Mittwoch, 15. April 2015

Theater hat auch Brillenträger


Ich war eins dieser süüüßen Kinder mit Schielkorrekturbrille, eine Seite zugeklebt, damals noch ohne lustiges Bildchen auf dem Pflaster. Mit fünf galt ich als geheilt und wurde das monströse Gerät los, wenn ich auch bis heute noch, wenn ich müde bin, ein wenig schiele. Die zweite Klasse und meine Zensuren fielen ins Bodenlose, es stellte sich heraus, dass meine Augen nunmehr entschieden hatten, kurzsichtig zu werden und ich keine blasse Ahnung hatte, was wirklich an der Tafel stand. Also wieder eine Brille, die ich gehaßt und deshalb regelmäßig verloren habe, bis meine Mutter mir ein besonders häßliches Sozialversicherungsmodell überhalf und mich so brutal aber durchschlagend dazu brachte, das verflixte Ding künftighin nicht überall liegen zu lassen. Bis dahin war das Fundbüro in der Torstrasse sozusagen mein zweites Wohnzimmer.

Die Brillengestelle wechselten und ich wurde geschlechtsreif. "Mein letzter Wille - eine mit Brille!" Man stelle sich vor, ich, 13-jährig, dürr, busenlos, aknegeplagt, die Stimme im unteren Baritonbereich und bebrillt - mein erstes Date hieß Bernd, war 1 Meter und neunzig, Brillenträger und wahrscheinlich noch verklemmter als ich.

14 Jahre, Wechsel zur Oberschule, Pubertät, erste Liebe, erste echte Jeans und meine kleine Schwester schwatzte wunderbarerweise einem Optiker für zehn Mark ihres mühselig ersparten Taschengeldes eine Nickelbrille aus den Rippen. Ich wurde ein anderer Mensch. Die Pickel verschwanden. Nur die Stimme blieb in den unteren Regionen.

Ich wurde Zwanzig und hatte mein erstes Vorsprechen bei Alexander Lang am Deutschen Theater; aber Johanna traute sich nicht, woraufhin Herr Lang verlangte das die Brille abgenommen wird. Halbblind war ich furchtlos, weil ich, orientierungslos und hilflos, keine Energie mehr übrig hatte, mich zu verstecken.

Ein DEFA-Film, einige Jahre später, ich spiele eine unglücklich verliebte Frau, die einen letzten heroischen Versuch unternimmt den Geliebten zu gewinnen, sie macht sich nackt. Ich sollte mich ausziehen. Stop. Ausziehen? Langweilig. Aber die Brille absetzen, das macht wehrlos. Der Regisseur, Lothar Warnecke, hat es gekauft. Es stimmte.

Wir Brillenträger sind mittlerweile eine aussterbende Gruppe. Ich gehöre nur deshalb noch dazu, weil meine Experimente mit Kontaktlinsen allesamt in blutroten tränentriefenden Augen oder anderen Katastrophen endeten, zum Beispiel habe ich einmal einen längeren Monolog nach hinten, vom Publikum weggewendet sprechen müssen, weil sich die Linse hinter meinen Augapfel geschoben hatte, so wahrhaft verzweifelt habe ich sicher nie wieder geklungen. 
 
Andere Kollegen waren da weit cooler, Dagmar Manzel hat in einer riesigen Tirade, ohne zu stocken, ihre Linse auf dem Bühnenboden ertastet, durch Spucke gereinigt und mit einer höchst eleganten Geste wieder eingesetzt. Allerdings hat sie auch eine große Gruppe von Darstellern im "Kaufmann von Venedig" dazu gezwungen, sich wie eine Volkstanzgruppe im Rundtanz zu bewegen. Dagmar, als Portia, hatte ihre Linsen vergessen und spielte also blind, aber bestimmt ihre Anklagerede gegen Shylock in die von ihr vermutete Richtung des Dogen von Venedig. Ihre Vermutung war allerdings falsch. Der Doge bewegte sich unmerklich auf ihre Position, aber Dagmar bestand auf ihren verschwommenen Ansprechpartner und bewegte sich ebenfalls. Der Doge rückte nach und Dagmar auch, und und und...

Der Weichzeichner, den eine Kurzsichtigkeit dem Brillenlosen bietet hat auch ungeahnte Vorteile, ich sehe zwar wenig, aber ich höre alles! Kollegen erscheinen faltenfrei und überirdisch schön. Blöde Grimassen lassen mich kalt, aber wehe einer verspricht sich!
Alles hören, heißt über alles lachen müssen, aber nicht lachen dürfen.

Und weil ich sowieso Schwierigkeiten mit dem Wechsel von Hellig- und Dunkelheit habe, meine Zusammenstöße mit Seitenwänden auf der Suche nach dem Abgang waren häufig und schmerzhaft, habe ich eine korrektive Operation, die möglicherweise Blendungsprobleme nach sich ziehen könnte, nie ernsthaft in Erwägung gezogen.

Ernst Busch mußte im Kaukasischen Kreidekreis die folgenden Worte ohne Lachkrampf sprechen, nachdem die Brille eines Beleuchters gerade von seinem Nasenrücken auf der Beleuchtungsbrücke direkten Weges auf die Bühne gefallen war.

O Blindheit der Großen! Sie wandeln wie Ewige
Groß auf gebeugten Nacken, sicher
Der gemieteten Fäuste, vertrauend
Der Gewalt, die so lang schon
gedauert hat.
Aber lang ist nicht ewig.
O Wechsel der Zeiten! Du Hoffnung des Volks!

Sonntag, 12. April 2015

Stalinismus, Analphabetismus und Sex


SERGEJ MERKUROW
1881 - 1952


Der Bildhauer Sergej Merkurow, armenisch-griechischer Abstammung, 
Direktor des Puschkins Museums in Moskau von 1944 bis 1949, 
Mitglied der KPdSU und der Freimaurerloge der "Vereinten Arbeiter-Brüderschaft", Schüler von Auguste Rodin und Erschaffer der drei 
größten Stalindenkmäler in der UdSSR. Er war auch berühmt für die 
Qualität seiner Totenmasken, und nahm die Gipsabdrücke vieler 
berühmter toter Russen ab, zum Beispiel: Leo Tolstoi, Wladimir Lenin 
und seiner Frau, Maxim Gorky & Wladimir Majakowsky.

Srgej Merkurows Moskauer Stalinstatue mit abgeschlagener Nase.

In Dörfern und in Städten, in Tälern und auf den Bergen,
wo frei über Gipfel der Adler sich schwingt,
von Stalin, dem weisen, dem eignen, geliebten,
ein herrliches Lied voll Begeist’rung erklingt.


Text: M. Injuschkin / Musik: A.W. Alexandrow 


Im Zuge einer Kampagne zur Alphabetisierung der sowjetischen Bevölkerung gestaltete er ein "erotisches" Alphabet:



Venus und Stalin

von Peter Hacks

Sie, ihre Füße badend, trägt kein Kleid,
Das zu durchnässen sie vermeiden müßte.
Sie zeigt dem All in Sommerheiterkeit
Den Hintern und die weltberühmten Brüste.

Er, nebst noch einer Schreibkraft, prüft, erwägt,
Am Saum des Quellbachs hingestreckt, Berichte.
Damit sie Zephir nicht von dannen trägt,
Benutzt er Kieselsteine als Gewichte.

Gelegentlich läßt er das Auge ruhn,
Das väterliche, auf den prallen Lenden
Der Göttin, die versunken in ihr Tun,
Ein Bein gewinkelt hebt mit beiden Händen.

Ein milder Glanz geht, eine stille Pracht
Unwiderstehlich aus von diesem Paar.
Die Liebe und die Sowjetmacht
Sind nur mitsammen darstellbar.




Aus: MERKUROV SERGEI DMITRIEVICH. 
First Edition Moscow-Leningrad: Iskusstvo, 1944



Postkarten: PAVILION der UdSSR 1939 in New York Weltausstellung



Samstag, 11. April 2015

Rehberge - Frühsommer in Berlin 1





Volkspark Rehberge Mitte April, zwanzig Grad, blauer Himmel,
siehe Hintergrundsfarbe, die Knospen, die im wunderschönen Monat knallen 
werden, sind schon ganz prall, lauter ganz unterschiedliche kleine Blumen liegen, wie zufällig verstreut auf den Wiesen herum. Die Rinde der Buchen hat, 
das habe ich erst heute bemerkt, eine ganz wunderbare Farbe.
Steingrau.



Ich bin nun wahrhaft kein Spaziergänger, aber erstens hat die
Lungenärztin einer Freundin, anstatt die Nichtraucher-Moralkeule
zu schwingen, einfach angesagt, dass wer raucht dann eben 10 000
Schritte täglich laufen sollte, (Schrittzähler wurde erworben!) und 
außerdem teile ich den kindischen Überschwang, der Berliner ergreift,
wenn das Wetter auch nur andeutungsweise schön wird. Und da ich
keine Kniestrümpfe mehr trage, muß ich dann halt rausgehen, Kaffee
trinken und, konterproduktiv aber herrlich, rauchen - im Freien.

Den Volkspark kannte ich gar nicht, zu weit von meinem Kiez, aber
er ist sehr schön, weitläufig, sauber aber unordentlich und voll mit
Berlinern. Was ich heute an Berlinerisch gehört habe! Das echte,
unangestrengte, gesprochen von älteren Herrschaften, die sich sicher 
schon seit Jahrzehnten im Lokal "Schatulle" zum nachmittäglichen 
Kaffee, respektive Bier und Schnäpperken treffen, gehüllt in die
Uniform des deutschen Rentners von pastellfarbener Windjacke und
Marga Scholls Gesundheitsschuhen. In Rehberge wird nicht gejoggt,
sondern geschlendert (Zitat meiner Freundin, die viel im Tiergarten 
unterwegs ist), die Hunde sind Mischlinge und beim Picknick wird Cola
getrunken. Man ist halt im Wedding und der Plötzensee ist nicht weit
mit Freibad und JVA und ehemaligem Zuchthaus.


Wie schön du bist

Du hast ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin
Du hast ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin.

In vielen andern Städten
Zieht über uns man her.
Man sagt, dass wir zu kess sind.
Das ist nur Neid - - nichts mehr.

Ein richtiger Berliner
Der macht sich nie was vor.
Sogar wenn alles schief geht,
Behält er den Humor.

Er hat das Herz am rechten Fleck.
Das nimmt ihm keiner weg.

Wer unsere schönen Strassen
Des Nachts noch nicht gesehn,
Benzin erfüllt die Nasen,
Der bleibt bewundernd stehn.
Wer nicht die kleinen Mädchen
Sah flott vorüberziehn,
Der hat ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin.
Der hat ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin. 

Jean Gilbert Text
Alfred Schönfeld Melodie 






Ringergruppe
Bildhauer Wilhelm Haverkamp 1906

Und das gibts auch!



Donnerstag, 9. April 2015

Soldat sieht den Krieg kommen - Chaval


Chaval, bürgerlich Yvan Le Louarn, geboren am 10. Februar 1915 in Bordeaux; gestorben am 22. Januar 1968 durch Suizid in Paris, war ein französischer Karikaturist und Cartoonist. (Wiki)

Seine letzte Notiz für die, die ihn tot auffinden würden, war " Gebt auf das Gas acht."

Während der Vichy-Regierungszeit hat er kollaboriert, nicht heftig, aber doch.

Mein Lieblingscartoon ist nirgendwo zu finden: ein Einhorn, weit entfernt und sehr klein auf Wellen die Arche Noah, der Untertitel: Warum es keine mehr gibt.






Mittwoch, 8. April 2015

Mein März und April in kulturellen Schnipseln


Christopher Marlowe - Doktor Faustus in der neue Übersetzung von Rainer Iwersen - (ein wahrhaft Gelehrter im ursprünglichen Sinn des Wortes) - ein neues aufregendes Projekt - ein neuer aufregender, mir bisher, unbekannter Autor - hochbegabt und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen - war er ein katholischer Spion? - Shakespeares Zeitgenosse erstochen in einer Kneipenschlägerei oder ermordet aus tagespolitischem Kalkül - ein Stück schwingend zwischen genialisch herzbrechender Frechheit und hingerotzten Szenen, denen Marlowe sich, vielleicht nur aus Fauheit, nicht länger widmen wollte - unser deutscher Faust aus derselben Quelle gespeist, Goethes lebenslängliches Martyrium, seiner, er hatte nur 29 Jahre, ein wutschnaubender Aufschrei gegen die Unfassbarkeit des Sterbenmüssens.

Mein Gott, mein Gott, sieh nicht so streng auf mich!
Nattern und Schlangen, lasst mich noch ein Weilchen atmen!
Grässliche Hölle, klaff nicht! Komm nicht, Luzifer!
Ich will meine Bücher verbrennen! Ah, Mephistopheles!


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Peter Hacks - Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe - ein witziger, intelligenter, böser Text, geschrieben von einem selbstgewissen, gnadenlosen Stalinisten der übelsten Sorte, abgeschottet in seinem neoklassizistischen Schloß lebend, verurteilte er bösartigst & wohlfein formuliert den endlich unvermeidbaren Zusammenbruch des grässlich verunstalteten Sozialismus.
O mein Gott, warum ist nur alles für uns alle so sehr viel zu schwer?
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Masters Of Sex - amerikanische Fernsehserie von Showtime - mit Lizzy Caplan & Michael Sheen bzw. Virginia E. Johnson & William Howell Masters - schon die bloße Vorstellung das ARD/ZDF/RTL/SAT1... eine Serie über die Arbeit zweier Sexualwissenschaftler, die in den 60er und 70er Jahren, die ersten ernsthaften Untersuchungen über das Sexualverhalten des Menschen starten, überhaupt in Erwägung zögen, wäre idiotisch - aber, dass sie auch noch so viel Sorgfalt auf Dialoge, zeitgemäße Details und psychologische Glaubwürdigkeit und Widersprüchlichkeit der Figuren verwendeten, wäre außerhalb aller möglichen Erwartungen.
Ich habe eines Abends um halb 9 den ersten Teil gesehen und, obwohl ich morgens um 7 nach Bremen los mußte, eine ganze Staffel durchgeguckt. Sowas passiert mir selten.

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The Americans - Fernsehserie - mit Keri Russell & Matthew Rhys - Schläfer sind Agenten, die, unerkennbar, weil perfekt angepasst, unter uns leben und für eine "feindliche Macht" spionieren - eine Prämisse, die es zulässt, das gewöhnliche Leben in der Lüge zu betrachten, welcher Art die Lüge ist, sei dahingestellt und ist auch eigentlich unwesentlich.

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ZERO - eine Ausstellung im Gropius Bau - sie beginnen ganz neu, von vorn - 12 Jahre nationalsozialistisch geprüfter "Kunst" lasten auf den Menschen, die restaurativen Kräfte, der Adenauer Ära verschmieren den unkittbaren Riss in der Zeit, einige junge Künstler versuchen ohne Stützen, ohne Tradition, ohne Sicherheiten, von vorn zu beginnen, die Stunde Null - ZERO.


Wiki sagt: ZERO war eine Düsseldorfer Künstlergruppe, die am 24. April 1958 von Heinz Mack und Otto Piene offiziell gegründet wurde. Im Jahr 1961 kam Günther Uecker hinzu. Mack und Piene sahen die Nachkriegskunst „mit einem Übermaß an Ballast befrachtet“. Die Künstler suchten einen neuen Anfang, eine „Stunde Null“, die von der Vergangenheit unbelastet sein sollte.


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Shame  - ein Film von 2011
Steve McQueen Michael Fassbender Carey Mulligan

Ein Mann braucht Sex, egal mit wem, auch allein, er sucht - Was sucht er? - Nähe oder Distanz? - Wie nah kann ich jemandem kommen, ohne ihn je an mich heran zu lassen? - Wie kann ich meine Einsamkeit durch möglichst viele Orgasmen zementieren? - Sex als Mittel um den Anderen fern zu halten. Wie traurig.
Auf iTunes kann man für 4 Euro Filme leihen. Für Freaks wie mich ist das günstig.

Dies ist ein großer Akt des Filmemachens. Ich glaube nicht, dass ich ihn ein zweites Mal ansehen könnte.
This is a great act of filmmaking and acting. I don't believe I would be able to see it twice. Roger Ebert

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Auction of souls - ein dokumentarischer Theaterabend im Maxim Gorki Theater

Das gibt es sonst nicht: Eine Intendantin steht auf der Bühne und spricht von Widerstand, redet davon, wofür dieses Theater kämpfe, ohne Wenn und Aber, ohne jede Einschränkung: für die offizielle Anerkennung des Völkermords an den Armeniern. Ja, dergleichen gibt es nur am Gorki: Shermin Langhoff, die Intendantin, erhebt ihr Theater zum Tempel des Widerstands.
Berliner Zeitung vom 8.April 2015
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/vierzig-tage-widerstand-das-gorki-theater-erinnert-an-den-voelkermord-in-armenien,10809150,30065608.html 
 
Unter dem Titel "Es schneit im April" widmet sich das Maxim Gorki Theater einen Monat lang einer international vereinbarten Lüge. In der BRD ist es bis heute offiziell unerlaubt den Mord an zwei Millionen Armeniern, als Völkermord zu bezeichnen. Ein Faktum. Eine Lüge, die wir alle mittragen.

Im Jahr 1918 löste Ravished Armenia, der Augenzeugenbericht der damals 18jährigen Aurora Mardiganian, die schonungslos ihren Leidensweg durch die Massaker des Völkermords an den Armeniern beschrieb, eine Welle der Betroffenheit aus. Von der Verfilmung, die 1919 mit Aurora in der Hauptrolle entstand, sind heute sind nur wenige Szenen und das Skript erhalten. Die Kopien verschwanden wie die Erinnerung an Aurora, die 92-jährig völlig verarmt und vergessen in Los Angeles starb. Arsinée Khanjian rekonstruiert die Geschichte eines verzweifelten Versuchs, das Unbeschreibbare zu erzählen und verbindet die Geschichte von Aurora Mardiganian mit Berichten anderer Überlebender.

GESCHÄNDETES ARMENIEN / RAVISHED ARMENIA der originale Holywood Film von 1919 auch unter dem Namen: Auction of Souls


https://www.youtube.com/watch?v=uTnCaW-Uo_s 

 Der kleine und der große Berg Arararat, der Berg auf dem Noahs Arche landete.
Auch wenn der Ararat heute in der Türkei liegt, ist er das Nationalsymbol der Armenier, 
die bis zum Völkermord an den Armeniern 1915 größtenteils in den sechs armenischen Ostprovinzen im Osmanischen Reich ihren Siedlungsraum rund um den Ararat hatten. 
So sagt Wiki. 
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Peter Hamilton Science-Fiction Autor -
Space opera, ein merkwürdiger Begriff, Hamilton gilt als Wiedererwecker dieses Genres. Vor dem Einschlafen gibt es nichts besseres.


Dienstag, 7. April 2015

Hugo von Hofmannsthal - Ein Brief



Euer Brief
Ist uns süße Rhetorik, ein Zwiegespräch unter Toten, ein Trost
Durs Grünbein in seinem Antwort-Fax an Lord Chandos

Hugo von Hofmannsthal 1902


EIN BRIEF

Brief des Lord Chandos an Francis Bacon

Dies ist der Brief, den Philip Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans, schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen.

Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt haben.
Sie schließen mit dem Aphorisma des Hippokrates: »Qui gravi morbo correpti dolores non sentiunt, iis mens aegrotat« * und meinen, ich bedürfe der Medizin nicht nur, um mein Übel zu bändigen, sondern noch mehr, um meinen Sinn für den Zustand meines Innern zu schärfen. Ich möchte Ihnen so antworten, wie Sie es um mich verdienen, möchte mich Ihnen ganz aufschließen, und weiß nicht, wie ich mich dazu nehmen soll. Kaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin, an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich's, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen »neuen Paris«, jenen »Traum der Daphne«, jenes »Epithalamium« hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspiele, deren eine himmlische Königin und einige allzu nachsichtige Lords und Herren sich noch zu entsinnen gnädig genug sind?

Und bin ich's wiederum, der mit dreiundzwanzig unter den steinernen Lauben des großen Platzes von Venedig in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand, dessen geistiger Grundriß und Aufbau ihn im Innern mehr entzückte als die aus dem Meer auftauchenden Bauten des Palladio und Sansovin? Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Inneren verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Mal vors Auge?
Allein ich bin es ja doch, und es ist Rhetorik in diesen Fragen, Rhetorik, die gut ist für Frauen oder für das Haus der Gemeinen, deren von unsrer Zeit so überschätzte Machtmittel aber nicht hinreichen, ins Innere der Dinge zu dringen.

Mein Innres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.

Ich weiß nicht, ob ich mehr die Eindringlichkeit Ihres Wohlwollens oder die unglaubliche Schärfe Ihres Gedächtnisses bewundern soll, wenn Sie mir die verschiedenen kleinen Pläne wieder hervorrufen, mit denen ich mich in den gemeinsamen Tagen schöner Begeisterung trug. Wirklich, ich wollte die ersten Regierungsjahre unseres verstorbenen glorreichen Souveräns, des achten Heinrich, darstellen!
Die hinterlassenen Aufzeichnungen meines Großvaters, des Herzogs von Exeter, über seine Negoziationen mit Frankreich und Portugal gaben mir eine Art von Grundlage. Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen wahren inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.
Was ist der Mensch, daß er Pläne macht!

Ich spielte auch mit anderen Plänen. Ihr gütiger Brief läßt auch diese heraufschweben. Jedweder vollgesogen mit einem Tropfen meines Blutes, tanzen sie vor mir wie traurige Mücken an einer düsteren Mauer, auf der nicht mehr die grelle Sonne der glücklichen Tage liegt.
Ich wollte die Fabeln und mythischen Erzählungen, welche die Alten uns hinterlassen haben, und an denen die Maler und Bildhauer ein endloses und gedankenloses Gefallen finden, aufschließen als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, deren Anhauch ich manchmal, wie hinter einem Schleier zu spüren meinte.
Ich entsinne mich dieses Planes. Es lag ihm ich weiß nicht welche sinnliche und geistige Lust zugrunde: wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, sehnte ich mich hinein in diese nackten glänzenden Leiber, in diese Sirenen und Dryaden, diesen Narcissus und Proteus, Perseus und Actäon: verschwinden wollte ich in ihnen, und aus ihnen heraus mit Zungen reden. Ich wollte. Ich wollte noch vielerlei. Ich gedachte eine Sammlung »Apophthegmata« anzulegen, wie deren eine Julius Caesar verfaßt hat: Sie erinnern die Erwähnung in einem Brief des Cicero.
Hier gedachte ich die merkwürdigsten Aussprüche nebeneinander zu setzen, welche mir im Verkehr mit den gelehrten Männern und den geistreichen Frauen unserer Zeit, oder mit besonderen Leuten aus dem Volk, oder mit gebildeten und ausgezeichneten Personen auf meinen Reisen zu sammeln gelungen wäre; damit wollte ich schöne Sentenzen und Reflexionen aus den Werken der Alten und der Italiener vereinigen und was mir sonst an geistigem Zierathen in Büchern, Handschriften oder Gesprächen entgegenträte; ferner die Anordnung besonders schöner Feste und Aufzüge, merkwürdige Verbrechen und Fälle von Raserei, die Beschreibung der größten und eigentümlichsten Bauwerke in den Niederlanden, in Frankreich und Italien und noch vieles andere. Das ganze Werk aber sollte den Titel 'Nosce te ipsum' * * führen.

Um mich kurz zu fassen: Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußersten Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; in den Tölpelhaftigkeiten junger Bauern nicht minder als in den süßesten Allegorien; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen sanftäugigen Kuh aus dem strotzenden Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.
Das eine war wie das andere; keines gab dem andern weder an traumhafter überirdischer Natur, noch an leiblicher Gewalt nach, und so gings fort durch die ganze Breite des Lebens, rechter und linker Hand; überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: Oder es ahnte mir, alles wäre Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der anderen, und ich fühlte mich wohl den, der im Stande wäre, eine nach der andern bei der Krone zu packen und mit ihr so viele der andern aufzusperren, als sie aufsperren könnte. Soweit erklärt sich der Titel, den ich jenem enzyklopädischen Buch zu geben gedachte.

Es möchte dem, der solchen Gesinnungen zugänglich ist, als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, daß mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmuth und Kraftlosigkeit zusammensinken mußte, welches nun die bleibende Verfassung meines Inneren ist. Aber dergleichen religiöse Auffassungen haben keine Kraft über mich; sie gehören zu den Spinnennetzen, durch welche meine Gedanken durchschießen, hinaus ins Leere, während so viele ihrer Gefährten dort hangen bleiben und zu einer Ruhe kommen. Mir haben sich die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, immer bereit, zurückzuweichen, wenn ich mir einfallen ließe, hinzueilen und mich in den Saum meines Mantels hüllen zu wollen.

Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen?
Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
 
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.
 
Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Catarina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte.
 
Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen.
 
Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist am Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.
 
Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.
 
Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.
 
Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, ja gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn, meiner Verwandten und der meisten landbesitzenden Edelleute dieses Königreiches kaum unterscheidet, und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Leben wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet.
 
Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Kläglichkeit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.
Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, der die unbegreifliche Auserwählung zu Theil wird, mit jener sanft oder jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden. So hatte ich unlängst den Auftrag gegeben, den Ratten in den Milchkellern eines meiner Meierhöfe ausgiebig Gift zu streuen. Ich ritt gegen Abend aus und dachte, wie Sie vermuten können, nicht weiter an diese Sache. Da, wie ich im tiefen aufgeworfenen Ackerboden Schritt reite, nichts Schlimmeres in meiner Nähe als eine aufgescheuchte Wachtelbrut und in der Ferne über den welligen Feldern die große sinkende Sonne, tut sich mir im Innern plötzlich dieser Keller auf, erfüllt mit dem Todeskampf dieses Volks von Ratten.
Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des Giftes angefüllte kühl-dumpfe Kellerluft und das Gellen der Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen; diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander hinjagenden Verzweiflungen; das wahnwitzige Suchen der Ausgänge; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe!
 
Sie entsinnen sich, mein Freund, der wundervollen Schilderung von den Stunden, die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius? Wie sie die Straßen durchirren, die sie nicht mehr sehen sollen ... wie sie von den Steinen des Bodens Abschied nehmen ... Ich sage Ihnen, mein Freund, dieses trug ich in mir und das brennende Karthago zugleich; aber es war mehr, es war göttlicher, tierischer; und es war Gegenwart, die vollste erhabenste Gegenwart.
 
Da war eine Mutter, die ihre sterbenden Jungen um sich zucken hatte und nicht auf die Verendenden, nicht auf die unerbittlichen steinernen Mauern, sondern in die leere Luft, oder durch die Luft ins Unendliche hin Blicke schickte, und diese Blicke mit einem Knirschen begleitete! - wenn ein dienender Sklave voll ohnmächtigen Schauders in der Nähe der erstarrenden Niobe stand, der muß das durchgemacht haben, was ich durchmachte, als in mir die Seele dieses Tieres gegen das ungeheure Verhängnis die Zähne bleckte.
 
Vergeben Sie mir diese Schilderung, aber denken Sie nicht, daß es Mitleid war, was mich erfüllte. Das dürfen Sie ja nicht denken, sonst hätte ich mein Beispiel ungeschickt gewählt. Es war viel mehr und viel weniger als Mitleid: ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist - von woher? Denn was hätte es mit Mitleid zu tun, was mit begreiflicher menschlicher Gedankenverknüpfung, wenn ich an einem anderen Abend unter einem Nußbaum eine halbvolle Gießkanne finde, die ein Gärtnerbursche dort vergessen hat, und wenn mich diese Gießkanne und das Wasser in ihr, das vom Schatten des Baumes finster ist, und ein Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum andern rudert, wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen, und daß ich dann von jener Stelle schweigend mich wegkehre, und nun nach Wochen, wenn ich dieses Nußbaums ansichtig werde, mit scheuem seitlichen Blick daran vorübergehe, weil ich das Nachgefühl des Wundervollen, das dort um den Stamm weht, nicht verscheuchen will, nicht vertreiben die mehr als irdischen Schauer, die um das Buschwerk in jener Nähe immer noch nachwogen.
 
In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr als die schönste hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.
Es erscheint mir alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinander spielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte.
Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Eingeweide oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte.
 
Von diesen sonderbaren Zufällen abgesehen, von denen ich übrigens kaum weiß, ob ich sie dem Geist oder dem Körper zurechnen soll, lebe ich ein Leben von kaum glaublicher innerer Leere und habe Mühe, die Starre meines Innern vor meiner Frau und vor meinen Leuten die Gleichgültigkeit zu verbergen, welche mir die Angelegenheiten des Besitzes einflößen. Die gute und strenge Erziehung, welche ich meinem seligen Vater verdanke, und die frühzeitige Gewöhnung, keine Stunde des Tages unausgefüllt zu lassen, sind es, scheint mir, allein, welche meinem Leben nach außen hin einen genügenden Halt und den meinem Stande und meiner Person angemessenen Anschein bewahren.
Ich baue einen Flügel meines Hauses um und bringe es zustande, mich mit dem Architekten hie und da über die Fortschritte seiner Arbeit zu unterhalten; ich bewirtschafte meine Güter, und meine Pächter und Beamten werden mich wohl etwas wortkarger, aber nicht ungütiger als früher finden. Keiner von ihnen, der mit abgezogener Mütze vor seiner Haustür steht, wenn ich abends vorüberreite, wird eine Ahnung haben, daß mein Blick, den er respektvoll aufzufangen gewohnt ist, mit stiller Sehnsucht über die morschen Bretter hinstreicht, unter denen er nach Regenwürmern zum Angeln zu suchen pflegt, durchs enge vergitterte Fenster in die dumpfe Stube taucht, wo in der Ecke das niedrige Bett mit bunten Laken immer auf einen zu warten scheint, der sterben will, oder auf einen, der geboren werden soll; daß mein Auge lange an den häßlichen jungen Hunden hängt oder an der Katze, die geschmeidig zwischen Blumenscherben durchkriecht, und daß es unter allen den ärmlichen und plumpen Gegenständen einer bäurischen Lebensweise nach jenem einen sucht, dessen unscheinbare Form, dessen von niemand beachtetes Daliegen oder -lehnen, dessen stumme Wesenheit zur Quelle jenes rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens werden kann.
 
Denn mein unbenanntes seliges Gefühl wird eher aus einem fernen einsamen Hirtenfeuer mir hervorbrechen als aus dem Anblick des gestirnten Himmels; eher aus dem Zirpen einer letzten, dem Tode nahen Grille, wenn schon der Herbstwind winterliche Wolken über die öden Felder hintreibt, als aus dem majestätischen Dröhnen der Orgel. Und ich vergleiche mich manchmal in Gedanken mit jenem Crassus, dem Redner, von dem berichtet wird, daß er eine zahme Muräne, einen dumpfen, rotäugigen, stummen Fisch seines Zierteiches, so über alle Maßen lieb gewann, daß es zum Stadtgespräch wurde; und als ihm einmal im Senat Domitius vorwarf, er habe über den Tod dieses Fisches Tränen vergossen, und ihn dadurch als einen halben Narren hinstellen wollte, gab ihm Crassus zur Antwort: »So habe ich beim Tod meines Fisches getan, was Ihr weder bei Eurer ersten noch Eurer zweiten Frau Tod getan habt.«
Ich weiß nicht wie oft mir dieser Crassus mit seiner Muräne als ein Spiegelbild meiner Selbst, über den Abgrund der Jahrhunderte hergeworfen, in den Sinn kommt. Nicht aber wegen dieser Antwort, die er dem Domitius gab. Die Antwort brachte die Lacher auf seine Seite, so daß die Sache in einen Witz aufgelöst war. Mir aber geht die Sache nahe, die Sache, welche dieselbe geblieben wäre, auch wenn Domitius um seine Frauen blutige Tränen des aufrichtigsten Schmerzes geweint hätte. Dann stünde ihm noch immer Crassus gegenüber, mit seinen Tränen um die Muräne.
Und über diese Figur, deren Lächerlichkeit und Verächtlichkeit mitten in einem die erhabensten Dinge beratenden, weltbeherrschenden Senat so ganz ins Auge springt, über diese Figur zwingt mich ein unnennbares Etwas, in einer Weise zu denken, die mir vollkommen töricht erscheint, im Augenblick, wo ich versuche, sie in Worten auszudrücken.
 
Das Bild dieses Crassus ist zuweilen nachts in meinem Hirn, wie ein eingeschlagener Nagel, um den herum alles schwärt, pulst und kocht. Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Worte der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber, und in den tiefsten Schoß des Friedens.
 
Ich habe Sie, mein verehrter Freund, mit dieser ausgebreiteten Schilderung eines unerklärlichen Zustandes, der gewöhnlich in mir verschlossen bleibt, über Gebühr belästigt.
Sie waren so gütig, Ihre Unzufriedenheit darüber zu äußern, daß kein von mir verfaßtes Buch mehr zu Ihnen kommt, »Sie für das Entbehren meines Umgangs zu entschädigen«. Ich fühlte in diesem Augenblick mit einer Bestimmtheit, die nicht ganz ohne ein schmerzliches Beigefühl war, daß ich auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund, dessen mir peinliche Seltsamkeit mit ungeblendetem Blick dem vor Ihnen harmonisch ausgebreiteten Reiche der geistigen und leiblichen Erscheinungen an seiner Stelle einzuordnen ich Ihrer unendlichen geistigen Überlegenheit überlasse: nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische, noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.
 
Ich wollte, es wäre mir gegeben, in die letzten Worte dieses voraussichtlich letzten Briefes, den ich an Francis Bacon schreibe, alle die Liebe und Dankbarkeit, alle die ungemessene Bewunderung zusammenzupressen, die ich für den größten Wohltäter meines Geistes, für den ersten Engländer meiner Zeit im Herzen hege und darin hegen werde, bis der Tod es bersten macht.


A.D. 1603, diesen 22ten August.

* Qui gravi morbo correpti dolores non sentiunt, iis mens aegrotat.
Diejenigen, die (= qui) von einer schweren Krankheit erfasst die Schmerzen nicht fühlen/spüren,
denen ist der Geist krank ~ die haben einen Kranken Geist

* * Nosce te ipsum.
Erkenne dich selbst.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ein-brief-und-ein-fax-1119564.html 

Heiner Müller
Ajax zum Beispiel


...
Ich Dinosaurier nicht von Spielberg sitze
Nachdenkend über die Möglichkeit
Eine Tragödie zu schreiben Heilige Einfalt
Im Hotel in Berlin unwirklicher Hauptstadt
Mein Blick aus dem Fenster fällt
Auf den Mercedesstern
Der sich im Nachthimmel dreht melancholisch
Über dem Zahngold von Auschwitz und andere Filialen
Der Deutschen Bank auf dem Europacenter
Europa Der Stier ist geschlachtet das Fleisch
Fault auf der Zunge der Fortschritt läßt keine Kuh aus

... 

oder

ALLEIN MIT DIESEN LEIBERN
Staaten Utopien
Gras wächst
Auf den Gleisen
Die Wörter verfaulen
Auf dem Papier
Die Augen der Frauen
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Abschied von morgen
STATUS QUO



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