sie die Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser.
Unter der Axt des Mörders
Fragen sie sich, ob er nicht auch ein Mensch ist.
Mit der gemurmelten Bemerkung
Daß die Sache noch nicht durchforscht ist, steigen sie ins Bett.
Ihre Tätigkeit besteht in Schwanken.
Ihr Lieblingswort ist: nicht spruchreif.
Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt
So lobt nicht
Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist!
Was hilft Zweifeln können dem
Der nicht sich entschließen kann!
Falsch mag handeln
Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt
Aber untätig bleibt in der Gefahr
Der zu viele braucht.
Du, der du ein Führer bist, vergiß nicht,
Daß du es bist, weil Du an Führern gezweifelt hast.
So gestatte den Geführten
Zu zweifeln!
b.b.