Sonntag, 15. März 2015

Grün & Rot - Félix Vallotton


FÉLIX VALLOTTON

 La Blanche et la Noire 
 Die Weiße und die Schwarze
1913

EMPFINDUNG

In blauer Sommernacht werd` ich durch Felder geh`n,
Hälmchen zertreten auf den kühlen Pfaden
Und träumerisch ein Prickeln spüren an den Zeh`n.
Ich werde meinen bloßen Kopf im Winde baden.

Ich werd` nicht sprechen, werde an nichts denken:
Doch wird die Liebe meine Seele ganz durchtränken;
Und ich werd` geh`n, wie ein Zigeuner, durchs das Blau,
Durch die Natur, - so glücklich wie mit einer Frau.

März 1870 - Arthur Rimbaud


Femme nue assiste dans un fauteuil rouge 
Frau auf einem roten Sofa seiend 
1897

SENSATION

Par les soirs bleus d`été, j`irai dans les sentiers,
Picoté par les blés, fouler l`herbe menue:
Rêveur, j`en sentirai la fraîcheur à mes pieds.
Je laisserai le vent baigner ma tête nue.


Je ne parlerai pas, je ne penserai rien:
Mais l`amour infini me montera dans l`âme,
Et j`irai loin, bien loin, comme un bohémien,
Par la Nature, - heureux comme avec une femme.


Ach neiche, Du Schmerzensreiche...



Peter Cornelius: Illustrationen zu Goethes Faust
Faust und Gretchen im Kerker.

Ach neige,
Du Schmerzenreiche,

Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Das Schwert im Herzen,
Mit tausend Schmerzen
Blickst auf zu deines Sohnes Tod.

Zum Vater blickst du,
Und Seufzer schickst du
Hinauf um sein' und deine Not.

Wer fühlet,
Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein?
Was mein armes Herz hier banget,
Was es zittert, was verlanget,
Weißt nur du, nur du allein!

Wohin ich immer gehe
Wie weh, wie weh, wie wehe
Wird mir im Busen hier!
Ich bin, ach! kaum alleine,
Ich wein, ich wein, ich weine,
Das Herz zerbricht in mir.

Die Scherben vor meinem Fenster
Betaut ich mit Tränen, ach!
Als ich am frühen Morgen
Dir diese Blumen brach.

Schien hell in meine Kammer
Die Sonne früh herauf,
Saß ich in allem Jammer
In meinem Bett schon auf.

Hilf! rette mich von Schmach und Tod!
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!

 J.W. v. Goethe

        Nun muß ich mich ja mit Johann Wolfgang von Goethe beschäftigen, den ich bisher zu Gunsten 
        von Schiller, Lenz, selbst Lessing umschifft habe, wenn ich in die Klassik geriet. Mal sehen, ob 
        er mir doch noch ans Herz wächst.
        Den "Urfaust" allerdings liebe ich sehr. Ich habe mich aber immer gewundert, wenn sich neige 
        auf Schmerzensreiche reimen sollte. Heut ist's mir klar geworden. Der Mann kam aus 
        Frankfurt/Main. Da reimt sich neiche auf -reiche! Großartig, wenn man sich Fausts Monologe in 
        der Sprachfärbung vorstellt.



Der März im Chronograph von 354 des Kalligraphen Filocalus

MÄRZ

Im März fängt bunt de Frühling aa.
Die Blümmcher blühe hie un da,
umschwärmt von Biencher mit Gesumm.
Aa Glück: De Winter is erum!
De aale Urlaub werd genomme.
Der is aan jetzt so recht willkomme.

Zum Winterschlaf in dere Zeit
kimmt oft noch Frühjahrsmüdigkeit.
Doch wenn in alle Äst un Zweische
so nach un nach die Säfte steische,
erwache Triebe, lacht des Herz.
En scheene Monat is der März!

Quelle: Frankfurter Mundartgedicht


Donnerstag, 12. März 2015

Vivian Maier & Birdman & Frau von Stein



And did you get what
you wanted from this life, even so?
I did.
And what did you want?
To call myself beloved, to feel myself
beloved on the earth.

Raymond Carver A New Path to the Waterfall
 
Und hast du bekommen, was
du vom Leben wolltest, trotz allem?
Hab ich.
Und was wolltest du?
Mich geliebt fühlen, mich geliebt fühlen in der Welt.
 
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In diesen Tagen beschäftige ich mich der Liebe zwischen Frau von Stein und Herrn von Goethe, mit Peter Hacks und der deutschen Klassik unter rabiat-marxistischen Aspekten, und zwischendurch im Willy-Brandt-Haus mit Vivian Maiers Bildern von Menschen auf den Strassen Chicagos und New Yorks in den Sechzigern, und dann abends im Kreuzberger Babylon mit "Birdman".
Das Hirn wankt und schwankt, aber Carvers Zitat setzt eine Klammer, die etwas beruhigt.


Undatiert © Vivian Maier/Maloof, in der Ausstellung abphotographiert
Was hat sie gesehen, was ertragen müssen? 
Woher hat sie die riesige Herrenarmbanduhr? 
Sie ist, in meinen Augen, fast unerträglich schön.

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Birdman. Ein alternder Hollywoodstar spielt einen alternden Hollywoodstar, der sich im Theater als Regisseur/Autor/Hauptdarsteller neu erfinden will. Versimpelt: Riggan Thomson,
vor zwanzig Jahren gefeierter Filmstar, gealtert und gefangen im Image des Superhelddarstellers, adaptiert eine Kurzgeschichte Carvers, What We Talk About When We Talk About Love - Worüber wir sprechen, wenn wir von Liebe sprechen, für die Bühne und hofft auf Erlösung durch das Theater. Drei Voraufführungen und eine Premiere, vier Tage und Nächte.

Später wird ein Mann Macbeths großen Monolog nächtens durch die Strassen schreien.

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Idioten, voll von Klang und Wut,
Das nichts bedeutet.

"Der nackte Wahnsinn" unter heutigen New Yorker Bedingungen. 
Regisseur/Drehbuchautor/Produzent Alejandro González Iñárritu und sein Kameramann Emmanuel Lubezki gaukeln uns auf eleganteste Art und Weise eine Geschichte in nur einer fortlaufenden Einstellung vor. Die Welt dieses Films ist ein architektonisch verwirrendes Labyrinth von Backstage-Gängen, dem Broadway menschengefüllt und menschenleer, von oben, mittendrin und seitwärts. Die Bühne auf der das Carverstück gespielt wird, sehen wir aus der Sicht der Spieler, aus der Seitengasse, von hinten im Bühnenbild. Versatzstücke von typischen Superhelden-Effekten und/oder Mitteln des magischen Realismus schnipseln hier und da, dann zunehmend öfter, in die Handlung hinein. Anstatt des Klavieres der Stummfilme, untermalt, schiebt, verzieht, treibt Schlagzeugsound die Szenen (Antonio Sanchez!), ja manchmal schwenkt die Kamera sogar beiläufig über den trommelnden Mann hinweg.
Das ist durch die Bank toll gespielt, exzessiv und mit krassen Überraschungskippern von der Satire in die Tragödie und retour. Und es ist spannend. 
Es bleibt ein kleiner ungenauer Rest von selbstreferentieller Eitelkeit, aber das kann auch an meiner ningeligen Natur liegen.

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Brief 42 von Goethe an Charlotte von Stein
Warum soll ich dich plagen! Liebstes Geschöpf! – Warum mich betrügen und dich plagen und so fort. – Wir können einander nichts seyn und sind einander zu viel – Glaub mir wenn ich so klar wie Faden mit dir redte, du bist mit mir in allem einig. – Aber eben weil ich die Sachen nur seh wie sie sind, das macht mich rasend. Gute Nacht Engel und guten Morgen. Ich will dich nicht wiedersehn – Nur – du weisst alles – Ich hab mein Herz – Es ist alles dumm was ich sagen könnte. – Ich seh dich eben künftig wie man Sterne sieht! – denck das durch.
Wahrscheinlich geschrieben am 15. April 1776
 
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Hochinteressanter Zeitartikel über Peter Hacks:

Mittwoch, 11. März 2015

Dagmar Manzel und Max Hopp an der Komischen Oper



Ein schnoddriges Berlinertum, Bachstelze, Erotik hinter tausend Vorhängen, Seidenkissen mit einem hitzigen Parfum, einen Eiskübel über den Kopf, ein helles Frauenlachen: Massary.
Kurt Tucholsky Die Schaubühne, 20.11.1913, Nr. 47

Besser kann man es fast nicht sagen, und es trifft auf die Manzel genau so zu! 

Ein großer Abend. 
Eine Wand mit einer Tür vor einem Vorhang, ein feines Orchester, Licht und zwei Schauspieler, die besser singen können, als anständig wäre und erlaubt ist. 
Zwei, nur zwei Darsteller, aber die in circa zwanzig Rollen. Ein Vaudeville-Nummernprogramm mit wildem Tempo, Einfällen, die anderswo für fünf Inszenierungen reichen müßten und, Wunder über Wunder, man wird in den Glauben versetzt, dies sei alles ganz unanstrengend, aus der Hüfte geschossen, mal eben so hingeworfen. Man weiß, dass das nicht stimmt, aber die Illusion der Schwerelosigkeit ist herrlich.
Dagmar Manzel und Max Hopp, ganz und gar unterschiedlich und sich auf schönste Art ergänzend. Beide sind in spielerischer Personalunion Clowns und Kabarettisten und Sänger und Komiker und sehr heutige Menschen.
Der Regisseur des Abends ist übrigens Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper. 
Die Produktion wird wegen massiver Nachfrage in die nächste Spielzeit übernommen. Also früh Karten bestellen, fein anziehen, hingehen, geniessen und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht die restliche Nacht verbringen.


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Wiki schreibt:
Eine Frau, die weiß, was sie will (auch: Manon) ist eine musikalische Komödie in zwei Akten (fünf Bildern) nach Louis Verneuil. Das Buch stammt von Alfred Grünwald, die Musik schrieb Oscar Straus. Die Operette wurde am 1. September 1932 im Metropol-Theater (Damals im Gebäude der heutigen Komischen Oper befindlich!) in Berlin uraufgeführt. In der Uraufführung spielte Fritzi Massary die Titelrolle.

Louis Verneuil ist 1940 in die USA emigriert, 1952 kehrte er nach Frankreich zurück und beging noch im selben Jahr Selbstmord. 

Alfred Grünwald wurde 1938 von der Gestapo verhaftet, 1940 gelang ihm die Flucht über Casablanca und Lissabon in die USA, wo er 1953 starb.

Oscar Straus mußte nach dem "Anschluß" Österreichs 1939 emigrieren, zuerst nach Paris, dann in die USA. Er kehrte 1950 zurück und starb 1954 in Bad Ischl.


Fritzi Massary floh 1932 aus Deutschland, spielte noch einige wenige Male in Wien und London, und verbrachte den Rest ihres Lebens in Los Angeles, ohne je wieder aufzutreten. Sie starb 1969.


Kurt Tucholsky zog 1929 schon nach Göteborg in Schweden, wo er 1935 mit Schlaftabletten aus dem Leben schied.

„Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erobern – ich bin damit fertig.“
– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1984, S. 121


Fünf ausgewählte Kollateralschäden des tausendjährigen Irrsinns, und meiner festen Überzeugung nach Teil der Ursache unserer heutigen "Unterhaltungkunst"-Misere. Wir haben damals unseren Witz, unsere Ironie und unsere Fähigkeit über uns selbst zu lachen aus dem Land oder in den Selbstmord getrieben, in Konzentrationslagern umgebracht oder auf andere Art aus unserer Seele geschnitten. Und finden uns nun eingepfercht zwischen Comedy und Klamotte, dem Kichern nachhastend und meist nur einen Lacher fangend, ohne Leichtigkeit, nur mit Pointen.

 
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Fritzi Massary singt "Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben"
https://www.youtube.com/watch?v=XAIWBgfeq2o

Tucholsky über die Massary
http://www.textlog.de/tucholsky-massary.html

Zeitartikel über den Tod von Louis Verneuil
http://www.zeit.de/1952/48/er-war-lustspieldichter

Zeitinterview mit Barrie Kosky
http://www.zeit.de/2014/40/komische-oper-berlin-barrie-kosky

Samstag, 7. März 2015

Mein Stift ist stiften gegangen, wer stiftet mir einen neuen?


DER STIFT ist stärker als das Schwert. 
niederländische Sprichwort

Bei uns sagt man, es ist die Feder. So sagt das Sprichwort, aber sagt es auch die Realität?
 
Vor kurzem habe ich mit meiner Lieblingsnichte Englischvokabeln geübt, ein anstrengend und letztendlich tristes Unterfangen. Das arme Kind mußte so relevante Wörter wie: Doppelhaushälfte (semi-detached house) auswendig lernen. Und bei der Vorstellung, wie eine lustige Zehnjährige gerade dieses Wort in ein Gespräch mit irgendeiner englisch sprechenden Person einflechten würde, verdrehten sich meine Augäpfel mehrmals gen Himmel. Überhaupt schien die ganze, enorme Menge von zu lernenden Wörtern, es waren mindestens fünfzig, seltsam wilkürlich, trocken und unsinnlich ausgewählt. Kein Spaß mit der völlig irrationalen und gerade deswegen vergnüglichen Rechtschreibung der Briten. Keine Lust an Wörtern, die Eines sagen, aber auch ein Anderes. Alles, was Sprache genüsslich macht, Doppel- und Mehrdeutigkeit, Überschneidungen, Widersprüchlichkeit, blieb ausgespart. 
Sprache ist doch wie Pudding, es gibt nie genug davon und doch, um ins Schlaraffenland, zu kommen, muß man sich durch den süßen Brei durchfressen, bis man irgendwo, in der Sprache ankommt. Sprache ist lustvoll und nie völlig greifbar. Mysterium und logische Konstruktion in einem. Eine Stripteasetänzerin, die nie ganz nackt isein wird.

Stift. 
Ein Wort, fünf Buchstaben. Nur eine Vokabel, wenn ich Deutsch als Fremdsprache lernen würde. Und wenn ich sie gelernt hätte, was wüßte ich dann?

 
DER STIFT, DER SCHREIBT
Buntstift, Rotstift, Bleistift; länglich, ehemals immer aus Holz, nur angespitzt nützlich
&
DER STIFT, DER WÄCHST UND LERNT
Lehrling, Bube, kleiner Kerl, manche Jungs sehen aus wie zu lange Stifte mit Armen dran.

&
DER STIFT, DER BEFESTIGT
Er ist oft spitz, ein Nagel ohne Kopf.
&
DER STIFT, DER VERBINDET
Er ist flach und braucht eine Nut, in die er hineinpasst.

&
DAS STIFT, DAS GESTIFTET WURDE
Es braucht Geld und existiert zu Ehren des stiftenden Geldgebers, oder des einzigen und
alleinigen Gottes, das ist Ansichtssache.
&
DER STIFTER, DER EINE STIFTUNG STIFTET
Er gibt Geld und stiftet es für eine Stiftung zu eigener Ehre oder siehe oben.
&
DER ANSTIFTER
Er stiftet Unruhe, Ärger oder gar einen Austand.
&
DER, DER STIFTEN GEHT
Er macht sich aus dem Staub, verduftet, verschwindet, sucht das Weite, nimmt die Füsse unter den Arm, büxt aus, entrinnt.


Kunigunde.
Der Schlüssel, liebes Herzens-Töchterchen,
Hängt, jetzt erinnr' ich michs, am Stift des Spiegels,
Der überm Putztisch glänzend eingefugt!

Käthchen.
Am Spiegelstift?

Das Käthchen von Heilbronn H. von Kleist
 
Es scheint mir, daß ein Mensch bei dem allerbesten Willen unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist.
F. Nietzsche

Der Frauenleib ist der Anstiftung dringend verdächtig.
K. Tucholsky
 
Wo sie eine Verwüstung stiften, nennen sie es Frieden.
Ubi solitudinem faciunt, pacem appellant
Tacitus über die Eroberungen der Römer

Gedanken, weisheitsvoll, wenn ich sie jemals hab.
Sie brechen immer mir beim Bleistiftspitzen ab.

Carl Spitzweg 


Die Stiftshütte wird verschiedentlich auch das Zelt der Zusammenkunft oder das Zelt des Zeugnisses genannt. Dies war der von Gott anerkannte Ort, wo er unter seinem Volk wohnte und ihm begegnen wollte, und wo in Absonderung von der Außenwelt sein Wille bekannt gegeben wurde. In ihrem Innern befand sich die Bundeslade.
Wiki 

 Stiftskirche in Innichen im Hochpustertal
 
---------------------------------------------------------------------------------------------- Stift, der
indogermanische wurzel stip- 'steif sein'
lat. stipes 'pflock, pfahl' - künstlich hergestellter länglicher, meist cylindrischer körper aus metall oder holz, oft mit einer spitze
Grimms Wörterbuch
Bei einem »Stiftermahl« für eine gemeinnützige Einrichtung kam die Frage auf, wie die Wendung stiften gehen im Sinne von ›abhauen, sich verdrücken‹ entstanden sein mag. In den Lexika, die mir vorliegen, auch bei Lutz Röhrich, findet sich der Ausdruck wohl erwähnt, aber ohne Erklärung. Könnte nicht das Wort Stift in der Bedeutung ›etwas Geringes, Kleinigkeit‹ – man vergleiche Stift als ›Lehrling‹ – der Ausgangspunkt sein? Wer sich schnell aus dem Staub macht, »sich dünne macht«, wirkt nur noch wie ein Strich in der Landschaft?
[!] Der Ausdruck stiften gehen, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts geläufig ist und in vielen Wörterbü­chern, auch Dialektwörterbüchern, ver­zeich­net wird, ist trotz verschiedener Deu­tungsversuche noch nicht plausibel und sicher erklärt.
In der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs ist der Ausdruck stiften ge­hen reichlich belegt. Gustav Hochstet­ter ­(Der feldgraue Büchmann. Geflügelte Kraftworte aus der Soldatensprache, 1916) und Otto Maußer (Deutsche Solda­tensprache, 1917) haben stiften und stiften gehen im Sinne von ›weggehen, sich entfernen, bei Gefecht sich wegmachen‹ bzw. (in der Fliegersprache) ›schnell verschwin­den, Deckung suchen‹ doku­mentiert. Dies wird wiedergegeben im Deut­schen Wörterbuch der Brüder Grimm, Bd. 10.II.II (1942, Sp. 2890), wo auch vermerkt wird, dass stiften gehen in die Umgangssprache über­nommen wurde. Die Wendung hat sich ja gehalten, und in der späteren Soldatensprache, auch der in der DDR war stiften gehen zu beobachten.
Entstanden ist der Ausdruck ver­mutlich schon zuvor. Heinz Küpper gibt in seinem Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache (Bd. 7, 1984) bei stiftengehen ›sich heimlich entfernen‹ an: »1900 ff.«, und er verweist nicht nur auf die Soldatensprache, sondern auch auf die Verbrecher- und die Polizeisprache. Zur Deutung schreibt er: »Gehört zu mhd ›stieben = Staub aufwirbeln; schnell laufen‹.« Anscheinend unter Bezug auf Küpper erwägt dies auch das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von F. Kluge/E. Seebold (zuletzt 2002). Doch bleibt dies spekulativ. Auch Johann Knoblochs Hypothese, hier liege eine Wendung aus der Imkersprache vor – siehe das Stiften der Bienen –, ist unbewiesen. Knobloch weist darauf hin, dass die Königin nach dem Bestiften des Eis (die Bieneneier werden also als Stifte angesehen) ihre besondere Zelle verlässt und wegfliegt; ein Einfluss der Imkerfachsprache auf die Umgangssprache sei denkbar (siehe Muttersprache, 1978, S. 261 f.). Zustimmend aufgegriffen wurde diese Erklärung unseres Wissens nicht.
Für Ihren Deutungsversuch spricht zunächst, dass in der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs, für die stiften gehen ja reichlich belegt ist, seinerzeit auch Stift in der Bedeutung ›Rekrut‹ geläufig war; dies übrigens schon früher, wie bei Paul Horn belegt (Die deutsche Soldatensprache, 1905). Doch eine rechte Sinnbeziehung will sich für mich nicht herstellen, da der Gang der Erklärung sehr verwickelt und der Ausdruck offenbar älter ist sowie auf andere Weise zu erklären sein müsste. Einige Dialektwörterbücher haben schon diese Beziehung zu Stift formal hergestellt, doch auch kein nachvollziehbares Motiv benannt.
Schon die Autoren jenes Bandes des Deutschen Wörterbuchs vermuten, die Wurzel liege in der Gaunersprache. In anderer Weise wird auf dieses Idiom Bezug genommen in Trübners Deutschem Wörterbuch, Band 6, 1955. Hier wird stiften gehen im Sinne von ›weglaufen‹ erklärt unter Hinweis auf das hebräische Wort schataf mit der Bedeutung ›überströmen‹; der Ausdruck sei »durch Gaunerkreise vor allem der Soldatensprache vermittelt worden«. Eine Bestätigung allerdings war nicht zu ermitteln.
Einen weiteren Hinweis mit Blick auf die Gaunersprache bietet Sigmund A. Wolfs Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache (1956): Stift ist mehrfach belegt, für ›Knabe‹ und Lehrling, Kellnerlehrling‹ (Stiftche meint ›Knäbchen‹, Stiftbohrer ›Päderast‹). Stift heißt weiterhin aber auch ›Kautabak‹ und stiften ›Tabak kauen‹ (dies wird übrigens von den Dialektwörterbü­chern zum Berlinischen und zum Preußischen unterstützt). So wäre eine weitere Spe­kulation möglich: Könnte die frag­liche Wendung nicht mit Blick auf denjenigen entstanden sein, der sich aus dem Staube macht und Deckung sucht, weil er sich aus dem Gefecht zurückziehen und in Ruhe priemen will?
Eine schlüssige Erklärung für stiften gehen steht wohl noch aus, aber mir scheint, die Herleitung aus stieben hat viel für sich. Im Mittelhochdeutschen meinte stieben nicht nur ›wie Staub umherfliegen‹ und ›Staub von sich geben, stäuben‹, sondern auch ›schnell laufen, rennen, fliegen‹. Auch das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Bd. 11, 2006) belegt stieben, übertragen und auf den Menschen bezogen, im Sinne von ›sich schnell entfernen, entfliegen‹.
Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS.de) 

stiften - afries. stifta 'stiften, gründen, erbauen, in ordnung bringen; neben diesem j-verb steht vielleicht ein ō-verb im altostndfränk. gestiftoda s. u. I. entlehnt sind norw., schwed. stifta, dän. stifte 'stiften, anstiften, errichten'. die herkunft des wortes ist unklar.

von stiften der sinngehalt 'durch einen willensentschlusz und zweckentsprechendes handeln den beginn eines werkes oder einer handlung herbeiführen', doch kann damit keine grundbedeutung festgelegt werden; bereits in den ältesten zeugnissen auf die einmalige handlung des einrichtens bezogen, nicht auf die handwerkliche tätigkeit wie bei gründen und bauen; daher ist eine konkrete grundbedeutung unwahrscheinlich 
Grimms Wörterbuch

 http://www.zeno.org/Adelung-1793/A/Stift,+das

Mittwoch, 4. März 2015

Kindheit - Reim dich oder ich schlag dich


Der S-Bahnhof Friedrichstrasse

Warum ich Gedichte liebe. 
Warum? 
Weil ich einst Kinderreime gelernt habe.
Geleiert, gemurmelt,
gebrüllt und gebetet.
Bei der Gummihopse,
beim Abnehmen (das ist Gummihopse mit den Händen)
beim Hüpfen,
Rennen,
Verstecken,
bei Himmel & Hölle
&  beim Abklatschen.
Kindergarten, Vorschule, Schule. Schulschluß. 
Danach nix wie raus.
Auf die Strasse.
Mitten in Berlin Mitte. 
(Der östlichen Mitte zumindestens.)
Kein Spielplatz weit und breit.
Aber Hinterhöfe und leere Plätze und der Monbi (Monbijou-Park).
Ich habe eigentlich in der Spree schwimmen gelernt.
Ich kann heute noch ziemlich schnell schwimmen.
Wir mußten schneller sein als die Boote der "Grenzer".
Die mutigen Jungs sind sogar vom Bodemuseum aus in das Dreckwasser gesprungen.
Wahrscheinlich bin ich deshalb frei von jedweder Allergie.
Mein Vergiftungsniveau ist einfach zu hoch.

Einerseits der Terror der sozialistischen Schule.
Stillsitzen.
Melden nur mittels Heben des rechten Unterarms in gerader Linie zum angewinkelten linken Arm.
Eine unmögliche Forderung, wenn alles in mir nach Bewegung verlangte.
Aber mein gutes Kurzzeitgedächtnis verkürzte die Hausaufgabenzeit.
Raus.
Raus.
Buddelkasten im Hinterhof.
Schweineschaukel an der Teppichstange.
(Erinnert sich noch jemand an diese geflochtenen Teppichschlaggeräte?)
Meine Freunde waren aus einer kinderreichen Familie.
Am Samstag wurde durchgebadet.
Erst der Vater.
Dann, ein wenig heißes Wasser dazu, die Mutter.
Undsoweiter.
Alle acht Kinder.
Beim letzten war das Wasser schwarz.
Frau Göhrler wohnte im fünften Stock und hatte weder Wasser noch Klo.
Beides war in einem Häuschen dort im Hof.
Ihre Manieren entstammten einer vergangenen Zeit.
Ebenso ihre Kleidung.
Aber zum Pinkeln mußte sie fünf Stockwerke über die hintere Treppe.
Die hintere Treppe.
Ein Mysterium.
Warum gab es sie?
Wir hatten eine Haushälterin, Gerda, meine Zweitmutter.
Meine andere Mutter war oft im Krankenhaus.
Minna nahm immer die hintere Treppe.
Geboren in einem Dorf im Anhaltinischen.
Schule nur bis sie dreizehn war.
Der Verlobte  gefallen im großen Krieg.
Ihre Katze hieß Muschi.
Sie hat viele Bücher gelesen.
Und ist gestorben, bevor sie ihren Traum von einer Rhein-Schiffsreise realisieren konnte.
Gerda Niemeyer.
Genannt Minna, weil ich, als Kleinkind, ihren Namen nicht aussprechen konnte.
Meine liebste unverwandte Verwandte.
Berlin, meine Stadt, war immer bevölkert von Zugereisten.
Schusti aus Schlesien, Gerda aus Sachsen-Anhalt, meine Mutter aus Amerika und mein Vater aus dem zerbombten Magdeburg. 
Berlin.
Meine Stadt, vollgestopft mt halberinnerten Geschehnissen.
Die aus der Vorkriegszeit übrig gebliebene Hure auf der Auguststrasse, die Freier nur noch für ein geselliges Frühstück mit nach Hause nahm.
Wände voller Einschüsse.
Räume, die nur durch ihre übriggebliebenen Wände an ihre Existenz erinnerten.
Diese Stadt ist weg.
Renoviert.
Saniert.
Es ist gut so.
Aber trotzdem bin ich voll von Erinnerungen.
 Ich bin alt.
Und doch jung, weil ich froh bin über die Veränderungen, selbst die blöden.


Ene mene mopel,
wer frisst Popel,
süß und saftig,
eine Mark und achtzig,
eine Mark und zehn
und du darfst gehn. 

Auf einem Baum ein Kuckuck
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Auf einem Baum ein Kuckuck saß.
Da kam ein junger Jägers-
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Da kam ein junger Jägersmann.
Der schoß den armen Kuckuck,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Der schoß den armen Kuckuck tot.
Und als ein Jahr vergangen,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Und als ein Jahr vergangen war.
Da war der Kuckuck wieder,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Da war der Kuckuck wieder da.
Da freuten sich die Leute,
simsalabim, bamba,
saladu, saladim:
Da freuten sich die Leute sehr. 
Backe, backe, Kuchen,
der Bäcker hat gerufen!
Wer will guten Kuchen backen,
der muss haben sieben Sachen:
Eier und Schmalz, Butter und Salz,
Milch und Mehl, Safran macht den Kuchen gehl!
Schieb, schieb in’n Ofen ‘nein.
Das ist der Daumen,
der schüttelt die Pflaumen,
der hebt sie auf,
der trägt sie nach Haus,
der kleine Schelm isst sie alle auf.
Hoppe, hoppe, Reiter,
wenn er fällt dann schreit er.
Fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben.
Fällt er in die Hecken,
fressen ihn die Schnecken.
Fällt er in den Sumpf, macht der Reiter: plumps!

Dienstag, 3. März 2015

Lynsey Addario - Dafur - Photographien


DAFUR

Lynsey Addario dokumentiert in ihrer Photoserie “Darfur” den schon 2003 ausgebrochenen Konflikt im westlichen Sudan. Schätzungsweise 300.000 Menschen kamen dort durch Gewalt, Krankheiten oder Hunger ums Leben und rund 2 Millionen Menschen sind noch heute auf der Flucht. 
So schöne Bilder einer so schrecklichen Situation, ein unlösbarer Widerspruch, scheint mir.

Dies sind keine Frauen, sondern Soldaten. Ihr Lastwagen ist liegengeblieben und sie warten.
2004
 
Ein Zivilist , der von der durch die Regierung unterstützte Janjaweed Militia in Farawyaiah, West Darfur getötet wurde. Die Soldaten im Hintergrund sind Mitglieder der Sudanesischen Befreiungsarmee, eine von vielen militärischen Gruppierungen in der Region.
24. August 2004
Kinder, Flüchtlinge in einem Sandsturm
2007
HEIMATLOS

Wir ohne Heimat irren so verloren
und sinnlos durch der Fremde Labyrinth.
Die Eingebornen plaudern vor den Toren
vertraut im abendlichen Sommerwind.
Er macht den Fenstervorhang flüchtig wehen
und läßt uns in die lang entbehrte Ruh
des sichren Friedens einer Stube sehen
und schließt sie vor uns grausam wieder zu.
Die herrenlosen Katzen in den Gassen,
die Bettler, nächtigend im nassen Gras,
sind nicht so ausgestoßen und verlassen
wie jeder, der ein Heimatglück besaß
und hat es ohne seine Schuld verloren
und irrt jetzt durch der Fremde Labyrinth.
Die Eingebornen träumen vor den Toren
und wissen nicht, daß wir ihr Schatten sind.

Max Herrmann Neisse

Gesammelte Werke Herausgegeben von Klaus Völker. 
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1986 (vergriffen)


Journalists can sound grandiose when they talk about their profession. 
Some of us are adrenaline junkies; some of us are escapists; 
some of us do wreck our personal lives and hurt those who love us most. 
 This work can destroy people. 
I have seen so many friends and colleagues become unrecognizable from trauma: 
short-tempered, sleepless, and alienated from friends. 
But after years of witnessing so much suffering in the world, 
we find it hard to acknowledge that lucky, free, prosperous people like us might be suffering, too. 
We feel more comfortable in the darkest places than we do back home, 
where life seems too simple and too easy. 
We don’t listen to that inner voice that says it is time to take a break from documenting other people’s lives and start building our own. 
Under it all, however, are the things that sustain us and bring us together: 
the privilege of witnessing things that others do not; 
an idealistic belief that a photograph might affect people’s souls; 
the thrill of creating art and contributing to the world’s database of knowledge. 
When I return home and rationally consider the risks, the choices are difficult. 
But when I am doing my work, I am alive and I am me. 
It’s what I do. 
I am sure there are other versions of happiness, but this one is mine.”
  
Lynsey Addario It's What I Do: A Photographer's Life of Love and War

© für alle Photographien Lynsey Addario

Montag, 2. März 2015

Post-Premieren-Blues


Mag die Premiere herrlich, erfolgreich und jubelnd gewesen sein, wie es diese letzte war, oder gänzlich grässlich oder, was viel schlimmer ist, halbgut, mittelmäßig, in den Tagen danach fühle ich mich elend. 
Wie ein leergelaufener Weinschlauch, ein Schuh mit halber Sohle, ein Hirn ohne Windung. 
Diesmal ist es noch verwirrender, denn ich bin gänzlich ausgeleert.
Die Probenbedingungen waren absurd, der Außendruck auf das Theater und seine/meine Mitarbeiter immens, das Stück ein harter Brocken.
Zwei neue Stücke warten, aber da sind keinerlei Neuronen, die irgendwelche Gedanken, Einfälle oder wenigstens vorliegende Informationen weiterleiten, verbinden und in sinnvolle Zusammenhänge bringen könnten.
Surreale Schnipsel des verlassenen, fertigen und doch nicht, nie zu Ende kommenden Stückes schwirren in meinem Kopf herum.
Alle. Ich bin alle.
Koffer werden ausgepackt, Wäsche wird gewaschen, Schuhe geputzt, anstehende Bürokratie durchforstet, Post beantwortet, das eigene Bett grüßt mit ausreichend Fläche und rechter Festigkeit. Himmlisch.
Aber mein Kopf, mein lieber Kopf ist noch im Koma. Er mag sich nicht beteiligen, nicht regen, nicht denken, nicht wach werden. 
Es wird besser werden. Übermorgen oder Überübermorgen regt sich wieder was.

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.


Hilde Domin

P.S. Und dann schreibt Tobi Müller (der Name mag einiges entschuldigen) eine Kritik, die keine ist, weil der "Spiegel" nie über eine Premiere in Rostock einfach so berichten würde, sondern nur weil er das abgelatschte Baal/Castorf/Brecht-Erben/Freiheit des Regisseurs - Thema nochmal irgendwie unterbringen will, und er bringt alles durcheinander und schreibt Unrichtigkeiten und es ist eigentlich egal, aber meine übermüdete Eitelkeit ist gekränkt. Er hat nicht geguckt, sondern nur abgehakt. 
Was macht Gegenwärtigkeit auf der Bühne aus? Eindeutige Heutigkeit oder/und Angebote für den Zuschauer, selbst Parallelen zu ziehen? 
Fuck him! Aber nicht heute, erst, wenn ich wieder wach bin.