Montag, 30. März 2015

Zum Probenbeginn eines Stückes über Goethe und die Frau von Stein



Manchmal findet man politisch - literarische Grässlichkeiten, die man nicht glauben möchte, aber die doch existieren.

Alle abscheulichen Stücke schrieb Heiner Müller bereits, alle erhabenen ich. Peter Hacks

Das Vaterland

So wie das Einhorn vor den Geistern allen
Hervorsticht durch Empfindsamkeit und Wissen,
Wie der Demant vor minderen Kristallen,
Der Kaviar vor sonstigen Leckerbissen,
So wie der Panther vor den Waldnaturen
Und Greta Garbo vor den andern Huren, 


So stach einmal mein liebes Vaterland
Unter den Reichen dieser Welt hervor.
Das Land, wo keiner darbte, keiner fror.
Das Land, wo jeder Dach und Arbeit fand.
Wie lob ich es? Wie enden, wie beginnen?
Ich sage, es war ganz und gar bei Sinnen.


Wer reifen wollte, war befugt zu hoffen.
Die Seelen nahmen Form an und die Leiber.
Dem Ärmsten stand die höchste Stelle offen.
Was Männer durften, durften auch die Weiber.
Und weder Aberglauben, weder Schulden
Fand sich sein stolzes Herz bereit zu dulden.


Und keine Krankheit, wenn sie heilbar war,
Blieb von der Kunst der Ärzte ungeheilt.
Und kein Verdruß, sofern er teilbar war,
Ward redlich nicht von Fürst und Volk geteilt.
Kein Eigentümer konnte uns befehlen,
Zu seinem Vorteil selbst uns zu bestehlen.


Wie aufgeklärt hier alles. Wie durchheitert.
Wie voller Frische, voller Ahnungen.
Ins Morgen ward die Gegenwart erweitert
Des Vaterlands durch seine Planungen.
Es ist ein Hochgenuß, von ihm zu sprechen.
Es war ein Staat und scheute das Verbrechen.


Wer kann die Pyramiden überstrahlen?
Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower?
Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen
Der Erdenwunder schönstes war die Mauer.
Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren.
Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.


Das war das Land, in dem ich nicht geboren,
Das Land, in dem ich nicht erzogen bin.
Das ich mir frei zum Vaterland erkoren,
Daß bis zum Grab ich atmete darin.
Das mit dem Grab hat sich nun auch zerschlagen.
Doch war das Glück mit meinen Mannestagen.


In dieser Hundewelt geht vieles ohne
Ideen, aber nichts ohne Spione.
Schuld, daß ich alles deutlich offenbare,
Schuld trug das KGB. Wohl zwanzig Jahre
Hat insgeheim mit Langley oder Harvard
Es über unsern Untergang palavert.


Die Sowjetmacht, sie schenkte uns das Leben.
Sie hat uns auch den Todesstoß gegeben.
Nur täuscht euch nicht. Rußland und wir, wir beiden,
Sind niemals, auch nicht durch Verrat, zu scheiden.
So viel für jetzt. So viel zum künftig schwierigen
Verhältnis zwischen Preußen und Sibirien.


Fremd ist die Sonne, die mir heute leuchtet.
Und bloß im sich versenkenden Gemüte
Seh ich die Landschaft, die hier vormals blühte.
Nicht immer bleibt mein Auge unbefeuchtet.
Man weint um Hellas. Sonst geschieht es selten,
Daß einer Staatseinrichtung Tränen gelten.


Und derer laßt mich denken, die es schufen,
Das Vaterland, ihm Hirn und Willen liehen,
Es kräftigend zu menschlichsten Behufen.
Kaum einer ist mehr. Laßt mich nicht verziehen,
Als Greis dem Sterbenden mich mitzuteilen.
 

Für Alfred Neumann schrieb ich diese Zeilen. 

Peter Hacks  

Nachdruck/Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers. 
© Eulenspiegel Verlag, Berlin

http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Neumann_%28Minister%29 


Samstag, 28. März 2015

Leigh Bowery 1 - Lucian Freuds Muse


LEIGH BOWERY 
1961 - 1994
1

Ich will, dass Farbe Fleisch wird.
Lukian Freud

Wir beginnen mit seinem nackten Körper, Leigh Bowery, Meister der Ganzkörpermaskierung, 
Künstler und eigenes Kunstobjekt zugleich, Mensch, Mann & Frau & Lebewesen, gemalt
von Lukian Freud. Ein Körper als Landschaft. Fleisch als Heimat und Biographie.

Bowery war ein Hüne, fast 2 Meter groß und in guten Zeiten weit über 100 Kilogramm schwer.

Von 1990 bis zu seinem Tod 1994 stellte sich Bowery "pünktlich, ausdauernd und nachtaktiv", 
wie Freud es bezeichnete, dem Maler unzählige Male als Modell zur Verfügung.


Leigh Bowery Rückenansicht
1993 Purchase, Lila Acheson Wallace Gift

Leigh Bowery mit einem Bein oben
1992 Hirshhorn Museum, Smithsonian Institution, Washington


Leigh Bowery 1991 
©The Lucian Freud Archive/Bridgeman Images


Lucian Freud and Leigh Bowery imitieren die Posen von Künstler & Modell 
in Gustave Courbets ‘Das Atelier des Malers’ 1855. 
Photographie Bruce Bernard
1992 © Estate of Bruce Bernard (Virginia Verran)

 Ausschnitt

Leigh Bowery unter dem Dachfenster 1994
© The Estate of Bruce Bernard 

An sich selbst

Mir grauet vor mir selbst, mir zittern alle Glieder,
Wenn ich die Lipp und Nas und beider Augen Kluft,
Die blind vom Wachen sind, des Atems schwere Luft
Betracht und die nun schon erstorbnen Augenlider.

Die Zunge, schwarz vom Brand, fällt mit den Worten nieder
Und lallt, ich weiß nicht was; die müde Seele ruft
Dem großen Tröster zu; das Fleisch ruft nach der Gruft;
Die Ärzte lassen mich, die Schmerzen kommen wieder.
 
Mein Körper ist nicht mehr als Adern, Fell und Bein.
Das Sitzen ist mein Tod, das Liegen meine Pein.
Die Schenkel haben selbst nun Träger wohl vonnöten.

Was ist der hohe Ruhm, und Jugend, Ehr und Kunst?
Wenn diese Stunde kommt, wird alles Rauch und Dunst,
Und eine Not muss uns mit allem Vorsatz töten.

Andreas Gryphius
Aus: Deutsche Gedichte. 
Ausgewählt und eingeleitet von Karl Krolow. 
Bd. 1. 5. Auflage Frankfurt am Main 1987

Freitag, 27. März 2015

Da wir nur Menschen sind - Dylan Thomas


Leider kann ich das englische Original nirgends finden, bin daher auch nicht sicher, ob das Gedicht wirklich von Dylan Thomas geschrieben wurde, aber es ist so schön, dass ich es ungeachtet seiner ungesicherten Herkunft poste.
Da wir nur Menschen sind...

Da wir nur Menschen sind

Da wir nur Menschen sind, schritten wir in den Wald,
Furchtsam, und achteten auf leise Silben,
Aus Angst, die Raben aufzuwecken,
Aus Angst, geräuschlos
Einzugehen in eine Welt aus Flügeln und Gekreisch.

Wären wir Kinder, stiegen wir hinauf
Und fingen, ohne einen Zweig zu brechen, die Raben im Schlaf,
und nach dem leisen Aufstieg
Streckten wir unsre Köpfe oben aus den Ästen
Um die unweigerlichen Sterne zu bestaunen.

Aus der Verwirrung, wie's so geht,
und aus dem menschvertrauten Staunen,
Aus diesem Chaos wüchse Glück.
Das also, sagten wir, ist Schönheit,
Kinder, die staunend in die Sterne schaun,
Ist Ziel und Zweck.

Da wir nur Menschen sind, schritten wir in den Wald.

vermutlich aus den Collected Poems 1934-53

 Forum für Naturfotografen ©
 

Mittwoch, 25. März 2015

Heimlich & unheimlich

Denn nichts ist verborgen, das nicht offenbar werde, 
auch nichts Heimliches, das nicht kund werde 
und an den Tag komme. Lukas 8/17
 
    HEIMLICH
-------------------------
 ------------------------- 
UNHEIMLICH

Willst du dein Herz mir schenken,
So fang es heimlich an,
Dass unser beider Denken
Niemand erraten kann.
Die Liebe muss bei beiden
Allzeit verschwiegen sein,
Drum schließ die größten Freuden
In deinem Herzen ein.

unbekannter Dichter 

Ich hab Dich insgeheim unheimlich lieb. Wie sehr? Es ist mir fast unheimlich wie sehr. Ich fühle mich bei Dir so heimelig. Heimlich, still und leise ist es geschehen. Wir wollen es aber es aber noch geheim halten.

Der Duden schreibt:
mittelhochdeutsch heim(e)lich = vertraut; einheimisch; vertraulich, geheim; verborgen, althochdeutsch heimilīh = zum Hause gehörend, vertraut, zu Heim

Das Heim und die Heimat, selbst die Heimsuchung, die ursprünglich nur ein Hausfriedensbruch war, und also war auch Mariä Heimsuchung nur der Besuch bei ihrer Verwandten Elisabeth, um von ihrer überraschenden Schwangerschaft zu berichten. Sie bricht wohl Elisabeths Hausfrieden. Und erst später wurde der Schicksalsschlag, die Prüfung daraus. Was für Wandlungen so ein Wort durchläuft, so viele bis es seine eigene Herkunft kaum noch kennt. 

Und da heimlich einmal einfach zu Hause, einheimisch, hierher gehörend bedeutete, war heimlich auch der von gespensterhaftem freie Ort und aus dem heimatlichen, häuslichen entwickelt sich weiter der Begriff des fremden Augen Entzogenen, Verborgenen, Geheimen sagt Grimm. Etwas, das nicht geheim ist ungeheim zu nennen, klingt verquast, unheimlich ist aber auch nicht zu diesem Zwecke verwendbar. 

Unheimlich ist, tja was? Etwas das uns in unserem Heimlichsten anrührt, was uns schaudern macht. Die Härchen auf der Haut stellen sich auf, Gänsehaut, wohl ein instinktiver, wenn auch mitlerweile nutzloser Versuch durch aufgeplustertetes Fell größer und gefährlicher auszusehen, um den "Feind" zu verschrecken. Aber wer ist der Feind im Unheimlichen?


Aus: TRAUMLAND

An den Felsen neben den düstern,
Unheimlichen Wellen, die ewig flüstern,
An den Wäldern neben den Teichen,
Wo die eklen Gezüchte schleichen,
In jedem Winkel, dunkel, unselig,
An allen Sümpfen und Pfuhlen, unzählig,
Wo die Geister hausen –
Trifft der Wandrer mit Grausen
Verhülltes Volk aus dem Totenlande,
Erinnerungen im Leichengewande,
Weiße Gestalten der Schatteninseln,
Bleiche Schemen aus toten Zeiten,
Die verzweiflungsvoll stöhnen und winseln,
Wie sie am Wandrer vorübergleiten.

Edgar Allen Poe

Cornelisz. van Oostsanen, Jacob (vielleicht)
Lachender Narr
ca. 1500

Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten
aus deinem Haar vergeßnen Sonnenschein.
Schau, ich will nichts, als deine Hände halten
und still und gut und voller Frieden sein.

Da wächst die Seele mir, bis sie in Scherben
den Alltag sprengt; sie wird so wunderweit:
An ihren morgenroten Molen sterben
die ersten Wellen der Unendlichkeit.  

Rainer Maria Rilke
aus: Erste Gedichte

Das Unheimliche.
Sigmund Freud

Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist, 
das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist...

oder

ZWIELICHT

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken zieh’n wie schwere Träume -
Was will dieses Grau´n bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger zieh’n im Wald’ und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,
Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib’ wach und munter!

Joseph von Eichendorff

Etymologie des Wortes "heimlich"
http://woerterbuchnetz.de/DWB/?lemma=heimlich

Klammheimlich - vermutlich eine tautologische und scherzhafte Wortbildung aus lateinisch: clam‚ heimlich, verhohlen und heimlich

Das Heimlich-Manöver
http://de.wikipedia.org/wiki/Heimlich-Man%C3%B6ver 

Sonntag, 22. März 2015

b.b. - gnatzig


George Grosz
"Bertolt Brecht"

Jeder Mensch auf seinem Eiland sitzt
Klappert mit den Zähnen oder schwitzt
Seine Tränen, seinen Schweiß
Sauft der Teufel literweis –
Doch von seinem Zähneklappern
Kann man nichts herunterknappern.

Jeder Mensch in seiner Sprache mault
Und kein Mensch versteht es, was er jault
Ist er mal im Kopfe licht
Dann versteht’s auch er wohl nicht.
Die Enttäuschten und Vergrämten
Sind die wahrhaft Unverschämten.

b.b. um 1920

George Grosz
"Ein Opfer der Gesellschaft" 1919
 
ENTWURF EINES GESELLSCHAFTSVERTRAGES

Ich, Thomas P., verpflichte mich
Aus freien Stücken heute, angesichts
Des Zustandes dieser Welt und feierlich
Zu nichts.

Der Herr, der meine Mutter sexuell weckte
Sorgte, obgleich begütert, nicht rechtzeitig für Abort
So fallen alle Pflichten wohl, auch indirekte,
Meinerseits fort.

Ich verpflichte mich ausdrücklich nicht, meine Schwester, das Luder
Auf den Händen zu tragen
Und meinen jüngeren Bruder
Aufs Maul zu schlagen.

Jedoch erkenne ich hiemit die Verpflichtung an
Meine eigenen Interessen ehrlich im Auge zu haben
Und meinem Mitmenschen dann und wann
Fleißig eine Grube zu graben.

Und ich verspreche, den Gesetzen
Mutig die Stirn zu bieten. Und nach bestem Wissen
Wohltaten zu rächen, wenn nötig, blutig.

b.b. um 1923


Donnerstag, 19. März 2015

Jean Paul - Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei


Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört' ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«
Er antwortete: »Es ist keiner.«
Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«
Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?...
Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«
Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹... Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹... Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«
Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern... als ich erwachte...
 
Aus "Siebenkäs" von Jean Paul

Ernst Fuchs 1930-2000  
Jean Paul. Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei

1971/1972



 

Mittwoch, 18. März 2015

Theater ist manchmal vollends neben der Kappe und da genau richtig


Letzte Woche, die Dritte Vorstellung von "Mahagonny" am Volkstheater Rostock steht bevor, Susanne, die weltbeste Regieassistentin, ruft an, um mir mitzuteilen, dass drei Chortenöre erkrankt sind und die Einspringer aus Berlin zu spät eintreffen werden, um sie gründlich einzuweisen. Dann verändert sich ihre Stimmlage ins Kicherige und sie teilt mit, dass sie, um Chaos zu vermeiden, drei Blindenarmbinden bei der Requisite bestellt hat und einen Strick, an den die drei "blinden" Bewohner Mahagonnys angebunden werden sollen, um von einem der verbliebenen "geprobten" Sänger an diesem Strick durch den Abend und in ihre Arrangements geschleift zu werden.  

Hat geklappt, die ausverkaufte Vorstellung mußte nicht abgesagt werden.

Vor gefühlten zweihundert Jahren sitze ich allein in der Kantine des Kleist-Theaters in Frankfurt/Oder, im Foyer läuft "In Sachen Adam & Eva" von Rudi Strahl, das panische Gesicht des Abendienstes erscheint in der Tür, und seine weitaufgerissenen Augen saugen sich an mir fest. Die Darstellerin der Hela, Freundin der Stücktitel-Eva ist nicht erschienen, die Vorstellung läuft schon, ich bekomme ein Textbuch in die Hand gedrückt, ich kenne weder Stück noch Inszenierung, finde mich auf der Bühne wieder und werde eine Stunde lang von Kollegen erbarmungslos und doch liebevoll hin und her geschoben, derweil ich alle Sätze sage vor denen der Name Hela steht.

Leipzig, einige Jahre später. Ich, nunmehr probenfreier Regisseur, wieder in der Kantine. An diesem Abend gibt es "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" von Peter Handke. Ein stummer beredter Abend an dem sämtliche Spieler des Ensembles beteiligt sind, jeder spielt circa zehn stumme Rollen, nur leider ist eine Darstellerin plötzlich erkrankt. Kantinenauftritt Intendant/Regisseur Wolfgang Engel - ich bekomme einen Zettel mit kurzen Regieanweisungen in die Hand gedrückt, etwa 15 Auftritte in unterschiedlichsten Kostümen. Der einzige konstante Ort zur Unterbringung des Zettels ist meine Unterhose, alles andere ändert sich durch die Umzüge ständig. Leider schwitze ich vor Angst so stark, dass das Geschriebene nach 10 Minuten völlig unleserlich geworden ist. Ich reagiere von nun an widerspruchslos auf verbale Anweisungen. 
Die Frau im roten Kleid, Regieanweisung: "Du bist schön" und "du gehst langsam und verführerisch von rechts nach links" (Von der Bühne aus gesehen!) "an der Rampe entlang". Ich tue, was mir gesagt wird. Untertext: "Ich bin schön." Drei Schritte, sechs, plötzlich ahne ich im Augenwinkel eine Person, die sich von der gegenüberliegenden Seite auf mich zubewegt (Ich bin stark kurzsichtig!), sie rennt, sie ist nackt, sie ist mein Regieassistent! Was wird geschehen? Ich habe keine Ahnung! Er rennt vorbei, ich schreite weiter majestätisch die Rampe entlang. Untertext: "Ich bin schön.

Das Bühnenbild verweigert sich, die Drehbühne klemmt, alle Spieler wandern mit ihren Requisiten nach vorne und können sich von nun an auf nix verlassen, als auf einander.
Kunstvoll befestigte Haarteile entwickeln ein Eigenleben und fliegen bei heftigen Bewegungen in zutiefst tragischen Szenen, wie aufgeschreckte Vögel, über die Bühne.
Der für den Abend eingeteilte Feuerwehrmann nickt ein und fällt mitten in einer scharfen politischen Auseinandersetzung von seinem Stuhl auf die Bühne.
Der Hauptdarsteller eines seit einer Ewigkeit laufenden Stückes weiß eines Abends seinen schon dreihundertmal gesprochenen Text nicht und geht ab, nachdem er dem Publikum mitgeteilt hat, dass ihm den "Rest" der Kollege xxx mitteilen würde. Der Kollege xxx tut sein Bestes.
Onkel Wanja klagt mir, in diesem Fall, Jelena, sein Leid. Ich, erst kürzlich eingesprungen, kann mich ums Verrecken nicht an seinen Namen erinnern. Da ich im Stück nicht mit ihm verwandt bin, kann ich ihn ja schlecht als Onkel ansprechen. Ich spiele mich unauffällig in seine Nähe, frage flüsternd: " Wie heißt du?". Mein Kollege schaut mich tief verletzt an und nennt seinen echten Namen.
Hosen verlieren Knöpfe und fallen vom Körper, angeklebte Bärte entwickeln ein dynamisches Eigenleben, Gebisse verlassen ihren ihnen ursprünglich zugewiesenen Ort, Scheinwerfer gehen im falschen Moment an oder aus oder fallen laut scheppernd herunter. 
Souffleusen haben das falsche Textbuch, der Inspizient ist betrunken, ein Kollege hat gerade seine Frau verlassen.
Eine Grippewelle ereilt in kurzen Abständen die drei weiblichen Mitspielerinnen des "Diener zweier Herren" und jedesmal erwischt mich die Übernahme. Beim letzten mal weiß der Darsteller des Truffaldino nicht einmal mehr, wer genau ich an diesem Abend bin. Da hat er mich halt gefragt.

Nichts ist schöner, als wenn auf der Bühne völlige Panik herrscht. Dann kommen wir zum Eigentlichen, zum ums Leben spielen. 

Dienstag, 17. März 2015

Wir leiden uns ins Wissen.




Ich lese mich manchesmal unerwartet ins bloggen. Ein Essay über die Illias und ich falle urplötzlich in einen Satz. Den Zorn besinge, o Göttin, des Peleussohns Achilles. Die erste Zeile der Illias. Im Original ist "Zorn" sogar das erste Wort. Dass der Zorn eines Menschen Thema eines ganzen Buches sein kann, ist schon großartig, aber heute war es ein anderer Satz, der mich gewurmt hat. Nur in einem Nebensatz erwähnt und nicht einmal aus der Illias, sondern aus einem Stück von Aischylos.

Aischylos
Agamemnon 

Vers 176-183

Wir leiden uns ins Wissen.

Zeus, der den Menschen zum Denken geführt hat,
der bestimmt hat, dass Weisheit
nur durch Leiden kommt.
Dennoch, tropft im Schlaf 
Die Trauer der Erinnerung gegen das Herz; gegen
unsere Freude sind wir maßvoll.
Von den Göttern, die in Erhabenheit sitzen
kommt Gnade irgendwie grausam.

Zeus, who guided men to think,
who has laid it down that wisdom
comes alone through suffering.
Still there drips in sleep against the heart
grief of memory; against
our pleasure we are temperate
From the gods who sit in grandeur
grace comes somehow violent.
 
Übersetzt von Richmond Lattimore
 


Zeus hat die Sterblichen auf den Weg zur Weisheit gesetzt
als er dies Gesetz festlegte;
Durch Leiden lernen wir.
Doch tropft im Schlaf vor meinem Herzen
ein trauererinnernder Schmerz.
Gesunden Menschenverstand gewinnt man nur auf die harte Tour.
Und die Gnade der Götter
(Da bin ich mir ziemlich sicher)
Ist eine Gnade, die durch Gewalt kommt.


Zeus put mortals on the road to wisdom
when he laid down this law;

By suffering we learn.
Yet there drips in sleep before my heart
a griefremembering pain.
Good sense comes the hard way.
And the grace of the gods
(i'm pretty sure)
is a grace that comes by violence. 

Übersetzt von Anne Carson



Totenmaske des Agamemnon (mykenisch, 16. Jh. v. Chr.). Gold. 
Gefunden im Grab V des Gräberrunds A auf der Akropolis in Mykene (Peloponnes, Argolis). 
Athen, Archäologisches Nationalmuseum (Griechenland, Attika).

Ihn, der uns zum ernsten Nachsinnen leitet, uns in Leid
Lernen läßt zu seiner Zeit;
Drum weint auch im Traum im Herzen noch
Kummer leideingedenk, und es keimt
Wider Willen weiser Sinn.
Wohl heißt streng und schonungslos der ewgen hochgethronten Götter Gunst!


Übersetzt von J. G. Droysen (Berlin 1832)

Denn der Weisheit Führer ist 
Zeus des Urgesetzes Herr,
Dass im Unglück Lehre wohnt.
Wachsam stirbt Gewissenbissesangst

Selbst im Schlaf unser Herz; Zwang sogar
Leitet manchen zur Vernunft.
Solches leihn die Götter uns,
In Hoheit prangend auf dem stolzen Thron.


Übersetzt von J. Minckwitz

πάθει μάθος
Pathei mathos
Aischylos Agamemnon Vers 177

Wikis Liste griechischer Phrasen schlägt Folgendes vor:
Durch Leiden lernen. Der Ausspruch geht auf Aischylos' Agamemnon zurück, wo er vom Chor als Huldigung des Zeus gesungen wird. Die zugrundeliegende Textpassage wurde recht unterschiedlich ins Deutsche übersetzt, u. a. "Dass im Unglück Lehre wohnt" (Johannes Minckwitz), oder auch "uns in Leid Lernen läßt zu seiner Zeit" (Johann Gustav Droysen), wiewohl die Grundaussage stets als die gleiche aufzufassen ist: „Er (sc. Zeus) setzte dies: dass aus Leid wir lernen.“ (Max Treu, mündlich)

We suffer into knowledge, habe ich dann als englische Übersetzung gefunden. Das gefällt mir:
Wir leiden uns ins Wissen. Oder in die Erkenntnis.
 
http://www.suhrkamp.de/buecher/zorn_und_zeit-peter_sloterdijk_45990.html

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zorn-und-zeit-von-peter-sloterdijk-wenn-ganze-kulturen-sich-beleidigt-fuehlen-1380330.html