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Sonntag, 12. November 2017

Ägypten 1 - Kairo

TAG EINS

Im Flugzeug von Egyptair ertönt aus dem Bordfernseher gleich nach den Sicherheitshinweisen eine dunkel-sanfte Märchenerzählerstimme und ruft uns zum gemeinsamen Gebet. Die Boeing ist ältlich und topfit, auf den Toiletten finden sich nämlich noch Aschenbecher, wenn auch außer Dienst. 
Dies soll allerdings fürs erste der einzige Ort sein, an dem hier nicht graucht werden darf - ich qualme kindisch-froh im Taxi, in Cafes, im Hotelzimmer.
Das Hotel ist eine Ansammlung von merkwürdigen Widersprüchen, das Treppenhaus heruntergekommen, an der Rezeption lagert ein Knäuel von Kabeln in der Mikrowelle, aber das Zimmer ist wunderbar, die Handtücher in Schwanenform gefaltet und das blitzsaubere Klo schmückt eine Blüte aus Toilettenpapier. 
Ein alter Freund holt uns ab und fährt uns in eine Kneipe mit Alkoholausschank, den wir an diesem Abend wegen Übermüdung aber nicht nutzen, auf dem Weg dorthin überqueren wir den Tahrir-Platz. 
Er war 2011 der Kundgebungsplatz der Kräfte, die gegen/für Mubarak eintraten, und wurde so zum Symbol der ägyptischen Revolution.
Der Freund erzählt vom arabischen Frühling, wie er ihn erlebt hat. Von der hoffnungserfüllten Stimmung, der Sehnsucht nach Freiheit, wenn auch die genaue Definition des Wortes im ahnungslosen Vagen lag. Von den Tagen als seine Schule abgeriegelt war und in der Strasse vor dem Schultor die Leichen der Revolutionsopfer lagen. Von den politischen Manipulationen die sich anschlossen. Von der ökonomisch katastrophalen Lage des Landes. Er liebt es mit verzweifelter Hoffnungslosigkeit.


Früher Dekonstruktivismus im Ägyptischen Museum.

TAG ZWEI


Beim Frühstück schiebt sich am Nebentisch ein schwarzes Vögelchen, eine schmale, junge, vollverschleierte Frau, ihr Frühstück unter das hinderliche Tuch. Ihr Mann, ein Muslimbruder, erkennbar am Bart und der gekürzten Hose, der Knöchel, so will es scheinbar der Prophet, muß frei bleiben, stopft Massen von Süßigkeiten in seinen ohnehin schon feisten Körper.
Trotz des deutlich sichtbaren "Rauchen verboten" Schildes wird auch hier geraucht. 
Die Stadt, ein Moloch. 7 000 000 Einwohner, 16 000 000 in der Metroplregion, kämpfen sich durch den Tag. Ob Autofahrer oder Fußgänger, wer zögert, verliert. Am Morgen habe ich zehn Minuten für eine Straßenüberquerung benötigt, am Abend war ich nur unwesentlich schneller. Solche Art Auto zu fahren habe ich noch nie erlebt, und ich bin gerne und fröhlich in Rom und Paris herumgekutscht. Aber hier? Abenteuerlich, unfaßbar bis lebensgefährlich, Spuren gelten nur als lässig zu mißachtende Vorschläge, Mopeds sind mit vier Personen besetzt oder mit zweien und einem Abwaschtisch, Kleinlaster werden himmelhoch mit Waren vollgestapelt, viele Autos, stammen aus den 60ern und da die Fußgängerwege voll und unbequem sind, latschen auch noch die Fußgänger auf der Strasse. Hupen ist Volkssport. Tohuwabohu. Ein gewöhnlicher deutscher Polizist erläge binnen kurzer Zeit einem Herzinfarkt.

Das Ägyptische Museum, von Franzosen um die Jahrhundertwende erbaut, riesig, unter massivem Polizeischutz, wie alle wichtigen Gebäude, Taschenkontrollen inclusive, der Bau rosafarben und majestätisch. Drinnen fünftausend Jahre menschlichen Könnens, menschlichen Machtge- und Mißbrauches und unserer Fähigkeit zum Imaginieren. So viel Schönes. Fast zu viel! Räume und Räume und Räume voller Mumien und Grabbeigaben und Statuen und Schmuck und historischen Alltagsgegenständen und Tinnef. Pharaonenperrücken aus schwarzer Wolle, viertausend Jahre altes Leinen, fein ziselierter Schmuck.
 
Echnaton, wunderschönes längliches Gesicht, zarter Oberkörper, 
der in einer Birnenform endet. Fett? Schwanger? 


FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS 
  Wer baute das siebentorige Theben? 
In den Büchern stehen die Namen von Königen. 
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? 
Und das mehrmals zerstörte Babylon, 
Wer baute es so viele Male auf ? In welchen Häusern 
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? 
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, 
Die Maurer? Das große Rom 
Ist voll von Triumphbögen. Über wen 
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz 
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis 
Brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang, 
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. 
Der junge Alexander eroberte Indien. 
Er allein? 
Cäsar schlug die Gallier. 
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? 
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte 
Untergegangen war. Weinte sonst niemand? 
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer 
Siegte außer ihm? 
Jede Seite ein Sieg. 
Wer kochte den Siegesschmaus? 
Alle zehn Jahre ein großer Mann. 
Wer bezahlte die Spesen? 
So viele Berichte, 
So viele Fragen.

b.b.


 ÄGYPTISCHE GESICHTER







Und überall Frauen um mich, die ihre Haare und ihren Körper verdecken, aber ihre Gesichter verführerisch schminken, nahezu alle tragen Kopftuch, die meisten zwei übereinander, in vielerlei Bindvariationen, viel zu viele, die meist schwarze Burkha. Und letztere laufen einen Schritt hinter dem bärtigen Gatten und haben oft vier und mehr Kinder dabei. Deutschland findet sich auf der Liste der Staaten, geordnet nach ihrer Gegurtenzahl auf Platz 218, Ägypten liegt mit 23,35 Geburten per 1000 Einwohnern auf Platz 68. 
Ihre unverkleideten Männer wispern "Taxi" oder "Fünf Prozent" in mein Ohr und die mit Witz: "How can I get your money?". Vor jedem Hotel, jeder Werkstatt stehen sechs bis sieben Männer herum, ohne, dass ersichtlich wäre, was genau ihre Aufgabe ist. Ein Land vor der Pleite, ein Land mit mehr als 12 Prozent Arbeitslosigkeit, unter jungen Menschen sind bis zu 28 Prozent. Müll allüberall.

 ÄGYPTISCHER VERFALL

 Abendlicher Basar

Decke im Ägyptischen Museum

 Löwenkopf und Plastiktüten im Ägyptischen Museum


TAG DREI

Wir wandern planlos durch die Stadt, durch Strassen, Gassen, Gässchen, über Müllberge. Die Armut und der damit einhergehende Dreck sind erschütternd. Als wäre die Hoffnungslosigkeit so groß, die Apathie so total, dass die Menschen mit gespenstischer Blindheit für den Zustand ihrer Umgebung geschlagen sind.
















Am Abend essen wir, dem Rat einer jungen Ägypterin folgend, Kushari, eine wohlschmeckende Matschepampe aus Reis, Makkaroni, Linsen und knusprige Zwiebeln, aber wir schlafen schlecht in dieser Nacht und nicht wegen des Essens.


 

Sonntag, 9. August 2015

Eine Reise - Tallinn - Alles heiter Doktor Eiter

TALLINN


Tallinn ist die westlichste der drei Hauptstädte, die wir besuchen, auch wenn sie die nördlichste ist. Mittelalterliche Stadtmauer, Gassen, Gassen, Gassen, der Stadtkern ist Weltkulturerbe, und der Tourist sehr willkommen, ein wenig zu sehr, fast. 
Man kann, wenn man Vilnius-Riga-Tallinn hintereinander besucht, beobachten wie hart hier gearbeitet wird und in welchen harten Schritten die Entwicklung verläuft. Vilnius noch in Erwartung der Ankunft der Gäste, Riga zerrissen und hektisch betriebsam, und dann Tallinn, schon fast wie alle mitteleuropäischen größeren Städte, nur hübscher als manche. Das spiegelt sich auch im Durchschnittseinkommen: 669, 751, 1110 Euro brutto je Monat im ersten Quartal 2015.* 
Wir sind mit einem Linienbus bis in die Neubauviertel von Tallinn gefahren, auch die saniert, und von viel Grün umgeben. Man sieht Armut, aber keine Bettler, werden sie, wie in Giulianis New York, aus der Stadt geschafft? 

Alle drei Länder verlieren Einwohner, junge Leute wandern aus, die Geburtenrate ist niedrig, auch wenn ich noch nie so viele Hochzeitspaare wie in diesen 10 Tagen gesehen habe. Zigaretten und Benzin sind billig, aber viele haben mehr als einen Job, um überhaupt irgendwie über die Runden zu kommen. Man sieht wenig Reste der sowjetischen Herrschaft, erstaunlich wenig, die sind wahrscheinlich äußerlich nicht sichtbar.

Aber am letzten Abend: Kaunas in Litauen, eine Strasse, die aussieht wie heruntergekommene Teile der Greifswalder in tiefen Zonenzeiten, nur ist die Straße breiter. Jeden Moment wird ein Vopo auftauchen und nuscheln "ich solle mich ausweisen". (Kurze gefähliche Antwort eines Freundes: "Kann man das jetzt schon selber?") Der blanke Osten, nur die Häuser in den Seitenstraßen sind verfallene russische Holzhäuschen mit Fenstern, wie dem, aus dem in russischen Märchenfilmen die Erzählerin rausguckte. Wir parken auf einem verdreckten Hinterhof, am nächsten Vormittag werden innerhalb von zwei Stunden drei verschieden Männer die Mülltonnen nach Brauchbarem durchsuchen. Das Haus graubeiger Klotz, bröckelnder Putz - erster Stutzer: die Haustür modern mit Hochsicherheitsschloß - Der Hausflur in gelber Pissölfarbe, die Stufen uneben - Stutzer Nummer zwei: die Wohnugstür ebenfalls brandneu und mit zwei Superschlössern - das Apartment dann wunderbar, toll ausgestattet und mit allem Komfort, nur den Rohren und Leitungen sieht man den äußeren Zustand des Hauses an. Und wie überall in allen drei baltischen Staaten, schnelles Wlan inclusive.

Abschiedsbesäufnis in einem Kiosk an der großen Straße, 24 Stunden geöffnet. Wir kaufen eine Flasche Whisky und kriegen sie ohne Verschluß, nur zum Verzehr darf verkauft werden. Ein freundlicher, betrunkener Lette stammelt auf Russischenglisch, dass er nach Kanada auswandern will, weil die Leute da so gute Traditionen haben und freundlich sind. Seine akustische Vorführung des lettischen Umgangstons erschrickt mich. Vielleicht ist es nur der Suff, hoffentlich. Aber ich lese gerade Sofie Oksanas "Stalins Kühe", und sie schreibt über die Zerstörung der sozialen Umgangsformen, der gewöhnlichen Freundlichkeit durch ständige Bespitzelung, korrupte Mangelwirtschaft und Verrohung durch Gewaltgewöhnung. Ist das die eiternde Wunde, die unter all der Veränderung, dem Fortschritt weiter eitert? So viele Jahre Mißbrauch verschwinden nicht einfach, oder?

Meine kulturelle Tallinnausbeute: 


Bilder aus der Ausstellung "Art Rules"
im gotischen Talliner Rathaus


Ein Hornspieler
Paulus Bor
Amersfoort ca 1601 – 1669


Osias Beert the Elder
Stillleben mit Austern, gebratenem Hühnchen, Süßigkeiten und getrockneten Früchten
Antwerpen 1580 - 1624 

 
Schaut wie der Glas malt!


Spanischer Meister
Mann mit einem Teufel an der Kette
16. Jahrhundert

Der Teufel hat Angst.

Katalog der Ausstellung
http://artrules.ee/art/ 


 Einzelfunde

Narr
16. Jahrhundert
Relief in einem Dominikanerkloster


Kirchen-Fußboden

 Engel

Adam & Eva

Noch ein Engel


Türen aus Tallinn (und eine aus Pärnu)








 *

Montag, 24. November 2014

Namenlose Trauer, unsagbare Erleichterung - Ralph Giordano zur Sterbehilfe


»Namenlose Trauer, unsagbare Erleichterung«

Ralph Giordano über den Tod seiner Frau Helga, die Autonomie über das eigene Leben und die Verlogenheit der Debatte um ärztlich assistierten Suizid

20.11.2014 – von Ralph GiordanoRalph Giordano


Ralph Giordano

© dpa

August 1944, Johannisbollwerk, Dependance der Gestapo-Leitstelle Hamburg. Die beiden Herren, die mich hierhergebracht haben, entledigen sich wortlos ihrer Ledermäntel. Dann trifft mich der erste Schlag in die Magengrube. Ich falle vom Stuhl und bleibe auf der Erde liegen, punktuell getroffen, aber mit Wirkung auf den ganzen Körper. Ich werde hochgerissen und weiter geschlagen, wahllos, eine Art boxerisches Trommelfeuer, das den Schmerz verstreut, über die ganze Hautfläche bis hinein in jede Pore, ohne dass eine Schmerzmilderung eintritt.

Die beiden Gestapomänner, beide um die 40 herum, verrichten ihr Werk routiniert. Sie dreschen auf mich ein, machen eine Pause, schlagen weiter und – reden dabei von etwas ganz anderem. Sie sprechen von Tomatenstauden, die sie auf ihren Balkons hegen und pflegen, über ihre Düngung und eine spezielle Sorte, die besonders fest ist.

»Rassenschande« Das Codewort für meine Verhaftung: »Rassenschande«. Noch kriege ich mit, was sie da absondern, noch erfasse ich, was da passiert, aber langsam verschwimmt die Wirklichkeit. Hier findet etwas Elementares statt: die summarische Entwürdigung des Ichs zwischen den Polen Gewalt und Wehrlosigkeit. Eine neue Dimension des Zugriffs auf die eigene Person, überflutet von der grauenhaften Vorstellung, im gesamten Kosmos mit diesen beiden teilnahmslosen Ungeheuern allein zu sein. Was in einem Wirbel zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit auf eine rauschhafte, schmerzgeborene Wunschvorstellung zusteuert, die Endformel eines utopischen Glücks:

»Wäre ich doch nie geboren worden, nie geboren, nie.« Unheimlich, wie dieser Satz da plötzlich gleichsam gemeißelt vor meinem inneren Auge stand – und dort stehenblieb, bis heute, 70 Jahre danach ... Hier war der innerste Kreis des Individuums angetastet worden. In seinem berühmten Traktat Die Tortur schrieb Jean Améry: »Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust, der Faust des Folterers, gegen den es keine Wehr geben kann, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken.«

Ja! – Ich kann es bestätigen. Ich war dem Tod nicht nur einmal nahe, aber hier war ich ihm am nächsten. Doch wer seine Nähe gespürt hat, der kann gleichzeitig noch etwas anderes beglaubigen: die Erkenntnis, dass es nichts Kostbareres, nichts Großartigeres, nichts Schützenswürdigeres gibt als das Leben, der allerhöchste Wert – das Leben!

Odyssee Deshalb habe ich Ihnen die brachiale Ouvertüre meiner Dankesrede zugemutet. Erst vor diesem elementaren Hintergrund wird erkennbar, wie grausam es sein muss, mitzuhelfen, Leben zu beenden, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Was umso grausamer ist, wenn es sich dabei um den geliebtesten Menschen handelt.

Davon will ich hier sprechen – vom Leben und Sterben meiner Frau Helga Giordano. Sie war das Glück und der Reichtum meines Lebens, über 40 Jahre hin, nachdem wir uns bald nach der Befreiung kennengelernt hatten, im August 1945. Alles, was in mir gut ist – und da ist keineswegs alles gut, wie in jedem von uns –, all das hat sie mobilisiert. Egal, ob nach langer oder kurzer Trennung, bei ihrem Anblick wurde die Welt licht – eine wunderbare Erfahrung, die ich ihr verdankte.

Sie war zehn Jahre älter als ich, eine Dekade, die keine andere Wirkung hatte, als die Bindung umso unverbrüchlicher zu machen. Ihr Lieblingslied war »Mr. Sandman«, ihre Lieblingssendung (wie die meine) der britische Dauerbrenner Der Doktor und das liebe Vieh. Sie aß gern und hatte eine unnachahmliche Fertigkeit, ihre Korpulenz zu ironisieren. Das Gesicht war so wunderbar geblieben wie am ersten Tage unserer Begegnung. Ein Dasein ohne sie war nicht vorstellbar.

Im März 1981 dann die Diagnose – Krebs. Gefolgt von dreidreiviertel Jahren zwischen Hoffen und Bangen. Mal kletterten, mal sanken die Werte bei den regelmäßigen Messungen. Bis sie immer höher stiegen, die Metastasen das Hirn erreichten und der Griff an den Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht immer häufiger wurde. Wie in den schlimmsten Zeiten der Verfolgung hatte ich nur einen Wunsch: aus einem schrecklichen Traum zu erwachen.

Hilfe Im November 1984 dann die Gewissheit, das sichere Ende – nur noch wenige Wochen, vielleicht nur Tage –, was vor ihr verborgen gehalten werden musste. Ich kenne keine Situation, die schwerer zu ertragen wäre als diese. Es sei denn meine ebenso flehentlichen wie vergeblichen Bittgänge bei Ärzten, zur Erlösung beizutragen. Selten habe ich mich so allein gefühlt wie bei dieser vergeblichen Odyssee um aktive Sterbehilfe. Fündig wurde ich dann aber doch – damals ein hochvermintes Gelände.

Meine Frau stirbt am 9. Dezember 1984, mit 71 Jahren und in ihrem Bett – durch einen »Eingriff«, den ich mitvorbereitet und gebilligt, von Grund auf gebilligt hatte. Sie geht human aus dem Leben – mit aktiver Sterbehilfe, in einer Situation, an der es nichts zu deuteln gab: Das Allerschlimmste, das Unschilderbare, das Sterben in der Schmerzapokalypse, für die es keine Worte gibt, war ihr erspart geblieben. Der »Helfer« hatte sich nach Recht und Gesetz schuldig gemacht. Ich habe es »Erlösung« genannt, für die es keine Alternative gab.

Was da in seiner Gleichzeitigkeit geschieht, übersteigt eigentlich die Kräfte einer Person: namenlose Trauer um den Tod des geliebtesten Menschen, neben der unsagbaren Erleichterung über die Erlösung. Obwohl ein wortgewohnter Mann, versagt mir an dieser Stelle die Feder.

Wenn ich im Waldteil des Elmshorner Friedhofs vor das Grab trete, vor den großen Stein, auf dem einst auch meine Annalen eingeschlagen sein werden, dann weine ich, wie bei der Bestattung vor 30 Jahren schon. Es ist der Überlebende, der den Preis für ein tiefes Gefühl zahlen muss.

Autonomie Über diesem Sterben lag lange Schweigen, bis ich es nach mehr als 20 Jahren brach. Das aber erst, nachdem die fundamentalistischen Gegner jedweder Sterbehilfe öffentlich das große Wort ergriffen und sich dabei nicht entblödet hatten, die Befürworter »Mörder« und »Faschisten« zu schimpfen, mich eingeschlossen. Wissen diese Leute eigentlich, was sie da tun und wovon sie sprechen? Haben sie eine Vorstellung von dem Druck, der da waltet und der sich in mir bis heute noch nicht völlig verflüchtigt hat? Mithelfen, den Menschen zu töten, der das Kostbarste war, das man hatte?

Ich erkläre hier, dass ich dem »Helfer« dankbar war und dankbar bleiben werde, so lange ich lebe. Und dass ich ihn vielleicht eines Tages fragen werde, ob er nicht mit meinem Einverständnis auch an mich Hand anlegen werde, welche Motive mich dann dazu auch immer leiten mögen. Die Autonomie über mein Leben und Sterben werde ich mir jedenfalls von niemandem nehmen lassen. Ihm würde ich mich auch anvertrauen, wenn mir die eigene Fähigkeit zum letzten Schritt genommen wäre.

Natürlich, wenn es um Leben und Tod geht, schließt sich jede Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit aus. Natürlich flammt bei uns sofort die Schreckensvokabel »Euthanasie« auf, wenn es um Sterbehilfe geht. Aber da ich in der Bundesrepublik keinerlei Nähe zu diesem staatlich angeordneten NS-Massenverbrechen sehe, empört mich dessen Instrumentalisierung, ruft mich der offene Missbrauch auf den Plan, macht mich die Nivellierung von heutiger Sterbehilfe mit der »Tötung unwerten Lebens unterm Hakenkreuz« fassungslos.

Natürlich sind andere Meinungen als die eigene zu achten, solange sie nicht ins Kriminelle verfallen. Aber ich verspüre in mir eine wachsende Abneigung gegen Polemik im öffentlichen Diskurs über Sterbehilfe. Was selbstverständlich Kritik nicht ausschließen oder auch nur einengen soll.

Gerüchte Mich irritieren zum Beispiel ideologische Plattitüden, ebenso wie die Berufung auf »Gottes Willen« oder die »Heiligkeit des Lebens«, unbeeindruckt davon, in welch erbarmungswürdiger Verfassung die Leidenden sich befinden. Auch befremdet es mich, wenn Verweigerer jedweder Sterbehilfe so tun, als ob die Folge einer Legalisierung in allererster Linie gierigen Enkeln und Erben zugutekommen würde. Selbstverständlich kann es solche Fälle geben, wer leugnet das?

Aber sie ins Exemplarische zu erhöhen und damit Fortschritte auf dem Gebiet der Sterbehilfe zu verzögern oder sie gar zu verhindern, das bleibt dann doch wohl mehr als fragwürdig. Überhaupt – warum wird auch auf diesem Gebiet zuerst wieder an potenzielle Täter von morgen gedacht und nicht an die realen Opfer eines grausamen Sterbens, wie es Tag um Tag mitten unter uns weiter stattfindet? Was schließlich ist wahr an den beunruhigenden Gerüchten, dass von manchen Medizinern das Sterben eines Patienten als persönliche Niederlage aufgefasst wird? Und was stimmt davon, dass andere Ärzte durchaus Sterbehilfe in ihrer letzten Konsequenz leisten möchten, es jedoch infolge der hiesigen Rechtsunsicherheit nicht wagen?

Bleibt nur zu hoffen, dass auf diesem in Deutschland so ungut aufgeschobenen Gebiet dennoch manches von humaner Hand geschieht, was Menschen vor ihrem letzten Atemzug die allergrößte Qual ersparen hilft. Es gibt keine pauschale oder generalisierende Sterbehilfe, und es kann sie nicht geben. Worauf es ankommt, ist der Einzelfall. Zum Beispiel auf den der Hanne P., eine Frau in meinem Alter, und eine Telefonfreundschaft über 20 Jahre hin, eine vokale Korrespondenz über alles, was das Leben so bietet, mit wachsender Vertrautheit, bis hinein in ein Stadium der Schmerzen und der Schwäche, die das Dasein fraglich machten. Ich wurde Zeuge, wie die Flamme langsam erlosch, der Wunsch nach Erlösung immer stärker wurde. Er wird erhört – Hanne P. stirbt human.

Freitod Nun verleiht mir die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben den Arthur-Koestler-Sonderpreis 2014 – für mein Lebenswerk, wie es heißt. Ich bedanke mich dafür, sehr angetan, dass die Auszeichnung den Namen des großen britischen Schriftstellers, Journalisten und Menschenrechtlers trägt, Autor des weltberühmten Buches Sonnenfinsternis, dieser Abrechnung mit den mörderischen Ismen des 20. Jahrhunderts »Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus«. (…)

Koestlers Freitod am 1. Mai 1983 in London überraschte nur den, der nichts ahnte von den inneren Dämonen, von denen diese Generation heimgesucht und mancher auch überwältigt wurde. Darunter Jean Améry, Primo Levi, Paul Celan und viele andere, die unbekannt geblieben sind. Ich kenne die Etappen bis hin zu dieser Entscheidung und respektiere ihre Qualen und ihre Motive. Sehr fern von ihnen war keiner, der die grausamen Ismen des 20. und 21. Jahrhunderts am eigenen Leibe zu spüren bekam. (…)

Auszug aus der Dankesrede des Autors zur Verleihung des Arthur-Koestler-Sonderpreises 2014 der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben am 14. November in Berlin

Donnerstag, 8. Mai 2014

LEAR und andere - Letzte Worte


GELIEBTER MÖRDER

Der Aussage seines Arztes zufolge soll Goethe sein langes Leben mit den Worten: "Mehr Licht!" beendet haben, leider war der Doktor zum entscheidenden Zeitpunkt nicht selbst anwesend, so dass wir nicht sicher sein können, ob das stimmt. Und so, oder ähnlich ist es mit fast allen letzten Äußerungen berühmter Leute, aber bei manchen dieser posthum bekannt gewordenen Sätze, wäre es schön, wenn sie gesagt worden wären.


PETRUS ABAELAEDUS:
Ich weiß es nicht. 
21. April 1142

BRENDAN BEHAN: 
Gott segne Sie, Schwester. Mögen alle Ihre Söhne Bischöfe werden. 
zu der Nonne, die ihn pflegte am 20. März 1964

FRANÇOISE RABELAIS:
Lasst den Vorhang herunter; die Farce ist zu Ende."  
9. April 1553

IMMANUEL KANT:
Es reicht.
12. Februar 1804

W.C. FIELDS (als Vorschlag für deine Grabstein-Inschrift): 
Alles in allem, wäre ich lieber in Philadelphia.

STEVE JOBS
Oh wow. Oh wow. Oh wow. 

05. Oktober 2011

ARTHUR CONAN DOYLE: 
Du bist wunderbar.
zu seiner Frau Jean, 7. Juli 1930

Im König Lear liegt der böse böse Bastard Edmund Gloucester, gut erkennbares Vorbild des Franz Mohr, erschlagen von seinem ehelichen Bruder Edgar noch einige Zeit auf der Bühne rum und stammelt?, haucht?, bellt? letzte Sätze hervor. Er kann nicht aufhören. Ein wenig Selbstlob, ein bisschen schlechtes Gewissen und dann eine Überraschung, nicht als allerletzte Worte, aber doch fast: Kent betritt die Bühne mit einem blutigen Messer, er teilt den wenigen anwesenden Überlebenden mit, dass Lears Töchter tot seien, Reagan vergiftet von der Schwester Goneril, die sich dann selbst mit eben diesem Messer den Tod gegeben hat. Die beiden Frauen sterben, nach Shakespeare, im Off, der Vater wird nur die dritte und jüngste Tochter betrauern.

KENT:
Mein Gott! Warum? 
EDMUND:
              Doch Edmund wurd geliebt:
Die eine gab der andern Gift um mich,
Und danach sich den Tod.

ALBANY:
Ganz so. Deckt die Gesichter.

Das ist wunderbar. 
Doch Edmund wurde geliebt! Man kann entscheiden, ob das "doch"  meint, alle anderen wären nicht geliebt worden, oder, dass er trotz seiner menschlichen Defizite, trotz des 'Makels' seiner Geburt, doch liebens-würdig gewesen ist. 
 


Tod einer Jungfrau 
Detail
1606
Michelangelo Merisi da Caravaggio
 
KENT:
Alack! why thus?
EDMUND:
              Yet Edmund was belov'd:
The one the other poison'd for my sake,
And after slew herself.
ALBANY:
Even so. Cover their faces.