»Namenlose Trauer, unsagbare Erleichterung«
Ralph Giordano über den Tod
seiner Frau Helga, die Autonomie über das eigene Leben und die
Verlogenheit der Debatte um ärztlich assistierten Suizid
20.11.2014 – von Ralph Giordano
Ralph Giordano
© dpa
August 1944, Johannisbollwerk,
Dependance der Gestapo-Leitstelle Hamburg. Die beiden Herren, die mich
hierhergebracht haben, entledigen sich wortlos ihrer Ledermäntel. Dann
trifft mich der erste Schlag in die Magengrube. Ich falle vom Stuhl und
bleibe auf der Erde liegen, punktuell getroffen, aber mit Wirkung auf
den ganzen Körper. Ich werde hochgerissen und weiter geschlagen,
wahllos, eine Art boxerisches Trommelfeuer, das den Schmerz verstreut,
über die ganze Hautfläche bis hinein in jede Pore, ohne dass eine
Schmerzmilderung eintritt.
Die beiden Gestapomänner, beide um
die 40 herum, verrichten ihr Werk routiniert. Sie dreschen auf mich
ein, machen eine Pause, schlagen weiter und – reden dabei von etwas ganz
anderem. Sie sprechen von Tomatenstauden, die sie auf ihren Balkons
hegen und pflegen, über ihre Düngung und eine spezielle Sorte, die
besonders fest ist.
»Rassenschande«
Das Codewort für meine Verhaftung: »Rassenschande«. Noch kriege ich
mit, was sie da absondern, noch erfasse ich, was da passiert, aber
langsam verschwimmt die Wirklichkeit. Hier findet etwas Elementares
statt: die summarische Entwürdigung des Ichs zwischen den Polen Gewalt
und Wehrlosigkeit. Eine neue Dimension des Zugriffs auf die eigene
Person, überflutet von der grauenhaften Vorstellung, im gesamten Kosmos
mit diesen beiden teilnahmslosen Ungeheuern allein zu sein. Was in einem
Wirbel zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit auf eine rauschhafte,
schmerzgeborene Wunschvorstellung zusteuert, die Endformel eines
utopischen Glücks:
»Wäre ich doch nie geboren worden, nie
geboren, nie.« Unheimlich, wie dieser Satz da plötzlich gleichsam
gemeißelt vor meinem inneren Auge stand – und dort stehenblieb, bis
heute, 70 Jahre danach ... Hier war der innerste Kreis des Individuums
angetastet worden. In seinem berühmten Traktat
Die Tortur
schrieb Jean Améry: »Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust, der Faust
des Folterers, gegen den es keine Wehr geben kann, endigt ein Teil
unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken.«
Ja! – Ich
kann es bestätigen. Ich war dem Tod nicht nur einmal nahe, aber hier
war ich ihm am nächsten. Doch wer seine Nähe gespürt hat, der kann
gleichzeitig noch etwas anderes beglaubigen: die Erkenntnis, dass es
nichts Kostbareres, nichts Großartigeres, nichts Schützenswürdigeres
gibt als das Leben, der allerhöchste Wert – das Leben!
Odyssee Deshalb
habe ich Ihnen die brachiale Ouvertüre meiner Dankesrede zugemutet.
Erst vor diesem elementaren Hintergrund wird erkennbar, wie grausam es
sein muss, mitzuhelfen, Leben zu beenden, wenn es keinen anderen Ausweg
gibt. Was umso grausamer ist, wenn es sich dabei um den geliebtesten
Menschen handelt.
Davon will ich hier sprechen – vom Leben
und Sterben meiner Frau Helga Giordano. Sie war das Glück und der
Reichtum meines Lebens, über 40 Jahre hin, nachdem wir uns bald nach der
Befreiung kennengelernt hatten, im August 1945. Alles, was in mir gut
ist – und da ist keineswegs alles gut, wie in jedem von uns –, all das
hat sie mobilisiert. Egal, ob nach langer oder kurzer Trennung, bei
ihrem Anblick wurde die Welt licht – eine wunderbare Erfahrung, die ich
ihr verdankte.
Sie war zehn Jahre älter als ich, eine Dekade,
die keine andere Wirkung hatte, als die Bindung umso unverbrüchlicher zu
machen. Ihr Lieblingslied war »Mr. Sandman«, ihre Lieblingssendung (wie
die meine) der britische Dauerbrenner
Der Doktor und das liebe Vieh.
Sie aß gern und hatte eine unnachahmliche Fertigkeit, ihre Korpulenz zu
ironisieren. Das Gesicht war so wunderbar geblieben wie am ersten Tage
unserer Begegnung. Ein Dasein ohne sie war nicht vorstellbar.
Im
März 1981 dann die Diagnose – Krebs. Gefolgt von dreidreiviertel Jahren
zwischen Hoffen und Bangen. Mal kletterten, mal sanken die Werte bei
den regelmäßigen Messungen. Bis sie immer höher stiegen, die Metastasen
das Hirn erreichten und der Griff an den Kopf mit schmerzverzerrtem
Gesicht immer häufiger wurde. Wie in den schlimmsten Zeiten der
Verfolgung hatte ich nur einen Wunsch: aus einem schrecklichen Traum zu
erwachen.
Hilfe Im November 1984
dann die Gewissheit, das sichere Ende – nur noch wenige Wochen,
vielleicht nur Tage –, was vor ihr verborgen gehalten werden musste. Ich
kenne keine Situation, die schwerer zu ertragen wäre als diese. Es sei
denn meine ebenso flehentlichen wie vergeblichen Bittgänge bei Ärzten,
zur Erlösung beizutragen. Selten habe ich mich so allein gefühlt wie bei
dieser vergeblichen Odyssee um aktive Sterbehilfe. Fündig wurde ich
dann aber doch – damals ein hochvermintes Gelände.
Meine Frau
stirbt am 9. Dezember 1984, mit 71 Jahren und in ihrem Bett – durch
einen »Eingriff«, den ich mitvorbereitet und gebilligt, von Grund auf
gebilligt hatte. Sie geht human aus dem Leben – mit aktiver Sterbehilfe,
in einer Situation, an der es nichts zu deuteln gab: Das
Allerschlimmste, das Unschilderbare, das Sterben in der
Schmerzapokalypse, für die es keine Worte gibt, war ihr erspart
geblieben. Der »Helfer« hatte sich nach Recht und Gesetz schuldig
gemacht. Ich habe es »Erlösung« genannt, für die es keine Alternative
gab.
Was da in seiner Gleichzeitigkeit geschieht, übersteigt
eigentlich die Kräfte einer Person: namenlose Trauer um den Tod des
geliebtesten Menschen, neben der unsagbaren Erleichterung über die
Erlösung. Obwohl ein wortgewohnter Mann, versagt mir an dieser Stelle
die Feder.
Wenn ich im Waldteil des Elmshorner Friedhofs vor
das Grab trete, vor den großen Stein, auf dem einst auch meine Annalen
eingeschlagen sein werden, dann weine ich, wie bei der Bestattung vor 30
Jahren schon. Es ist der Überlebende, der den Preis für ein tiefes
Gefühl zahlen muss.
Autonomie Über
diesem Sterben lag lange Schweigen, bis ich es nach mehr als 20 Jahren
brach. Das aber erst, nachdem die fundamentalistischen Gegner jedweder
Sterbehilfe öffentlich das große Wort ergriffen und sich dabei nicht
entblödet hatten, die Befürworter »Mörder« und »Faschisten« zu
schimpfen, mich eingeschlossen. Wissen diese Leute eigentlich, was sie
da tun und wovon sie sprechen? Haben sie eine Vorstellung von dem Druck,
der da waltet und der sich in mir bis heute noch nicht völlig
verflüchtigt hat? Mithelfen, den Menschen zu töten, der das Kostbarste
war, das man hatte?
Ich erkläre hier, dass ich dem »Helfer«
dankbar war und dankbar bleiben werde, so lange ich lebe. Und dass ich
ihn vielleicht eines Tages fragen werde, ob er nicht mit meinem
Einverständnis auch an mich Hand anlegen werde, welche Motive mich dann
dazu auch immer leiten mögen. Die Autonomie über mein Leben und Sterben
werde ich mir jedenfalls von niemandem nehmen lassen. Ihm würde ich mich
auch anvertrauen, wenn mir die eigene Fähigkeit zum letzten Schritt
genommen wäre.
Natürlich, wenn es um Leben und Tod geht,
schließt sich jede Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit aus. Natürlich
flammt bei uns sofort die Schreckensvokabel »Euthanasie« auf, wenn es
um Sterbehilfe geht. Aber da ich in der Bundesrepublik keinerlei Nähe zu
diesem staatlich angeordneten NS-Massenverbrechen sehe, empört mich
dessen Instrumentalisierung, ruft mich der offene Missbrauch auf den
Plan, macht mich die Nivellierung von heutiger Sterbehilfe mit der
»Tötung unwerten Lebens unterm Hakenkreuz« fassungslos.
Natürlich
sind andere Meinungen als die eigene zu achten, solange sie nicht ins
Kriminelle verfallen. Aber ich verspüre in mir eine wachsende Abneigung
gegen Polemik im öffentlichen Diskurs über Sterbehilfe. Was
selbstverständlich Kritik nicht ausschließen oder auch nur einengen
soll.
Gerüchte Mich irritieren
zum Beispiel ideologische Plattitüden, ebenso wie die Berufung auf
»Gottes Willen« oder die »Heiligkeit des Lebens«, unbeeindruckt davon,
in welch erbarmungswürdiger Verfassung die Leidenden sich befinden. Auch
befremdet es mich, wenn Verweigerer jedweder Sterbehilfe so tun, als ob
die Folge einer Legalisierung in allererster Linie gierigen Enkeln und
Erben zugutekommen würde. Selbstverständlich kann es solche Fälle geben,
wer leugnet das?
Aber sie ins Exemplarische zu erhöhen und damit
Fortschritte auf dem Gebiet der Sterbehilfe zu verzögern oder sie gar
zu verhindern, das bleibt dann doch wohl mehr als fragwürdig. Überhaupt –
warum wird auch auf diesem Gebiet zuerst wieder an potenzielle Täter
von morgen gedacht und nicht an die realen Opfer eines grausamen
Sterbens, wie es Tag um Tag mitten unter uns weiter stattfindet? Was
schließlich ist wahr an den beunruhigenden Gerüchten, dass von manchen
Medizinern das Sterben eines Patienten als persönliche Niederlage
aufgefasst wird? Und was stimmt davon, dass andere Ärzte durchaus
Sterbehilfe in ihrer letzten Konsequenz leisten möchten, es jedoch
infolge der hiesigen Rechtsunsicherheit nicht wagen?
Bleibt
nur zu hoffen, dass auf diesem in Deutschland so ungut aufgeschobenen
Gebiet dennoch manches von humaner Hand geschieht, was Menschen vor
ihrem letzten Atemzug die allergrößte Qual ersparen hilft. Es gibt keine
pauschale oder generalisierende Sterbehilfe, und es kann sie nicht
geben. Worauf es ankommt, ist der Einzelfall. Zum Beispiel auf den der
Hanne P., eine Frau in meinem Alter, und eine Telefonfreundschaft über
20 Jahre hin, eine vokale Korrespondenz über alles, was das Leben so
bietet, mit wachsender Vertrautheit, bis hinein in ein Stadium der
Schmerzen und der Schwäche, die das Dasein fraglich machten. Ich wurde
Zeuge, wie die Flamme langsam erlosch, der Wunsch nach Erlösung immer
stärker wurde. Er wird erhört – Hanne P. stirbt human.
Freitod Nun
verleiht mir die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben den
Arthur-Koestler-Sonderpreis 2014 – für mein Lebenswerk, wie es heißt.
Ich bedanke mich dafür, sehr angetan, dass die Auszeichnung den Namen
des großen britischen Schriftstellers, Journalisten und
Menschenrechtlers trägt, Autor des weltberühmten Buches
Sonnenfinsternis, dieser Abrechnung mit den mörderischen Ismen des 20.
Jahrhunderts »Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus«. (…)
Koestlers
Freitod am 1. Mai 1983 in London überraschte nur den, der nichts ahnte
von den inneren Dämonen, von denen diese Generation heimgesucht und
mancher auch überwältigt wurde. Darunter Jean Améry, Primo Levi, Paul
Celan und viele andere, die unbekannt geblieben sind. Ich kenne die
Etappen bis hin zu dieser Entscheidung und respektiere ihre Qualen und
ihre Motive. Sehr fern von ihnen war keiner, der die grausamen Ismen des
20. und 21. Jahrhunderts am eigenen Leibe zu spüren bekam. (…)
Auszug
aus der Dankesrede des Autors zur Verleihung des
Arthur-Koestler-Sonderpreises 2014 der Deutschen Gesellschaft für
Humanes Sterben am 14. November in Berlin