Dienstag, 10. Juli 2018

Ein Text über das Sterben

https://www.perlentaucher.de/essay/aufruhr-im-zwischenreich-teil-1.html

Ein anstrengender Text, aber er er ist aufwühlend und anregend genug, um die Lesezeit zu lohnen.
Wir alle werden ohne Ausnahme sterben und niemand von uns weiß wann. 
Aber sollten wir nicht über das "Wie" selbst bestimmen können? Wer definiert Leben, lebenswertes Leben? Gehört unser Sterben uns oder ist es ein durch den Staat zu entscheidendes Problem?
Ich möchte sterben können, wann ich es will. Solange ich noch einen Willen äußern kann. 
Macht eine Patientenverfügung! Man stirbt manchmal früher als man denkt!

 
"Wie soll das Einmalige, Persönliche, Nichtübertragbare und nur sehr begrenzt Kommunizierbare des individuellen Sterbens - etwas das es per definitionem nicht im Plural geben kann - von Parlamentariern stellvertretend diskutiert, normiert und per Gesetzeskraft einer ganzen Bevölkerung als Verhaltensmaßregel verordnet werden?"

"Darauf zu bestehen, dass ein Mensch auf eine Art und Weise stirbt, die nach Meinung anderer richtig ist, für ihn selbst jedoch in einem gravierenden Widerspruch zu seinem Leben steht, ist eine Form menschenverachtender Tyrannei."

"Gäbe es eine Gemeinschaft der Sterbenden, ein Sterbevolk oder eine Sterbepartei, die das Unmögliche, das Gemeinsame am Willen aller Sterbenden artikulieren, im Namen eines "Wir" aussprechen könnte, dann lautete ihre Botschaft an Parlament, Regierung, Ärztekammer und Kirchenverbände ganz klar: Wir wollen nicht, dass ihr euch einmischt! Und programmatischer: Wir wollen, dass ihr euch nicht mehr einmischt und vergangene, verfassungswidrige Reglementierungen wieder rückgängig macht. Hört auf, euch die Autorschaft für das letzte Kapitel unseres Lebens anzumaßen! Das ist weit schlimmer als Plagiat, das ist Persönlichkeitsenteignung! Hört endlich auf, Sterbewillige zu entmündigen und ihnen die nötigen Medikamente für ein sanftes Entschwinden zum selbst gewählten Zeitpunkt vorzuenthalten! Das ist staatlich verordnete Folter! Hört auf, den hirntoten christlich-obrigkeitsstaatlichen Paternalismus künstlich zu beatmen! Niemand hat euch beauftragt, uns unsere grundgesetzlich garantierten Rechte vorzuenthalten! In unserem Namen sprecht ihr nicht!"


Ocean's 8

Gerade telefonierte vor mir laufend ein Mann intensiv mit seiner Colaflasche. Was wird sie ihm antworten?

Ocean's 8, die Weiberversion von Ocean's 11, funktioniert leider gar nicht. 
Die interne Dynamik der simpel und schematisch aufgebauten Gruppe von Spezialisten ist auf nichts gegründet als verbaler Behauptung, der Coup gerade mittelspannend und es gibt keinen interessanten gefährlichen Gegner. Es plätschert. Schade. Ganz abgesehen davon, dass Sandra Bullock's Gesicht eine Überdosis Botox intus hat und Cate Blanchett leider eine nur um Weniges kleinere Dosis. Starre Mimik in der nur noch die Augen leben. Hier und da macht sich ein Klümpchen der Füllmasse selbsständig und bildet kleine Wellen oder Hügel. Brauen werden hochgezogen ohne irgendeine Reaktion auf der Stirn hervorzurufen. Oder, wie bei der von mir sehr verehrten Cate Blanchett, muß ein überlanger Pony das glattgespritzte Gesichtsteil abdecken.
Wenn man bei Ocean's 11 den täuschend glaubwürdigen Eindruck haben konnte, ein Gruppe Trinkkumpanen hätten sich getroffen, um Spaß zu haben und nebenbei einen guten Film zu drehen, herrschte hier Anstrengung, Make-up und Gestaltungszwang. Der Jugend-, Schöhnheitwahn für Darstellerinnen ist offensichtlich so erdrückend , dass diese tollen Frauen lieber ihre Mimik verlieren, als ein paar Falten zu riskieren. Clooney und Pitt dürfen ergrauen und verknittern, ihre spielerisch durchaus ebenbürtigen weiblichen Gegenparts nicht. 
Hat mich zutiefst erschreckt. 
Sehr gute Spielerinnen, die ihr intimstes Handwerkszeug, ihre Gesichtsmuskeln, Vermittler jeder Regung, vergiften, aus Angst vor dem professionellen Schrotthaufen.
Die Nebenrollen, weniger Druck ausgesetzt, sind großartig.
Ocean's 11 war die filmische Hommage an die Coolness. Cool ist, wenn Gary Cooper in "Zwölf Uhr mittags" durch die Stadt voller Feiglinge schreitet, wenn James Bond, im Angesicht der Gefahr, seinen Martini immer noch geschüttelt und ncht gerührt verlangt.

Was macht Coolness aus?
Wenn jemand etwas unerwartet Nettes tut, ist das 'cool'.
Wenn ich mit etwas einverstanden bin, I am cool with it.
Loosing your 'cool', heißt, dass Du die Beherrschung verlierst. Also: "stay cool. boy!", wie sie in West Side Story singen oder play it 'cool!'. 'Cool' it!

Boy, boy, crazy boy
Get cool, boy!
Got a rocket, in your pocket
Keep coolly cool, boy!
Don’t get hot


https://www.youtube.com/watch?v=wugWGhItaQA 
Immer noch eine der geilsten, coolsten Tanzszenen aller Zeiten. Hoch lebe Jerome Robbins, der Mentor von Bob Fosse.

Unangestrengter Charme wirkt cool.
Was macht Coolness aus?
Castorf macht gerade Skandal, weil er, im sicheren Wissen, um seine Funktion als alter Sack und genialer Narr, fiese Äußerungen über Frauenfußball und Theater, dass von Frauen inszeniert wird, rausgehauen hat. Kränkt mich das? Nein. Warum? Weil er Recht hat. Über Fußball kann ich mich, mangels Kenntnis und Interesse nicht äußern, aber über Frauen im Theater schon. Wir sind selten cool. Schreit ein Kerl, ist er wild, intensiv, ergebnisorientiert. Schreien wir, sind wir hysterisch. Coolness bedarf eines Gefühls der Sicherheit und das wird uns selten gewährt. 
2018 und immer noch habe ich das Gefühl, von mir wird mehr Empathie und mehr Nachgiebigkeit erwartet. Meine Intensität ist nicht sexy. Warum nicht? Also mildere ich sie ab. Weil ich gemocht werden will. Mein Schwachpunkt. Oder meine Stärke?

Samstag, 7. Juli 2018

Endstation Sehnsucht im Berliner Ensemble

Vor 10 Jahren wanderte ich Eindrücke saufend und schwitzend in heftigster Hitze durch New Orleans und begenete einer Strassenbahn, deren Name war "Desire". So profan und poetisch meint es der originale Titel "A Streetcar Named Desire" von Tennessee Williams. Und ich glaube, dass ein Grund für die Schwierigkeiten dieses Stück von Williams in Deutschland zu inszenieren, in der Gewichtigung des Titels liegt. Endstation. Wir lesen das Stück von seinem Ende her. Und es fehlt uns auch das ganz körperliche Erleben von großer Hitze in feuchtschwerer Luft und dem noch immer andauernden Kampf der Südstaaten gegen ihren Beitritt zur Neuzeit. Fiebrigkeit & Depression in Folge von Klima und dem Unwillen die scheinbar große Vergangenheit loszulassen.

Blanche, Stella und Stanley Kowalski sind Bewohner unseres filmgefütterten Bewußtseins, Marlon im Unterhemd, wurde heute Abend durch einen kurzen Hemdverlust zu Beginn abgearbeitet. Cordelia Wege aka Blanche, die ich zuletzt vor 20 Jahren in meinem Leipziger Debut mit Frühlingserwachen habe spielen sehen, ist eine sensationell gute Schauspielerin geworden. Schön, intelligent, humorvoll und selbst, wenn Thalheimer sie in sene neuerdings bevorzugten psychopathologischen Hysterien jagt, bleibt sie "Frau" der Lage. Sina Martens, Andreas Döhler, Kathrin Wehlisch, Henning Vogt allesamt sehr interessant anzuschauen. 
 



Kluger und reifender Grundgedanke, dass eine untergehende, dekadente Klasse ihre Verachtung der nachfolgenden herausschreit, hier die der Proleten, verkörpert durch Kowalski und seine Pokerfeunde, und sie damit provoziert, sich genauso brutal zu verhalten, wie es ihnen unterstellt wird.

Aber wieder ein massives Olaf Altmann Bühnenbild, das allen seine Architektur aufzwingt. Ein schräg in eine rostige Metallwand eingelassener Raum mit sicher 15prozentiger Schräge, die Frauen tragen auch noch Absatzschuhe. Wieder Daueruntermalung mit Klängen. Wieder harte statische Arrangements. Wieder keine Punkt, der mich erwischt.

Freitag, 6. Juli 2018

Das Letzte Mahl - Oy vey ist mir!

Im Rahmen des Jüdischen Filmfstivals habe ich heute in der Kulturbrauerei einen deutschen Film gesehen. Einen Film mit besten Absichten, mit großer Ernsthaftigkeit recherchiert, geschrieben und inszeniert.


Der Regisseur Florian Frerichs und der Historiker Stephan Warnatsch wollen, anhand eines Abendessens der letztmals vollständig versammelten Berliner Familie Glickstein am Abend des 30. Januar 1930, ausdrücklich Parallelen zur heutigen politischen Situation in Deutschland ziehen. Das haben sie selbst vor Beginn so formuliert. Herr Warmatsch erwähnte auch, wir würden anschließend im Q & A darüber reden. Jetzt wo ich durch Google weiß, dass er mal Geschichtslehrer war, weiß ich auch, warum ich das Gefühl hatte, mir würde eine Prüfung angedroht. 

Der 30. Januar 1933, Hindenburg ernennt Adolf Hitler zum Reichskanzler und die Familie Glickstein zelebriert ein Abendmahl, der Vater, ein Fabrikant in finanziellen Nöten, versucht die drohende Gefahr herunterzuspielen, der Sohn verehrt Hitler und dessen Ideen glühend, die Tochter will nach Palästina auswandern, die Nichte ist Kommunistin, der Onkel Rabbiner, die Großeltern weise und die Mutter in Sorge um alle, ein Querschnitt. Niemand hat mehr als ein Problem, mehr als eine Farbe, niemand ist sowohl als auch, ambivalent oder gar widersprüchlich.

Und mir bleibt keine Chance irgendetwas mißzuverstehen, weil alles, aber auch alles ausformuliert wird. Jeder sagt was er denkt und warum, und was es politisch und historisch bedeutet. Zwei Leute stehen vor der Haustür und rauchen, ein dritter tritt hinzu und sie erklären ihm, dass sie vor der Tür stehen, um zu rauchen. Mußten damals auch schon alle raus zum Rauchen? Bei jeder Erwähnung von Palästina, sagt einer "Eretz Israel!", ein anderer "Das Land unsrer Väter!". Man erzählt sich jüdische Witze, aber leider ohne Timing . Immer wieder ertönt Mischpoche wie ein Fremdwort im Dialog, bei uns hieß das Mischpoke. Die Machtverhältnisse zwischen Hindenburg, Papen, Schleicher und Hitler werden mehr als einmal genauestens erklärt, wohl damit ich in der Prüfung später alle Fragen richtig beantworten kann. Ein weiterer Knackpunkt, für mich, die ich mit jüdischer Mutter und Großmutter aufgewachsen bin, ist das Essen, Zentrum eines jeden Familientreffens, hier wird es lieblos und ungenau behandelt und nicht wirklich gegessen. Was soll denn das? 

Es wird so unendlich viel geredet in diesem Film, aber wenn unter den Worten, zwischen ihnen nichts zu Verbergendes liegt, kein Geheimnis, kein Abgrund, dann verwandeln sie sich in Stroh und Staub. Und wenn manche Spieler nicht über mehr als zwei Gesichtsausdrücke verfügen, ist das auch nicht hilfreich. 

Ich sehe vor meinem inneren deutsch-jüdischen Auge Preisverleihungen aus nicht guten Gründen und Schüler, die von Langeweile gepeinigt 120 Minuten von besten Absichten über sich ergehen lassen müssen. Oy vey ist mir!

Mein liebster & kürzester jüdischer Witz stammt immer noch von Woody Allen: "Immer wenn ich Wagner höre, habe ich das Gefühl, ich muß in Polen einmarschieren."

Ein paar Tipps für gute Filme über jüdische Themen: 
Der große Diktator 1940
Hester Street 1975
A Stranger Among Us 1995
The Believer 2001 (mit dem ganz jungen Ryan Gosling)
Waltz with Bashir 2008

Übrigens ist Claude Lanzmann der Sammler von unerzählbaren Geschichten, der Zuhörer, der Ordner, der Rufer in der Wüste, der Regisseur von "Shoa" gestern im gesegneten Alter von 92 gestorben. Möge er in Frieden ruhen.

Donnerstag, 5. Juli 2018

Lingua Tertii Imperii / Neusprech /

Dieses Buch hat meine unüberprüfte Sprachgewißheit, vielleicht 15-jährig, tief erschüttert. Seitdem achte ich, wenn ich mehr als achtlos schnattere, auf meine Wörter, meine Worte. 
Diese Prägung war, was mich betraf, allerdings nicht im Dritten Reich verwurzelt, dafür hat mein Vater, der einst Pimpf war und dann nach 45 ernsthaft und gründlich, wie es seine Art war, dieses gräßliche Gehirngift bei sich untersuchte und versuchte auszumerzen, gesorgt, sondern die selbstgewiß blabbernde Diktatur der DDR. Staatlich organisiertes Neusprech sozusagen, gedächtnisschwache, verkrüppelte Ideale in inniger Bindung zu akuter Machtbesessenheit, vermurksten die Sprache meines Geburtslandes bis zur völligen Unverständlichkeit. Tsche Mkratsche Rplik - so klang der Name meines Landes aus Honeckers Mund. "Wir brauchen keine Brille um unseren Weg zu finden" schien mir, schwer kurzsichtig, ein besonders idiotischer Liedtitel auf einer Demonstration zur Feier des Ersten Mais. Kurz nach dem Fall der Mauer stotterte ein SED-Genosse. der daraufhin in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, "Hu Genossen ra, es lebe der Sozimus!".


Wiki sagt: LTI – Notizbuch eines Philologen ist ein 1947 erschienenes Werk von Victor Klemperer, das sich mit der Lingua Tertii Imperii befasst, der Sprache des Dritten Reiches. 

"Eine Schicksalsgemeinschaft bewährt sich, wenn sie herausgefordert wird." meint Alexander Dobrindt, auch Angela Merkel verwendet im gleichen Zusammenhang dieses Wort "Schicksalsgemeinschaft" - was ist das für eine Wortwahl? Schicksalsgemeinschaft: (sagt Wiki) ist eine "Gemeinschaft von Menschen, die das gleiche schwere Schicksal verbindet. Beispiele hierfür sind Schiffbrüchige, Geiseln oder in einem Bergwerk eingeschlossene Personen", hä? 2018 sind bereits mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer, bei dem Versuch aus ihrer Heimat zu fliehen, ertrunken. "Der CDU-Politiker Volker Kauder forderte kurz nach dem Berliner „Integrationsgipfel“ der deutschen Bundesregierung im Juli 2006 von Einwanderern in Deutschland: „Wer Deutscher werden will, muss sich auch zur deutschen Schicksalsgemeinschaft und damit zur deutschen Geschichte bekennen." Hä? Hä? Hä? What the fuck!!!!!! Oder "Du Brunzkachl, du ogsoachte. Du g'hörst ja mit der Scheißbürscht’n nausghaut!"
Schon der Gebrauch des Schicksalsbegriffes scheint mir verwerflich. Schicksal ist, wieder nach Wikis Aussage: "von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, was sich menschlicher Berechnung und menschlichem Einfluss entzieht und das Leben des einzelnen Menschen entscheidend bestimmt." Wir, als Staat, sind also völlig hilflos höheren nicht begreifbaren Einflüssen ausgesetzt? 

"Die Sprache des Dritten Reiches scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, dass sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen." V.K.

 EIN ERSATZTEIL-LAGER


Die Fiktion einer Nichteinreise

In der entsprechenden Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz heißt es: „Der Ausländer hat eine Grenzübergangsstelle erst dann passiert, wenn er die Kontrollstationen der Grenzpolizei und des Zolls, soweit an den EU-Außengrenzen vorhanden, hinter sich gelassen hat und sich frei in Richtung Inland bewegen kann.“ Kommt er in ein Transitzentrum, ist die Person im juristischen Sinne nicht eingereist, auch wenn sie körperlich die Kontrollstationen passiert hat. faz

Die Fiktion der Nichteinreise: Jemand ist da aber nicht da. Er bzw. Sie verwandelt sich, durch die Anwendung von Gesetzen, in ein Phantom. Menschen, die, unter für mich nicht nachvollziehbaren Gefahren, versuchen, in unser Land zu gelangen, eine unübersichtliche Melange von Verzweifelten, akut lebensgefährdeten Asylsuchern, Hoffnungsvollen auf ein besseres Leben und einigen, nicht wenigen, dubiosen Figuren. Jetzt werden sie zu Phantomen. Es gibt sie, aber es gibt sie von nun an auch nicht. Sie werden in Transitzentren aufbewahrt, um dann irgendwohin zurückgeschickt zu werden, in andere Lager anderswo. Ups. Lager, ein geradezu unbenutzbares Wort. "Jedem das Seine". Nein. Das meinen wir nicht. Wir werden sie nicht töten, nur aufbewahren, um sie abzuschieben. Ich habe keinen Lösungsvorschlag, aber eine große Menge an Befürchtungen. Was macht das mit uns? Wie verändert es uns, dass wir Andere wegschicken ins Ungewisse?

Sonntag, 1. Juli 2018

Dürer / Teschke / Melancholie

MELENCOLIA 1542

Inmitten der Trümmer Auf der Schwelle zum Goldenen Zeitalter
Inmitten der Instrumente Der Rechentafeln und Waagen
Ein grimmiger Engel mit neuen Waffen
Bücher und Zirkel Das Navigationsgerät der Gelehrten
Der Engel ist eine Frau Von Instrumenten umstellt
Im Gefieder die Asche der kommenden Schlachten
Das Erwachen der Vernunft gebiert noch nie gesehene Monster
Teufel in Menschengestalt Dämonen mit Karte und Kompass
Über dem Horizont ein blutiger Regenbogen
Die Fahne der geschlachteten Bauern Und ein verglühender Stern.

Holger Teschke 1994



































Albrecht Dürer

Die Felder auf diesem magischen Quadrat ergeben in alle Richtungen 34. Auch die vier Eckfelder und die vier Felder in der Mitte ergeben diese Summe. In der unteren Reihe ist außerdem die Jahreszahl des Stichs, 1514, enthalten. In der zweiten Reihe korrigierte Dürer eine 6 zu einer 5. Die 9 im Feld darunter geht auf eine ältere Schreibweise zurück.
https://www.albrecht-duerer-apokalypse.de/sein-werk/die-drei-meisterstiche/melencolia-i/

Das Todesdatum von Dürers Mutter Barbara, der 16.5.1514 ist auch zu finden.
Dürer sagte über seine Mutter, die achtzehn Kinder gebar, von denen nur drei überlebten:
„Diese meine fromme Mutter hat oft die Pestilenz gehabt und viele andere schwere Krankheiten, hat große Armut erlitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Worte und andere Widerwärtigkeiten, doch ist sie nie rachsüchtig gewesen. Und in ihrem Tode sah sie viel lieblicher aus, als da sie noch das Leben hatte."

Auf einer Vorskizze hat Dürer notiert: "Schlüssel bedeutet Gewalt, Beutel bedeutet Reichtum."

Die Probleme beginnen mit der Identifizierung der Gegenstände auf dem Bild: Ist die sitzende Figur eine Frau, ein Engel, ein Mann, ein Genius? Ist das Bauwerk eine Baustelle, ein Pfeiler, ein Turm, ein Haus? Ist die kleine geflügelte Figur ein Putto, ein unschuldig kritzelndes Kind, ein böser Dämon, eine Assistenzfigur, die die höchsten Eingebungen der Melancholie notiert? Ist das Tier, auf dessen Flügel die Aufschrift "Melencolia I" steht, eine Fledermaus, ein Mischwesen aus Fledermaus und Echse oder der Drachen des Saturn? Ist das Zeichen "I" im Schriftzug der Flügel die Zahl "Eins", die Ordnungszahl "Erstens", der Buchstabe "I" in der Bedeutung des Imperativs des lateinischen "ire" (gehen), also: "Melencolia - geh weg!"? Ist der Bogen im Hintergrund ein Regenbogen, Mondbogen, der Saturnring? Ist die meteorartige Himmelserscheinung ein Komet oder Saturn? Welche Lichtquellen herrschen? Ist das Land im Hintergrund teilweise überschwemmt? Ist der Steinblock ein Säulenrest, die missratene Form von einem der Urkörper, die Konstruktion eines unregelmäßigen Polyeders oder die Darstellung der Kristallstruktur?


http://www.unterricht.kunstbrowser.de/theorie/interpretation/03c19899200b03c07/duerermelencolia.html

Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. 
S. Freud

...der Zirkel ruht müßig in der Hand, zerstreutes, gramseliges Licht liegt auf zerstreuten Gegenständen, die Ordnung, welche sonst Gelehrtenstuben des sechzehnten Jahrhunderts auszeichnet, ist völlig fern, kein größerer Gegensatz als zwischen diesem Ensemble und dem aufgeräumten des Blatts "Hieronymus im Gehäuse". Das eben macht: Dürers Blatt "Melencolia" zeichnet, mit astrologischen Hilfsmitteln, die Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. Das Blatt zeichnet Stupor, worin eine in dauerndem Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt; Dürers "Melencolia" ist so das unschätzbare Dokument negativen Staunens, gerade ohne Spuk und Hölle, selbst ohne die Bestimmtheit Saturn."
Ernst Bloch Das Prinzip Hoffnung Bd.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1985, S.350 f

"Ein gefügeltes Weib, das auf einer Stufe an der Mauer sitzt, ganz tief am Boden, ganz schwer, wie jemand, der nicht bald wieder aufzustehen gedenkt. Der Kopf ruht auf dem untergestützten Arm mit der Hand, die zur Faust geschlossen ist. In der anderen Hand hält sie einen Zirkel, aber nur mechanisch: sie macht nichts damit. Die Kugel, die zum Zirkel gehört, rollt am Boden. Das Buch auf dem Schoß bleibt ungeöffnet. Die Haare fallen in wirren Strähnen, trotz dem zierlichen Kränzchen, und düster-starr blicken die Augen aus dem schattendunklen Antlitz. Wohin geht der Blick? Auf den großen Block? Nein, er geht darüber hinweg ins Leere. Nur die Augen wandern, der Kopf folgt nicht der Blickrichtung. Alles scheint Unmut, Dumpfheit, Erstarrung.
Aber ringsherum ist alles lebendig. Ein Chaos von Dingen. Der geomertische Block steht da, groß, fast drohend; unheimlich, weil es aussieht, als ober fallen wolle. Ein halbverhngerter Hund liegt am Boden. Die Kugel. Und daneben eine Menge Werkzeuge: Hobel, Säge, Lineal, Nägel, Zange, ein Schnürtopf zum Farbenanrühren - alles ungenützt, unordentlich zerstreut.
Was soll das heißen? Als Erklärung steht oben, den Flügeln eines fledermausähnlichen Fabeltieres eingeschrieben, das Wort: Melencolia I."
Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers. München: Verlag F.Bruckmann, 1926, S. 247 f

http://www.unterricht.kunstbrowser.de/theorie/interpretation/03c19899200b03c07/duerermelencolia.html

Freitag, 29. Juni 2018

Andreas Mühe in der Galerie König Berlin

Die Galerie König in Kreuzberg - ich muß gestehen, heute war mein erstes Treffen mit den Photographien von Andreas Mühe.
Ohne damit im Entferntesten einen Mangel an Respekt zeigen zu wollen, würde ich Andreas Mühe als einen deutlich deutschen Photographen beschreiben. Sowohl thematisch: Obersalzberg, Wald, Männer in Uniformen, Caspar David Friedrich, als auch ästhetisch: übergroße Formate mit einer analogen Plattenkamera aufgenommen, penibel ausgeleuchtet und inszeniert. Viel Fläche in denen kleine Menschen drohen zu verschwinden, aber auch gigantische Porträts.


Rückansichten urinierender, bzw. onanierender Männer in deutscher Berglandschaft. Einsame Männer in Uniformen der Reichswehr nur kommentiert von ihren Schatten, aber auch ein kleines Mädchen im Dirndl mit zu Boden gefallenem Wachsmalstift. Uniforme Häuser getaucht in geisterhafte Beleuchtung. Merkel und Kohl, Kohl im Rollstuhl nächtens vor dem Brandenburger Tor, Merkel abgewandt in einen Wald sinnierend.

Manchmal war mir Absicht zu beherrschend, aber immer war die kunstfertige Handwerklichkeit beeindruckend.

Den Raum verblüffend beherrschend ein Porträt von Ulrich Mühe, das keines ist, da es ein hölzernes Abbild des Mannes zeigt, mit strahlend blauen Pupillen ohne Linse. Gespenstisch. Ich mochte Ulli sehr. Klug, Distanz bewahrend, verspielt, widerständig und hochsensibel. Und im Besitz eines üblen und ansteckenden Sinns für Humor. Ich habe ihn mal auf offener Bühne gebissen, weil er mich zu erfolgreich zum Lachen bringen wollte. Und das in einer Inszenierung von Heiner Müller! Eine Drecksgemeinheit, dass er so früh sterben mußte. 

Die Photographien sind nix für meine heimische Wand, sicher auch unerschwinglich, aber sie sind nachhaltig beeindruckend, beunruhigend.

Donnerstag, 28. Juni 2018

Facebook - Nölen, nörgeln, meckern, schmollen, mäkeln, quengeln.

Ich poste gern und wohl auch zu viel auf Facebook. Facebook ist mein Tante-Emma-Laden, mein Dorf-Brunnen. Mal haue ich daneben, mal provoziere ich mit Absicht, mal ist es gänzlich belangloses Zeugs, mal lustiges und ganz gelegentlich ist es interessant. Und andere Facebooker antworten und für sie gilt dasselbe.

Aber in letzter Zeit taucht sich so ein komischer Ton auf, so ein theatralisch fassungsloses Entsetzen, dass ich, was auch immer ich geschrieben wurde, überhaupt denken kann. Gegenwind ist super, Beschimpfungen sind ignorierbar. Aber diese tiefe moralische Empörung ist mir unheimlich. 
Selbst in meiner kleinen, überwiegend liberalen Blase gehen Meinungen oft sehr auseinander, und eine der Nützlichkeiten von Facebook ist, dass ich es mir in meinen Überzeugungen nicht zu gemütlich machen kann, weil einige "Andersdenkende" verflixt schlau sind und Dinge wissen, die ich nicht weiß. 
Die Schwierigkeiten der rein schriftlichen Kommunikation sind dabei erheblich. Ein Grinsen kann ich nicht notieren und Emojis mag ich nur bedingt. Ironie ist auch so eine riskante Sache, wenn nur Worte ohne Gesicht, Augen, Körper sprechen. All das sind "systemimanente" Schwierigkeiten. 
Aber neuerdings macht sich so ein Ton breit, der mich unangenehm an die DDR erinnert. Schäfer zum dummem Schäfchen, Fleischer zum Kalb. Oder so eine wissende, amüsierte Überlegenheit, die sich unangreifbar wähnt, weil sie sich erst gar nicht zur Disposition stellt.

Letztendlich sind wir alle zuiefst verwirrt, überfordert und besorgt. Also woher nehmen manche Leute diese unerschütterliche Gewißheit ihres unerschütterlichen Im-Recht-Seins? 
Ein Freund macht sich gern lustig über meine Neigung zum Zweifeln und nennt es meinen Shtick, meine Trickserei. Aber das ist es nicht, ich bin wirklich oft unsicher. Die Menge der Informationen, der Schauplätze, der Details ist enorm. Und voreilige Urteile sind schnell gefällt. Passiert mir.

Ein Beispiel:
Ich möchte hiermit alle meine türkischen Mitbürger, die in dieser Wahl für Erdogan gestimmt haben, aus welchen Gründen auch immer, darum bitten, künftig in eben der Türkei zu leben, die dieser Mann regiert.
Das war mein aus dem Zorn geborener Beitrag.

Offensichtlich ist die satirische Zuspitzung für viele Menschen nicht erkennbar gewesen. Also wurde ich abgewatscht. Was ok wäre. Aber der Umgangston? Da trafen ich auf eifernde Oberlehrer und Menschen, die sicher wissen, das die Apokalypse naht, redliche Argumentateure und selbstgewisse Besitzer unerschütterlicher Wahrheiten. Türkische Nationalisten und preussische Kommunisten. Sie einigt eines, sie wollen kein Gespräch, sondern einen Kotau. Selbst ohne jede Demut, verlangen sie Unterwerfung.

Nölen, nörgeln, meckern, schmollen, schimpfen, mäkeln, quengeln, aburteilen, verächtlich machen sind billig und verhindern jedwede Kommunikation.


LOB DES ZWEIFELS

Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüßt mir
Heiter und mit Achtung den
Der euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft!
Ich wollte, ihr wäret weise und gäbt
Euer Wort nicht allzu zuversichtlich.

Lest die Geschichte und seht
In wilder Flucht - die unbesieglichen Heere.
Allenthalben Stürzen unzerstörbare Festungen ein und
Wenn die auslaufende Armada unzählbar war
Die zurückkehrenden Schiffe
Waren zählbar.

So stand eines Tages ein Mann auf dem unbesteigbaren Berg
Und ein Schiff erreichte das Ende des
Unendlichen Meeres.

O schönes Kopfschütteln
Uber der unbestreitbaren Wahrheit!
O tapfere Kur des Arztes
An dem rettungslos verlorenen Kranken!

Schönster aller Zweifel aber
Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und
An die Stärke ihrer Unterdrücker
Nicht mehr glauben!

O, wie war doch der Lehrsatz mühsam erkämpft!
Was hat er an Opfern gekostet!
Daß dies so ist und nicht etwa so
Wie schwer wars zu sehen doch!

Aufatmend schrieb ihn ein Mensch eines Tages in das Merkbuch des Wissens ein.
Lange steht er vielleicht nun da drin und viele Geschlechter

Leben mit ihm und sehn ihn als ewige Weisheit

Und es verachten die Kundigen alle, die ihn nicht wissen.

Und dann mag es geschehn, dass ein Argwohn entsteht, denn neue Erfahrung
Bringt den Satz in Verdacht. Der Zweifel erhebt sich.
Und eines anderen Tages streicht ein Mensch im Merkbuch des Wissens
Bedächtig den Satz durch.

Von Kommandos umbrüllt, gemustert
Ob seiner Tauglichkeit von bärtigen Ärzten, inspiziert
Von strahlenden Wesen mit goldenen Abzeichen, ermahnt
Von feierlichen Pfaffen, die ihm ein von Gott selber verfaßtes Buch um die Ohren schlagen
Belehrt
Von ungeduldigen Schulmeistern steht der Arme und hört
Daß die Welt die beste der Welten ist und daß das Loch
Im Dach seiner Kammer von Gott selber geplant ist.
Wirklich, er hat es schwer an dieser Welt zu zweifeln.

Schweißtriefend bückt sich der Mann, der das Haus baut, in dem er nicht wohnen soll.
Aber es schuftet schweißtriefend auch der Mann, der sein eigenes Haus baut.
Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln.
Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar.
Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall
Müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber
Ist unbegrenzt. Auf Argumente
Hören sie mit dem Ohr des Spitzels.

Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln
Begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln.
Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern
Um der Entscheidung auszuweichen. Ihre Köpfe
Benützen sie nur zum Schütteln. Mit besorgter Miene

Warnen sie die Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser.

Unter der Axt des Mörders

Fragen sie sich, ob er nicht auch ein Mensch ist.

Mit der gemurmelten Bemerkung
Daß die Sache noch nicht durchforscht ist, steigen sie ins Bett.
Ihre Tätigkeit besteht in Schwanken.
Ihr Lieblingswort ist: nicht spruchreif.

Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt
So lobt nicht
Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist!

Was hilft Zweifeln können dem
Der nicht sich entschließen kann!
Falsch mag handeln
Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt
Aber untätig bleibt in der Gefahr
Der zu viele braucht.
Du, der du ein Führer bist, vergiß nicht,
Daß du es bist, weil Du an Führern gezweifelt hast.
So gestatte den Geführten
Zu zweifeln!

 b.b.

Schulessen in der DDR

Das schulische Mittagsmahl in einer DDR-Schule besaß eine ganz eigene Scheußlichkeit. Brauner matschiger Spinat mit hartem Rührei, erst Jahre später habe ich erlebt, das Spinat eigentlich grün ist, chemisch geschälte Kartoffeln mit unangenehm nach Plaste schmeckender äußerer Haut, betonharte Leber, undefinierbare Eintöpfe, aber auch Milchreis mit Apfel. Die meisten Mahlzeiten führten zu Duellen mit Eßwarengeschossen und Fluchtbewegungen zum nächsten Kiosk, der uns billige Rumschnitten und Kekse anbot. 
Aber Milchreis mit Apfelkompott liebe ich immer noch.
Heute bin ich von deutschdeutschen und türkischdeutschen MItbürgern beschimpft worden, weil ich die Unterstützung eines Diktatoren scheinbar verächtlich beurteilt habe. Aber keine Ideologie und keine Fahne ist mir wichtiger als ein einzelner Mensch. Und unsere verunglimpfte und verunsicherte Kanzlerein hat sich in diesem besonderen Fall, als die Katastrophe akut war, einmal so verhalten, wie ich es, als Atheistin, von einer Christin erwarte. "Wir schaffen das."
Heute sind wir aus der Weltmeisterschaft rausgefallen, heute ist in der Türkei ein künftiger Diktator an der Macht, auch mit den Stimmen meiner Mitbürger. Heute ist ein weiterer schlechter Tag für die so sehr verachtete und unterschätzte Demokratie. Mein Lieblingsrabbiner sagte einmal, nicht wörtlich zitiert: Immerhin können wir sie nach vier Jahren abwählen.
Ich lebe in einer irren Welt und liebe Apfelreis. 


1l Milch mit Salz und eine 1/4 geriebener Bio-Zitronenschale in eine Pfanne geben, dazu 2 Tl Butter erhitzen, 200g Reis dazugeben und langsam bei schwacher Hitze kochen und anschließend ausquellen lassen. 400g Äpfeln waschen, halbieren, das Kerngehäuse entfernen und in kleine Stücke schneiden. Den Reis mit den Äpfeln und 2 El Zucker verfeinern und weiterhin 10 Min. garen lassen und ab und zu umrühren. Zucker mit Zimt vermengen und auf den Milchreis streuen.

400 ml
Milch
100 g
Milchreis
1 Prise
Salz
1 Päckchen
Vanillezucker
2 EL
Zucker
etwas abgeriebene Zitronenschale
1 kleines Gals
Apfelkompott
1 EL
Mandelblättchen
(mehr dazu bei kochbar.de)
400 ml
Milch
100 g
Milchreis
1 Prise
Salz
1 Päckchen
Vanillezucker
2 EL
Zucker
etwas abgeriebene Zitronenschale
1 kleines Gals
Apfelkompott
1 EL
Mandelblättchen
(mehr dazu bei kochbar.de)

Sonntag, 24. Juni 2018

Schöne Wörter

Heute habe ich gelernt, dass es rechtschaffen heißt und nicht rechtschaffend, wie ich bisher dachte. Im Duden heißt es: Wortart: Adjektiv / Gebrauch: veraltend. Ein rechtschaffener Mann, von rechter Art beschaffen, ist anständig, ehrlich, solide und solcherart. Ich kenne so einen. Glücklicherweise.

Es gibt Wörter in die ich mich verliebe, die verwende ich dann für eine gewisse Zeit so oft wie möglich und wie es mit Verliebtheiten ist, manche vergehen, andere wachsen und gedeihen zur Liebe. 


Nur Klang allein kann ein Liebesgrund sein. Onkel, wankelmütig, Pinkel, kunkeln, Senkel - n und k. Onkel war beim Bühnensprechen ein schwieriges Problem für mich, das e zwischen k und l verschwand in den Untiefen meines Berliner Dialekts, nur ein gutturales Onkl erklang. Da habe ich geübt, üben ist nicht übel, um Nähe zu schaffen. Ich hatte mir den Gebrauch erarbeitet, hatte ein Recht auf das Wort.

Einer meiner Lieblingsregisseure verlangte von mir, dass das ä in Fräulein hörbar werden sollte. Das geht, ehrlich. Warum ist das wichtig? Weil wir eine irre Sprache sprechen, wie es alle Sprachen sind, wenn wir sie näher kennenlernen, mit einem Fuß in den Tiefen unserer Vergangenheit, mit einem im banalen Alltag und mit dem unsichtbaren Dritten in der zukünftigen Verständigung. Durch sie, unsere komplizierte Sprache, versuchen wir uns anderen mitzuteilen, an ihr scheitern wir oft.

Tonfolgen wie Larifari, Sammelsurium, Tohuwabohu, Delirium, penetrant, gackern, rumschlampen, brummen, hammerhart, rumpeln, labern, bittersüß, zimperlich, brabbeln, verplempern, O Jemine, Jammerlappen malen in meinem Mund schmeckbare Bilder.  

Übermütig, glückselig, ermüdet. Das ü, im Ungarischen üblich, hat bei uns einen Seltenheitsbonus. Drüber und nüber.

Die mysteriöse Fremdheit von einem Wort wie Gnade läßt mich nicht los. Was genau ist das? Herrschaftsdenken oder Zuwendung?

Schlamassel, Meschpoke, Maseltov habe ich immer schon gebraucht und erst später als Reste des Jiddischen meiner Großmutter erkannt.

Über das Englische habe ich gelernt, das Wort ficken wahrzunehmen. Schade, dass wir in unserer Sprache kein entsprechendes Fluch- / Jubel- / Füllwort haben.

Immerzu, immerzu - Woyzeck, unser Freund, unser gemeinsamer Fremder schreit es heraus.

Ich liebe Dich. Ein simples i in jedem Wort. Drei Worte. Perfekt.  

Respekt ist auch so ein Wort. Schon wegen des Liedes.

https://www.youtube.com/watch?v=6FOUqQt3Kg0

Schöne Wörter Müssen nicht Schönes ausdrücken. Kitsch und Schönheit sind nur Gelegenheitsfreunde.

 
Lobhudelei, liebes Kind, Lebenslust, Langmut. 

Wenn Wörter sich auch noch zu Worten zusammenfinden, mannomann, da kann es zu überwältigend leidenschaftlichen Begegnungen kommen.

Schwächen
Du hattest keine
Ich hatte eine:
Ich liebte


Kein Punkt.