Montag, 24. November 2014

Namenlose Trauer, unsagbare Erleichterung - Ralph Giordano zur Sterbehilfe


»Namenlose Trauer, unsagbare Erleichterung«

Ralph Giordano über den Tod seiner Frau Helga, die Autonomie über das eigene Leben und die Verlogenheit der Debatte um ärztlich assistierten Suizid

20.11.2014 – von Ralph GiordanoRalph Giordano


Ralph Giordano

© dpa

August 1944, Johannisbollwerk, Dependance der Gestapo-Leitstelle Hamburg. Die beiden Herren, die mich hierhergebracht haben, entledigen sich wortlos ihrer Ledermäntel. Dann trifft mich der erste Schlag in die Magengrube. Ich falle vom Stuhl und bleibe auf der Erde liegen, punktuell getroffen, aber mit Wirkung auf den ganzen Körper. Ich werde hochgerissen und weiter geschlagen, wahllos, eine Art boxerisches Trommelfeuer, das den Schmerz verstreut, über die ganze Hautfläche bis hinein in jede Pore, ohne dass eine Schmerzmilderung eintritt.

Die beiden Gestapomänner, beide um die 40 herum, verrichten ihr Werk routiniert. Sie dreschen auf mich ein, machen eine Pause, schlagen weiter und – reden dabei von etwas ganz anderem. Sie sprechen von Tomatenstauden, die sie auf ihren Balkons hegen und pflegen, über ihre Düngung und eine spezielle Sorte, die besonders fest ist.

»Rassenschande« Das Codewort für meine Verhaftung: »Rassenschande«. Noch kriege ich mit, was sie da absondern, noch erfasse ich, was da passiert, aber langsam verschwimmt die Wirklichkeit. Hier findet etwas Elementares statt: die summarische Entwürdigung des Ichs zwischen den Polen Gewalt und Wehrlosigkeit. Eine neue Dimension des Zugriffs auf die eigene Person, überflutet von der grauenhaften Vorstellung, im gesamten Kosmos mit diesen beiden teilnahmslosen Ungeheuern allein zu sein. Was in einem Wirbel zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit auf eine rauschhafte, schmerzgeborene Wunschvorstellung zusteuert, die Endformel eines utopischen Glücks:

»Wäre ich doch nie geboren worden, nie geboren, nie.« Unheimlich, wie dieser Satz da plötzlich gleichsam gemeißelt vor meinem inneren Auge stand – und dort stehenblieb, bis heute, 70 Jahre danach ... Hier war der innerste Kreis des Individuums angetastet worden. In seinem berühmten Traktat Die Tortur schrieb Jean Améry: »Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust, der Faust des Folterers, gegen den es keine Wehr geben kann, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken.«

Ja! – Ich kann es bestätigen. Ich war dem Tod nicht nur einmal nahe, aber hier war ich ihm am nächsten. Doch wer seine Nähe gespürt hat, der kann gleichzeitig noch etwas anderes beglaubigen: die Erkenntnis, dass es nichts Kostbareres, nichts Großartigeres, nichts Schützenswürdigeres gibt als das Leben, der allerhöchste Wert – das Leben!

Odyssee Deshalb habe ich Ihnen die brachiale Ouvertüre meiner Dankesrede zugemutet. Erst vor diesem elementaren Hintergrund wird erkennbar, wie grausam es sein muss, mitzuhelfen, Leben zu beenden, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Was umso grausamer ist, wenn es sich dabei um den geliebtesten Menschen handelt.

Davon will ich hier sprechen – vom Leben und Sterben meiner Frau Helga Giordano. Sie war das Glück und der Reichtum meines Lebens, über 40 Jahre hin, nachdem wir uns bald nach der Befreiung kennengelernt hatten, im August 1945. Alles, was in mir gut ist – und da ist keineswegs alles gut, wie in jedem von uns –, all das hat sie mobilisiert. Egal, ob nach langer oder kurzer Trennung, bei ihrem Anblick wurde die Welt licht – eine wunderbare Erfahrung, die ich ihr verdankte.

Sie war zehn Jahre älter als ich, eine Dekade, die keine andere Wirkung hatte, als die Bindung umso unverbrüchlicher zu machen. Ihr Lieblingslied war »Mr. Sandman«, ihre Lieblingssendung (wie die meine) der britische Dauerbrenner Der Doktor und das liebe Vieh. Sie aß gern und hatte eine unnachahmliche Fertigkeit, ihre Korpulenz zu ironisieren. Das Gesicht war so wunderbar geblieben wie am ersten Tage unserer Begegnung. Ein Dasein ohne sie war nicht vorstellbar.

Im März 1981 dann die Diagnose – Krebs. Gefolgt von dreidreiviertel Jahren zwischen Hoffen und Bangen. Mal kletterten, mal sanken die Werte bei den regelmäßigen Messungen. Bis sie immer höher stiegen, die Metastasen das Hirn erreichten und der Griff an den Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht immer häufiger wurde. Wie in den schlimmsten Zeiten der Verfolgung hatte ich nur einen Wunsch: aus einem schrecklichen Traum zu erwachen.

Hilfe Im November 1984 dann die Gewissheit, das sichere Ende – nur noch wenige Wochen, vielleicht nur Tage –, was vor ihr verborgen gehalten werden musste. Ich kenne keine Situation, die schwerer zu ertragen wäre als diese. Es sei denn meine ebenso flehentlichen wie vergeblichen Bittgänge bei Ärzten, zur Erlösung beizutragen. Selten habe ich mich so allein gefühlt wie bei dieser vergeblichen Odyssee um aktive Sterbehilfe. Fündig wurde ich dann aber doch – damals ein hochvermintes Gelände.

Meine Frau stirbt am 9. Dezember 1984, mit 71 Jahren und in ihrem Bett – durch einen »Eingriff«, den ich mitvorbereitet und gebilligt, von Grund auf gebilligt hatte. Sie geht human aus dem Leben – mit aktiver Sterbehilfe, in einer Situation, an der es nichts zu deuteln gab: Das Allerschlimmste, das Unschilderbare, das Sterben in der Schmerzapokalypse, für die es keine Worte gibt, war ihr erspart geblieben. Der »Helfer« hatte sich nach Recht und Gesetz schuldig gemacht. Ich habe es »Erlösung« genannt, für die es keine Alternative gab.

Was da in seiner Gleichzeitigkeit geschieht, übersteigt eigentlich die Kräfte einer Person: namenlose Trauer um den Tod des geliebtesten Menschen, neben der unsagbaren Erleichterung über die Erlösung. Obwohl ein wortgewohnter Mann, versagt mir an dieser Stelle die Feder.

Wenn ich im Waldteil des Elmshorner Friedhofs vor das Grab trete, vor den großen Stein, auf dem einst auch meine Annalen eingeschlagen sein werden, dann weine ich, wie bei der Bestattung vor 30 Jahren schon. Es ist der Überlebende, der den Preis für ein tiefes Gefühl zahlen muss.

Autonomie Über diesem Sterben lag lange Schweigen, bis ich es nach mehr als 20 Jahren brach. Das aber erst, nachdem die fundamentalistischen Gegner jedweder Sterbehilfe öffentlich das große Wort ergriffen und sich dabei nicht entblödet hatten, die Befürworter »Mörder« und »Faschisten« zu schimpfen, mich eingeschlossen. Wissen diese Leute eigentlich, was sie da tun und wovon sie sprechen? Haben sie eine Vorstellung von dem Druck, der da waltet und der sich in mir bis heute noch nicht völlig verflüchtigt hat? Mithelfen, den Menschen zu töten, der das Kostbarste war, das man hatte?

Ich erkläre hier, dass ich dem »Helfer« dankbar war und dankbar bleiben werde, so lange ich lebe. Und dass ich ihn vielleicht eines Tages fragen werde, ob er nicht mit meinem Einverständnis auch an mich Hand anlegen werde, welche Motive mich dann dazu auch immer leiten mögen. Die Autonomie über mein Leben und Sterben werde ich mir jedenfalls von niemandem nehmen lassen. Ihm würde ich mich auch anvertrauen, wenn mir die eigene Fähigkeit zum letzten Schritt genommen wäre.

Natürlich, wenn es um Leben und Tod geht, schließt sich jede Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit aus. Natürlich flammt bei uns sofort die Schreckensvokabel »Euthanasie« auf, wenn es um Sterbehilfe geht. Aber da ich in der Bundesrepublik keinerlei Nähe zu diesem staatlich angeordneten NS-Massenverbrechen sehe, empört mich dessen Instrumentalisierung, ruft mich der offene Missbrauch auf den Plan, macht mich die Nivellierung von heutiger Sterbehilfe mit der »Tötung unwerten Lebens unterm Hakenkreuz« fassungslos.

Natürlich sind andere Meinungen als die eigene zu achten, solange sie nicht ins Kriminelle verfallen. Aber ich verspüre in mir eine wachsende Abneigung gegen Polemik im öffentlichen Diskurs über Sterbehilfe. Was selbstverständlich Kritik nicht ausschließen oder auch nur einengen soll.

Gerüchte Mich irritieren zum Beispiel ideologische Plattitüden, ebenso wie die Berufung auf »Gottes Willen« oder die »Heiligkeit des Lebens«, unbeeindruckt davon, in welch erbarmungswürdiger Verfassung die Leidenden sich befinden. Auch befremdet es mich, wenn Verweigerer jedweder Sterbehilfe so tun, als ob die Folge einer Legalisierung in allererster Linie gierigen Enkeln und Erben zugutekommen würde. Selbstverständlich kann es solche Fälle geben, wer leugnet das?

Aber sie ins Exemplarische zu erhöhen und damit Fortschritte auf dem Gebiet der Sterbehilfe zu verzögern oder sie gar zu verhindern, das bleibt dann doch wohl mehr als fragwürdig. Überhaupt – warum wird auch auf diesem Gebiet zuerst wieder an potenzielle Täter von morgen gedacht und nicht an die realen Opfer eines grausamen Sterbens, wie es Tag um Tag mitten unter uns weiter stattfindet? Was schließlich ist wahr an den beunruhigenden Gerüchten, dass von manchen Medizinern das Sterben eines Patienten als persönliche Niederlage aufgefasst wird? Und was stimmt davon, dass andere Ärzte durchaus Sterbehilfe in ihrer letzten Konsequenz leisten möchten, es jedoch infolge der hiesigen Rechtsunsicherheit nicht wagen?

Bleibt nur zu hoffen, dass auf diesem in Deutschland so ungut aufgeschobenen Gebiet dennoch manches von humaner Hand geschieht, was Menschen vor ihrem letzten Atemzug die allergrößte Qual ersparen hilft. Es gibt keine pauschale oder generalisierende Sterbehilfe, und es kann sie nicht geben. Worauf es ankommt, ist der Einzelfall. Zum Beispiel auf den der Hanne P., eine Frau in meinem Alter, und eine Telefonfreundschaft über 20 Jahre hin, eine vokale Korrespondenz über alles, was das Leben so bietet, mit wachsender Vertrautheit, bis hinein in ein Stadium der Schmerzen und der Schwäche, die das Dasein fraglich machten. Ich wurde Zeuge, wie die Flamme langsam erlosch, der Wunsch nach Erlösung immer stärker wurde. Er wird erhört – Hanne P. stirbt human.

Freitod Nun verleiht mir die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben den Arthur-Koestler-Sonderpreis 2014 – für mein Lebenswerk, wie es heißt. Ich bedanke mich dafür, sehr angetan, dass die Auszeichnung den Namen des großen britischen Schriftstellers, Journalisten und Menschenrechtlers trägt, Autor des weltberühmten Buches Sonnenfinsternis, dieser Abrechnung mit den mörderischen Ismen des 20. Jahrhunderts »Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus«. (…)

Koestlers Freitod am 1. Mai 1983 in London überraschte nur den, der nichts ahnte von den inneren Dämonen, von denen diese Generation heimgesucht und mancher auch überwältigt wurde. Darunter Jean Améry, Primo Levi, Paul Celan und viele andere, die unbekannt geblieben sind. Ich kenne die Etappen bis hin zu dieser Entscheidung und respektiere ihre Qualen und ihre Motive. Sehr fern von ihnen war keiner, der die grausamen Ismen des 20. und 21. Jahrhunderts am eigenen Leibe zu spüren bekam. (…)

Auszug aus der Dankesrede des Autors zur Verleihung des Arthur-Koestler-Sonderpreises 2014 der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben am 14. November in Berlin

1 Kommentar: