Samstag, 22. Juni 2013

René Burri - Photograph


René Burri, geboren am 9. April 1933 in Zürich, Mitglied der Magnum Photoagentur seit 1958, wurde international berühmt durch seine Portrait-Aufnahmen von Che Guevara, Pablo Picasso.


"Eine Photographie ist ein Moment – wenn du den Knopf drückst, wird er nie wieder zurückkommen. Dieses Photo ist berühmt dank dem Kerl mit der Zigarre, nicht meinetwegen."

Männer auf einem Dach, Sao Paulo, Brasilien, 1960

"Vielleicht bin ich noch immer auf der Suche nach dem, was sich hinter dem Horizont befindet. Dabei kann es um uns sein oder gleich hinter mir." 

Gesundheitsministerium entworfen von Otto Niemeyer, Rio de Janeiro, 1960

Landschaft Brasilien, 1960


Mexico City. San Cristobal. 1976 

Rio de Janeiro, Brasilien, 1967

Alle Photographien © René Burri / Magnum

Freitag, 21. Juni 2013

Nenne mich Tiernamen!


Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Genesis 1/26

Nach der "Bullenhitze" gestern habe ich angefangen darüber nachzudenken, wie wir Tiernamen anderen Worten einverleiben, um sie bildhafter zu machen oder auch sie in Eigenschaftswörter verwandeln, und manchmal ist die Verbindung glasklar und manchmal ...
Hund und hündisch ist merkwürdig, die vielgepriesene Treue und Dienstbarkeit des "besten Freundes des Menschen", wird zu willenloser Unterwerfung und verächtlicher Mißbrauchbarkeit. Hundsfott ist ein wirklich fieses Schimpfwort. 

Burschenschaftslied aus dem 19. Jahrhundert
Landesvater

So nimm ihn hin,
dein Haupt will ich bedecken
und drauf den Schläger strecken,
es leb auch dieser Bruder hoch!
Ein Hundsfott, wer ihn schimpfen sollt!
|: So lange wir ihn kennen,
woll'n wir ihn Bruder nennen,
es leb auch dieser Bruder hoch!
Ein Hundsfott, wer ihn schimpfen sollt!


Friedrich Silcher, 1823
Die Hundstage wurzeln in der Sichtbarkeit des Sternbildes Großer Hund zu Zeiten des römischen Reiches (Ende Juli bis Ende August) und nicht, wie ich vermutet habe, von der Hitze in der man keinen Hund vor die Tür jagen würde, weil er dann nur matt und hechelnd herumläge. Hundewetter, verhunzen (ehemals verhundzen), hundsgemein. Und wieso hundsgemein, es mag gemeine Hundehalter geben, aber Hunde? 

Das dumme Rindvieh, die blöde Kuh, der gemeine Schweinekerl, der idiotische Schafskopf, die zickige Zicke, die böse Schlange, das dumme Kamel, der Piepvogel, den man hat, und das kleine Spatzenhirn, der geile Bock, die anschmiegsame Schmusekatze, die süße Maus, der dumpfe Hornochse, die lockere Bordsteinschwalbe, das grunzende Trüffelschwein, die fette Sau, das fleissige Bienchen, das feige Hasenherz, das untergeschobene Kuckuckskind, der sture Esel, der gierige Kredithai, das anmutige Reh - sie alle müssen für 
unsere Beschreibungszwecken herhalten und die stummen Tiere können sich 
nicht wehren. Auch, wenn Egon Olsens Pläne immer ausgefuchst waren, scheiterten sie regelmäßig, was kann der Fuchs dafür? Die Wasserratte, die Leseratte, sowie den Bücherwurm mag ich gern. Lammfromm heißt wohl eher, dass es jemand faustdick hinter den Ohren hat, oder?

 Hornochse © Karsten Hoerenz

Der Lackaffe:
Wahrscheinlich von Lakai, Lackel, wie auch in Dämlack für einen groben, ungehobelten, ungeschlachten Mann oder, so kenne ich es, als Bezeichnung eines eitlen Gecken.
Anderen Darstellungen zufolge steckt die Wurzel des Begriffs in dem mittelhochdeutschen Wort lachboum, das einen (großen) Grenzbaum bezeichnet. Auf diese Wurzel ist auch das heute noch in einzelnen Gebieten Österreichs häufig gebrauchte Dialektwort Klachel zurückzuführen, das als Synonym für Lackel verwendet wird, aber auch ein großes Stück Holz, einen Klotz, bedeutet.
Wiktionary 
Oder wurzelt der Lackaffe in den Lackschuhen feiner Herren?

Sind Affen affengeil?

Die Zimtzicke:
Mit der Zicke ist tatsächlich das Tier gemeint, das ja auch in "alte Ziege" und ähnlichen Titulierungen wegen seines Meckerns eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung für Frauen ist. "Zimt" ist allerdings nicht das Gewürz, sondern stammt vom gleichlautenden rotwelschen Wort, das eigentlich Gold oder Geld bedeutete. Seit dem 19. Jahrhundert wurde dies mundartlich ins Gegenteil verkehrt und meinte dann wertloses Zeug, Plunder. Somit ist die Zimtzicke eine Frau, die wegen jedes Zimts, jeder Nichtigkeit rumzickt. 
Hamburger Abendblatt 10.11.11 Gute Frage

Der Salonlöwe ist wohl nur im geschützten Kreis Gleichgestellter laut und mutig?

 Eine Zimtzicke?

Der Hahnrei ist ein Ehemann, dessen Frau fremdgeht und der dies hinnimmt, um den Frieden im Haus nicht zu gefährden; im Gegensatz zu vielen anderen betrogenen Ehemännern macht ein Hahnrei keinerlei Anstalten, sich für den Ehebruch seiner Frau zu rächen (in früheren Zeiten zum Beispiel dadurch, dass er den Nebenbuhler straffrei umbrachte). Damit verstieß er damals sowohl gegen die weltlichen wie gegen die kirchlichen Gesetze und beging sogar eine Todsünde. Die Öffentlichkeit reagierte auf solches Verhalten mit vielerlei Erniedrigungen des Hahnreis. So wurde er mit Hörnern oder einem Geweih ausgestattet und rückwärts auf einen Esel gesetzt, den man dann durch die ganze Stadt führte. 
Wiktionary
 
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Spiegelberg (mit einem stolzen Gelächter). Armer Tropf! aus dieser Lage reißen? hahaha! – aus dieser Lage reißen? – und auf mehr raffiniert dein Fingerhut voll Gehirn nicht? und damit trabt deine Mähre zum Stalle? Spiegelberg müßte ein Hundsfott sein, wenn er mit dem nur anfangen wollte. Zu Helden, sag ich dir, zu Freiherrn, zu Fürsten, zu Göttern wird's euch machen! 
Schiller Die Räuber

Donnerstag, 20. Juni 2013

Bullenhitze


    Wiki sagt: Den Begriff Hitze verwendet man umgangssprachlich für Wärme, 

    wenn dabei ungewöhnlich hohe Temperaturen auftreten. Ich würde also hier 
    den Begriff Hitze verwenden, um die Temperatur der letzten beiden Tage zu 
    beschreiben. Eine Bullenhitze! Man sitzt und schwitzt. Leider muß man aber 
    gelegentlich auch laufen und dann läuft auch der Schweiß. 
    Das hiesige Theater hat ungewöhnlich viele verschiedene Temperaturzonen, 
    Bühne gemäßigt, Garderobengang subtropisch, Fundus äquatorial, und aus 
    unerfindlichen Gründen ist es in der Toilette ganz unten im Keller ziemlich 
    kalt. Eine Reise durch die Klimaregionen unserer Welt in wenigen Schritten. 
    Wir probieren "Cyrano de Bergerac" und die Darsteller der Kadetten oder die 
    Musketiere, eine Ba-Rockgang in schwerem Leder, einer zusätzlich noch mit 
    umfangsteigerndem Waton, erleben die Freuden eines ausgedehnten 
    Saunabesuches, ohne die Bühne verlassen zu müssen. Und während des 
    ausgedehnten Saunaganges müssen sie auch noch kämpfen, stampfen und 
    fechten und dabei "cool" wirken. Dass überhaupt noch jemand mit mir spricht, 
    ist ein kleines Wunder!
    Gestern abend hab ich hitzefrei gegeben.


Heim-Dampfbad /-Sauna mit 850 Watt Generator
newgen medicals Portables 

 
https://www.youtube.com/watch?v=PlMWW4R1ZBM
    Ella Fitzgerald mit "Too darn hot" aus dem Musical Kiss Me Kate, Dagmar 
    Manzel singt das in Berlin in der Komischen Oper und ist fabelhaft!

    Offizieller Hitzerekord für Deutschland sind 40,2 Grad Celsius am 13. August 

    2003 in March im Breisgau, worüber die Bewohner der Greenland Ranch im 
    Death Valley nur müde lächeln würden, weil es bei ihnen bis zu 56,7 Grad heiß 
    werden kann.



Mittwoch, 19. Juni 2013

Theater hat lange Tage bis hinein in die Nacht


Acht Uhr früh in Deutschland, zu früh für Menschen, die bis zweiundzwanzig Uhr probiert haben, beginnt die Beleuchtungsprobe. Fünf Akte, circa fünfzig verschiedene Stimmungen. Heute bis zur Pause und Morgen der Rest. Nach Zehn Stunden brennen die Augen und der Hintern imitiert aus stundenlanger Gewohnheit die Form eines unbequemen Theatersessels. Zum Glück sind alle Beteiligten entspannt und bei der Sache, ABER - weisses Licht, gelbes Licht, tiefroter Vorhang, grüner Hintergrund, terrakotta-farbene Wände, meine erste "volle" Bühne seit langem. Und sie dreht sich. Stimmungen, Situationen verändern sich im Stück abrupt. Soll das Licht mitmachen oder dagegenhalten?  Da steht einer einsam ganz links. Soll er ein extra Licht bekommen oder durch Dunkelheit auffallen? Um achtzehn Uhr ist Pause, eine Stunde später kommen die Spieler. Sie sollen das Gleiche spielen, aber einen halben Meter weiter links oder mit einer Sekunde Verzögerung. Ich liebe es und hasse es. So viele Verabredungen, Notwendigkeiten und die Freiheit des Spiels muß danach wieder hart erarbeitet werden. Warum nicht einfach das Arbeitslicht anmachen und losspielen? Aber Magie oder zumindest Verzauberung benötigt Genauigkeit, unzählige Details und Konzentration und dann, mit dem Wissen um all dies, die glaubhafte Behauptung von Zufälligkeit. Die Naivität der ersten Proben wird getötet und muß mit harter Arbeit wieder erobert werden, damit am Ende, bzw. am Anfang, zur Premiere, alle wieder so spielen können, als wäre es das erste Mal. Entjungferung als imaginierter Dauerzustand. Das erste Mal zum  fünfzehnten Mal. Repetition, immer anders, und immer innerhalb der Verabredungen, Anarchie in der strengsten Organisation. Welch ein Irrsinn, welch eine Kunstfertigkeit! Es ist neunzehn Uhr dreissig, seien Sie bitte spontan! Und da quatschen einige Dilettanten von Authentizität. Ich ziehe die glaubhafte Lüge dem leichtfertigen Zufallstreffer vor. Theater ist, wenn die Zuschauer bewusst und vergnügt ihr Mißtrauen beiseite lassen, nicht, wenn ich ihnen einrede hier wäre alles echt.
Nichts ist echt und Alles ist wahr, Alles ist festgelegt und Vieles, das niemand erwartet, kann passieren. Theater.



Montag, 17. Juni 2013

Maria Lassnig - Malerin


Ja. Nullkommajosef Selbstvertrauen!

Maria Lassnig geboren 8. September 1919 in Kappel am Krappfeld, Kärnten -
österreichische Malerin

Krankenhaus
2005, Private Collection © 2008 Maria Lassnig

SZ: Sie malen "Körperbewusstseinsbilder". So haben Sie sie mal genannt. Können Sie das erläutern?
Lassnig: Also: Wenn man zum Beispiel das Knie anwinkelt, bekommt man ein bestimmtes Körpergefühl, einen Druck, der sich im Körper fortpflanzt, weitervermittelt, und das malt man dann. Das ist mir nur irgendwann aufgefallen. Weil ich diesen Körperdruck gespürt habe. Ich habe meine Bilder, das begann um 1949 herum, dann "introspektive Erlebnisse" getauft.

Selbstportrait mit Meerschweinchen
2000-2001 Courtesy of the artist, © Maria Lassnig.

SZ: Kann man mit Kunst eigentlich die Gesellschaft, das Leben der Menschen beeinflussen?
Lassnig: Die Welt lernt sowieso nix aus der Kunst. Heute vielleicht, durch die Werbung. Der André Malraux zum Beispiel, der französische Kulturminister nach dem Krieg, der hat auf die Welt eingewirkt. Selber hat er auch geschrieben und gewusst, wo es mit der Kunst langgeht. Als Schreiber kann man's also schon! Aber als Maler nicht. Bilder sind zu beiläufig, die Fotografie, fast alle Künstler sind zu beiläufig. Die meisten Menschen merken die Kunst ja gar nicht.

Dame in Plastik
2005, Courtesy the artist, Hauser & Wirth Zürich London and Friedrich Petzel Gallery, New York, © 2008 Maria Lassnig.

SZ: Einmal haben Sie unter eine Ihrer Zeichnungen geschrieben: "Sehr gutes Blatt".
Lassnig: Ich hab' gefürchtet, die anderen werden's nicht finden. Ein Scherz, eigentlich.

Alle Zitate sind aus einem Interview, das Holger Liebs mit der Malerin für die Süddeutsche Zeitung führte. Süddeutsche.de Kultur vom 17. Mai 2010
http://www.sueddeutsche.de/kultur/im-gespraech-maria-lassnig-nullkommajosef-selbstvertrauen-1.394514-5

Sonntag, 16. Juni 2013

Pap­per­la­papp, Firlefanz und Schnickschnack




Weitere Angebote in meinem kleinen Privatfeldzug zur Wiederbelebung schöner austerbender oder schon fast ganz vergessener Worte. 
Heute: Ausdrücke und Ausrufe der Verblüffung, Verwunderung, Ablehnung, des Unverständnisses oder der Verärgerung. Dann wenn wir "Wow!", "Du willst wohl mich verarschen?" oder "Schwachsinn!" stammeln, könnten wir doch auch eins der folgenden Kleinode verwenden und unser Gegenüber verblüffen und womöglich sprachlos zurücklassen.

Pap­per­la­papp - Nein! Gar nicht! Unsinn!  
Papperlapapp ist lautgemalt und  kommt von "pappeln", "babbeln" oder plappern. Pappeln werden manchmal die Stimme des Volkes genannt, da sie beim kleinsten Windhauch flüstern und wispern und sich miteinander zu unterhalten scheinen. Oder es stammt, wie pappesatt, von einer untergegangenen Bedeutung des Wortes Pappe, was einst ein mittelneuhochdeutsches Wort war, nämlich pappe, das von mittellateinisch pappa = Kinderbrei herrührt, das wiederum schlicht von lat. pappare = essen kommt.
 

Firlefanz - unnötiger Kram - vom mittelhochdeutschen "firli fanz", das einen lustigen Springtanz bezeichnet; "firli" geht eventuell zurück auf das altfranzösische "virlei" = "Ringellied". "Firlefanz" ist also der "Tanz zum Ringellied.

Schnickschnack - leeres Gerede, überflüssiges Zeugs - von niederdeutsch schnacken oder snacken, was reden, quatschen heißt, dann verdoppelt.

Kokolores - Quatsch!
Herkunft nicht geklärt; womöglich abgeleitet vom mittelniederdeutschen gokeler, das für Gaukler steht.
Oder Herkunft aus der Berliner Szene um 1930, in der Kokain konsumiert wurde, unter Konsum kommt es u. a. zu einer Logorrhö, so wurde dieses Phänomen als Kokolores bezeichnet. 
Alternativ wird der Ausdruck mit dem Ruf des Hahns in Verbindung gebracht. (Wiktionary)

Kladderadatsch - chaotischer Zustand, heilloses Durcheinander, Zusammentreffen unglücklicher Umstände - soll vom Geräusch von fallendem Glas herstammen, berlinerisch für "ein klatschender, klirrender Fall".

Ei der Daus! - Ist ja verrückt! Das haut mich um! - Wiki sagt: Ei der Daus! ist seit dem 15. Jahrhundert belegt. Zunächst bedeutete es „Betrüger“, in der niederdeutschen Sprache auch „Teufel“, seit dem 18. Jahrhundert ist die Bedeutung „Teufelskerl“ bezeugt. Möglicherweise findet sich in einem Teil dieser Bedeutungen ein für die galloromanischen Sprachen bezeugtes Wort für „Dämon“ wieder, das in mittellateinischer Sprache „dusius“ lautete. Der in der Wendung angerufene Daus wäre demnach eine euphemistische Entstellung des Wortes „Teufel“ wie man sie zum Beispiel auch vom Wort „Tausend“ kennt. In Mecklenburg ruft man beispielsweise „Dus un Düwel!“ („Tausend und Teufel“) oder „Potz Dus!“ („Potz Tausend“) aus.

Sapperlot! - Was ist nun schon wieder los! Verdammt! - von Sakrament, dann zu sackerment - sapperment - sackerlot - sapperlot
auch: Potz Schlapperment!

Verflixt! - Schönfärberische Form von verflucht.
 




DAS WORT

Das eigene Wort,
wer holt es zurück,
das lebendige, eben noch ungesprochene Wort?

wo das Wort vorbeifliegt,
verdorren die Gräser,
werden die Blätter gelb,
fällt Schnee.
Ein Vogel käme dir wieder.
Nicht dein Wort,
das eben noch ungesagte,
in deinen Mund.
Du schickst andere Worte hintendrein,
Worte mit bunten, weichen Federn.
Das Wort ist schneller,
das schwarze Wort.
Es kommt immer an,
es hört nicht auf
anzukommen.
Besser ein Messer als ein Wort.
Ein Messer kann stumpf sein.
Ein Messer trifft oft
am Herzen vorbei.
Nicht das Wort.
Am Ende ist das Wort,
immer
am Ende
das Wort.

Begegnet ihr ihm irgendwann
an irgend einer Stell
dann sagt es uns
dann sagt es uns
dann sagt es uns ganz schnell.

Hilde Domin

Samstag, 15. Juni 2013

Wer hat die Kokosnuss geklaut?



DIE AFFEN RASEN DURCH DEN WALD

Die Affen rasen durch den Wald,
Der eine macht den andern kalt,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Wo ist die Kokosnuss?
Wo ist die Kokosnuss?
Wer hat die Kokosnuss geklaut?”

Die Affenmama sitzt am Fluss
Und angelt nach der Kokosnuss,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Wo ist die Kokosnuss?
Wo ist die Kokosnuss?
Wer hat die Kokosnuss geklaut?”

Der Affenonkel, welch ein Graus,
Reißt ganze Urwaldbäume aus,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Wo ist die Kokosnuss?
Wo ist die Kokosnuss?
Wer hat die Kokosnuss geklaut?”

Der Affenmilchmann, welch ein Schlick,
Er lauert auf die Kokosmilch,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Wo ist die Kokosnuss?
Wo ist die Kokosnuss?
Wer hat die Kokosnuss geklaut?”

Der Elefant im Urwald spricht:
Hier in dem Dickicht ist sie nicht,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Wo ist die Kokosnuss?
Wo ist die Kokosnuss?
Wer hat die Kokosnuss geklaut?”

Die Affenbraut denkt selbst beim Kuss
Nur immer an die Kokosnuss,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Wo ist die Kokosnuss?
Wo ist die Kokosnuss?
Wer hat die Kokosnuss geklaut?”
 
Da ruft der Affenopapa:
Die Kokosnuß ist wieder da;
Die ganze Affenbande brüllt:
Ja, ja die Kokosnuß,
ja, ja, die Kokosnuß,
die Kokosnuß ist wieder da!

Das Affenbaby voll Genuss
Hält in der Hand die Kokosnuss,
Die ganze Affenbande brüllt:
“Hier ist die Kokosnuss!
Hier ist die Kokosnuss!
Es hat die Kokosnuss geklaut”


 Variant:

Die Sowjets und die USA,
die rüsten "nach" schon manches Jahr;
ob Ost, ob West, ein jeder brüllt:
"Ihr habt das Gleichgewicht,
Ihr habt das Gleichgewicht,
Ihr habt das Gleichgewicht gestört!"

Die Bonzen am Verhandlungstisch,
beschuldigen sich gegenseitig,
und jeder Unterhändler brüllt; ...
...
Doch wir durchschaun das miese Spiel,
denn was zuviel ist, ist zuviel;
weshalb ein jeder von uns brüllt:
Schmeißt die Raketen weg,
schmeißt die Raketen weg!
Wir wollen Frieden für die Welt!"

Die Liedersammlung stammt aus der Protestbewegung gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss, 
die 1983 ihren Höhepunkt erlebte. Das Lied "Die Sowjets und die USA" nimmt in der 4. Strophe 
Bezug auf eine Aussage des damaligen Bundesministers des Innern, Friedrich Zimmermann (CSU), der (wie die "Frankfurter Rundschau" am 14. Juli 1983 berichtete) anlässlich der Sitzblockaden von Nachrüstungsgegnern vor Kasernen und Waffendepots meinte: "Gewaltloser Widerstand ist auch Gewalt" (zit. nach Peter Köhler: Die besten Zitate der Politiker. Mehr als 1000 der prägnantesten Sprüche. 2. überarbeitete u. aktualisierte Aufl. Hannover 2008, S. 98


Freitag, 14. Juni 2013

Theater hat auch neue Texte



"Good Morning Boys and Girls"  
von Juli Zeh

Ein Stück über einen Pubertierenden, den allseits bekannten, allseits gefürchteten Amokläufer hochintelligent und vereinsamt, und seine Eltern, natürlich, bürgerlich bis zum Erbrechen, sie, die Mutter, hysterisch und trinkend, er, der Vater, ausschließlich aufgeregt die Schuldfrage abwehrend. Ja, ja die kenne ich schon aus anderen, besseren Texten.

Der zornige junge Mörder-Mann, der, in einer überraschenden Schlußwendung, doch nicht das ausführende Monster ist, sondern, wiederum nur Spielball anderer, bleibt aber leider nur ein Konstrukt der risikolosen Schule neuerer Dramatik. Ein schlaues Stück, aber eben deshalb auch ein unwahres. "Wir sind uns hier heute alle einig, das Leben ist ein wenig komplizierter, als unsere Schulweisheit vermuten läßt, aber nur ein klein wenig". Wie öde, wenn der Autor, die Autorin durchgehend einfache Entscheidungen für mich fällt. Schuldfragen müssen unbedingt beantwortet werden, sonst bleiben leere, dunkle Stellen, und an denen könnte Denken und Verunsicherung einsetzen, o nein. Da erklärt sie uns lieber alles ganz deutlich und genau. Sie versteht uns alle, aber ist doch letztendlich besser, toleranter, weitblickender als wir, sie hat nämlich eine Weltsicht und die sollen wir aber nun bitte mal teilen. Wie bevormundend! Wie öde!

Zwischenbemerkung: die Inszenierung von Marins Eitner-Acheampong war trotzdem großartig, sie hat die Texte musikalisiert, ihnen Widerstand gegeben und die Spieler befreit. Sie leben, sind erkennbar und entklischeesiert.

Und trotzdem bleibt: die Figuren sagen ständig was sie "wirklich" denken, meinen, fühlen, sie verkünden ihre Standpunkte wie Männer, die sich mächtig auf den Brustkorb schlagen oder Frauen die traurig angestrengt mit dem Arsch wackeln. Und es bleibt den Schauspielern eigentlich nix zu spielen übrig, weil ja alles schon ausgesprochen wird.
Niemand, den ich kenne, außer Politiker und Sektenpriester, posaunt ständig seine Standpunkte wie eherne Parolen in die Welt. Wir alle schwindeln, taktieren, versuchen uns durchzuwinden, verharren, stolpern und wagen uns ängstlich oder geckenhaft hervor mit unsreren Gewissheiten. Wir sind fehlbar, unsicher, gefällig und wankelmütig. In solchen Stücken werden wir zu schnell einordenbaren Typen eingefroren, die die Tiefen ihrer Seele immer ganz vorne auf der Zunge liegen haben und sie auch wie unter Zwang ständig ausspucken.

Herr Shakespeare hatte womöglich genug Talent, Zeit und Anarchie, um uns unsere Vieldeutbarkeit zuzugestehen, Hier wird versucht, uns für das Theater leicht verstehbar zu machen. Das ist öde. Und unwahr.
Vielleicht hatte William Shakespeare, der Sohn eines Handwerkers aus Stratford, nur die notwendige Demut, zu akzeptieren, dass nicht alles schnell erklärbar ist und den verständlichen Zorn darüber, dass es großartig wäre, wenn wir immer wüßten, was wir tun und warum wir es tun.
Einen freundlichen, dankbaren Gruß an Herrn Pollesch.

“Drei Studien Für Ein Portrait Von Lucian Freud”  Francis Bacon

„Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.“
Meyers Konversationslexikon, Vierte Auflage, 1885-1892

Donnerstag, 13. Juni 2013

Zwerg im Märchen



sitzend in den pergen, geleich den twergen, 
zwair daum prait, ellen langk
Versroman Herzog ernst 1180

DAS MÄRCHEN VOM ZWERG 
Paul Klee 1925


DAS LIED DES ZWERGES
 
Meine Seele ist vielleicht grad und gut;
aber mein Herz, mein verbogenes Blut,
alles das, was mir wehe tut,
kann sie nicht aufrecht tragen.
Sie hat keinen Garten, sie hat kein Bett,
sie hängt an meinem scharfen Skelett
mit entsetztem Flügelschlagen.
Aus meinen Händen wird auch nichts mehr.
Wie verkümmert sie sind: sieh her:
zähe hüpfen sie, feucht und schwer,
wie kleine Kröten nach Regen.
Und das Andre an mir ist
abgetragen und alt und trist;
warum zögert Gott, auf den Mist
alles das hinzulegen.

Ob er mir zürnt für mein Gesicht
mit dem mürrischen Munde?
Es war ja so oft bereit, ganz licht
und klar zu werden im Grunde;
aber nichts kam ihm je so dicht
wie die großen Hunde.
Und die Hunde haben das nicht.

Rainer Maria Rilke
Aus: Das Buch der Bilder 

Hubertus Giebe Zwerg II

Und hier ein deutscher Puck?
 
Der Zwerg
 
Es lebt nicht fern von hier auf einem hohen Berg
Ein Mann, an Geiste groß, an Körper nur ein Zwerg,
Der kennet manches Kraut, manch zauberische Tinte,
Vor dem flieht jedermann wie Vögel vor der Flinte,
Und wie manch altes Weib in dieser Gegend weiß,
Verwandelt er sich bald in eine schwarze Geiß,
Bald in ein Schaf, bald in ein Rind, doch glänzet immer
In jeglicher Gestalt um seinem Haupt ein Schimmer;
Des Gnomen Tück ist nichts zu groß und nichts zu klein,
Er macht den Baur zum Fuchs, den Clericus zum Schwein,
Kein Amt, kein Stand ist seiner Rachbegier zu heilig,
Er neckt und quälet jeden, flieht man noch so eilig,
Er steht im Bunde mit dem leidgen Höllenhund,
Drum hütet euch vor ihm, zur Warnung mach ichs kund.
 
Franz Grillparzer
Den 28ten Oktober 1807
 
Wiki schreibt: Die im Hochmittelalter begonnene Diabolisierung 
der Zwerge nahm im Laufe der Zeit immer mehr zu. So wurden 
die Zwerge im 16. Jahrhundert von christlichen Theologen 
allgemein für gefallene Engel gehalten, die sich nur nicht völlig 
in Teufel verwandelt hätten, weil sie, als bloß Verführte, bei ihrem 
Sturz an Bergen und Bäumen hängen geblieben seien. 
 
 Hof-Zwerg Don Antonio el Ingles
Diego Velaquez 1640
 
Es gibt auch ein wunderbares Bild von Carl Spitzweg: Gnom,
die Eisenbahn betrachtend, Mythos trifft Neuzeit!
 
161.
Schneeweißchen und Rosenroth.
Eine arme Wittwe, die lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rothe Rosen: und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenroth. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind: Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenroth. Rosenroth sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fieng Sommervögel: Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen, oder las ihr vor, wenn nichts zu thun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen faßten, so oft sie zusammen aus giengen, und wenn Schneeweißchen sagte „wir wollen uns nicht verlassen,“ so antwortete Rosenroth „so lange wir leben nicht,“ und die Mutter setzte hinzu „was das eine hat solls mit dem andern theilen.“ Oft liefen sie im Walde allein umher, und sammelten rothe Beeren, aber kein Thier that ihnen etwas zu leid, sondern sie kamen vertraulich herbei: das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen; das Reh graste an ihrer Seite; der Hirsch sprang ganz lustig vorbei; die Vögel blieben auf den Aesten sitzen, und sangen was sie wußten. Kein Unfall traf sie: wenn sie sich im Walde verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, so legten sie sich nebeneinander auf das Moos und schliefen bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das, und hatte ihrentwegen keine Sorge. Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten, und das Morgenroth sie aufweckte, da sahen sie ein schönes Kind in einem weißen glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf, und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts, und gieng in den Wald hinein. Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrunde geschlafen, und wären gewiß hinein gefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weiter gegangen wären. Die Mutter aber sagte ihnen das müste der Engel gewesen seyn, der gute Kinder bewache.
Schneeweißchen und Rosenroth hielten das Hüttchen der Mutter so reinlich, daß es eine Freude war hinein zu schauen. Im Sommer besorgte Rosenroth das Haus, und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe sie aufwachte, einen Blumenstrauß vors Bett, darin war von jedem Bäumchen eine Rose. Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an, und hieng den Kessel an den Feuerhacken, und der Kessel war von Messing, glänzte aber wie Gold, so rein war er gescheuert. Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter „geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor,“ und dann setzten sie sich an den Herd, und die Mutter nahm die Brille, und las aus einem großen Buche vor, und die beiden Mädchen hörten zu, saßen und spannen; neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen, und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.
Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen saßen, klopfte jemand an die Thüre, als wollte er eingelassen seyn. Die Mutter sprach „geschwind, Rosenroth, mach auf, es wird ein Wanderer seyn, der Obdach sucht.“ Rosenroth gieng, und schob den Riegel weg, aber statt daß ein Mensch gekommen wäre, streckte ein Bär seinen dicken schwarzen Kopf zur Thüre herein. Rosenroth schrie laut, und sprang zurück; das Lämmchen blöckte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter der Mutter Bett. Der Bär aber fieng an zu sprechen, und sagte „fürchtet euch nicht, ich thue euch nichts zu leid, ich bin halb erfroren, und will mich nur ein wenig bei euch wärmen.“ „Ei, du armer Bär,“ sprach die Mutter, „leg dich ans Feuer, und gib nur acht daß dir dein Pelz nicht brennt.“ Dann rief sie „Schneeweißchen, Rosenroth, kommt hervor, der Bär thut euch nichts, er meints ehrlich.“ Da kamen sie beide heran, und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen, und hatten keine Furcht mehr. Der Bär sprach „ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelzwerk,“ und sie holten den Besen, und kehrten dem Bär das Fell rein, er aber streckte sich ans Feuer, und brummte ganz vergnügt und behaglich. Nicht lange, so wurden sie ganz vertraut, und trieben Muthwillen mit dem unbeholfenen Gast, zausten ihm das Fell mit den Händen, setzten ihre Füßchen auf seinen Rücken, und walgerten ihn hin und her, oder nahmen eine Haselruthe und schlugen auf ihn los, und wenn er brummte, so lachten sie. Der Bär ließ sichs aber gerne gefallen, nur wenn sies gar zu arg machten, rief er „laßt mich am Leben, ihr Kinder:
Schneeweißchen, Rosenroth,
schlägst dir den Freier todt.“

Als Schlafenszeit war, und die andern zu Bett giengen, sagte die Mutter zu dem Bär „du kannst in Gottes Namen da am Herde liegen bleiben, so bist du vor der Kälte und dem bösen Wetter geschützt.“ Als der Tag graute, ließen ihn die beiden Kinder hinaus, und er trabte über den Schnee in den Wald hinein. Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde, legte sich an den Herd, und erlaubte den Kindern Kurzweil mit ihm zu treiben, so viel sie wollten; und sie waren so gewöhnt an ihn, daß die Thüre nicht eher zugeriegelt wurde, als bis der schwarze Gesell angelangt war.
Als das Frühjahr heran gekommen und draußen alles grün war, sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen „nun muß ich fort, und darf den ganzen Sommer nicht wieder kommen.“ „Wo gehst du denn hin, lieber Bär?“ fragte Schneeweißchen. „Ich muß in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten: im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben und können sich nicht durcharbeiten, aber jetzt, wenn die Sonne die Erde aufgethaut und erwärmt hat, da brechen sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen: und was einmal in ihren Händen ist und in ihren Höhlen liegt, das kommt so leicht nicht wieder an des Tages Licht.“ Schneeweißchen war ganz traurig über den Abschied, und riegelte ihm die Thüre auf, und als der Bär sich hinaus drängte, blieb er an dem Thürhacken hängen, und ein Stück seiner Haut riß auf, und da war es Schneeweißchen, als hätte es Gold durchschimmern gesehen: aber es war seiner Sache nicht gewiß, weil der Bär eilig fort lief und bald hinter den Bäumen verschwunden war.
Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald Reisig zu sammeln. Da fanden sie draußen einen großen Baum, der lag gefällt auf dem Boden, und an dem Stamme sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab, sie konnten aber nicht unterscheiden was es war. Als sie näher kamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten verwelkten Gesicht und einem ellenlangen schneeweißen Bart. Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baums eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Seil, und wußte nicht wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Mädchen mit seinen rothen feurigen Augen an, und schrie „was steht ihr da! könnt ihr nicht herbei gehen und mir Beistand leisten?“ „Was hast du angefangen, kleines Männchen?“ fragte Rosenroth. „Dumme neugierige Gans,“ antwortete der Zwerg, „den Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz in der Küche zu haben; bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das Bischen Speise, das unser einer braucht, der nicht so viel hinunter schlingt als ihr, grobes Volk. Ich hatte einen Keil hinein getrieben, und es wäre alles nach Wunsch gegangen, aber das verwünschte Holz war zu glatt, und sprang unversehens heraus, und der Baum fuhr so geschwind zusammen, daß ich meinen schönen weißen Bart nicht mehr herausziehen konnte; nun steckt er drinn, und ich kann nicht fort. Da lachen die albernen glatten Milchgesichter! pfui, was seyd ihr garstig!“ Die Kinder gaben sich alle Mühe, aber sie konnten den Bart nicht heraus ziehen, er steckte zu fest. „Ich will laufen, und Leute herbei holen“ sagte Rosenroth. „Wahnsinnige Schafsköpfe,“ schnarrte der Zwerg, „wer wird gleich Leute herbeirufen, ihr seyd mir schon um zwei zu viel; fällt euch nicht besseres ein?“ „Sey nur nicht ungeduldig,“ sagte Schneeweißchen, „ich will schon Rath schaffen,“ und holte sein Scheerchen aus der Tasche, und schnitt das Ende des Bartes ab. Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Wurzeln des Baums steckte, und mit Gold gefüllt war, hob ihn heraus, und brummte vor sich hin „ungehobeltes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab! lohns euch der Guckguck!“ damit schwang er seinen Sack auf den Rücken, und gieng fort ohne die Kinder nur noch einmal anzusehen.
Einige Zeit danach wollten Schneeweißchen und Rosenroth ein Gericht Fische angeln. Als sie auf den Bach zu giengen, sahen sie daß etwas wie eine große Heuschrecke nach dem Wasser zu hüpfte, als wollte es hinein springen. Sie liefen heran, und erkannten den Zwerg. „Wo willst du hin?“ sagte Rosenroth, „du willst doch nicht ins Wasser?“ „Solch ein Narr bin ich nicht,“ schrie der Zwerg, „seht ihr nicht, der verwünschte Fisch will mich hinein ziehen?“ Der Kleine hatte da gesessen und geangelt, und unglücklicher Weise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten: als gleich darauf ein großer Fisch anbiß, fehlten dem Zwerg die Kräfte ihn herauszuziehen, der Fisch behielt die Oberhand, und riß den Zwerg zu sich hin. Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er mußte den Bewegungen des Fisches folgen, und war in beständiger Gefahr ins Wasser gezogen zu werden. Die Mädchen kamen zu rechter Zeit, hielten ihn fest, und versuchten den Bart von der Schnur loszumachen, aber vergebens, Bart und Schnur waren fest in einander verwirrt. Es blieb nichts übrig, als das Scheerchen hervor zu holen und den Bart abzuschneiden: dabei gieng ein kleiner Theil desselben verloren. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an, „ist das Manier, ihr Lorche, einem das Gesicht zu schänden! nicht genug, daß ihr mir den Bart unten abgestutzt habt, jetzt schneidet ihr mir den besten Theil davon ab: ich darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen lassen. Daß ihr laufen müßtet und die Schuhsohlen verloren hättet!“ Dann holte er einen Sack Perlen, der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn fort, und verschwand hinter einem Stein.
Es trug sich zu, daß bald hernach die Mutter die beiden Mädchen nach der Stadt schickte, Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hier und da mächtige Felsenstücke zerstreut lagen, da sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herab senkte, und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen herzu, und sahen mit Schrecken daß der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg, gepackt hatte und ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest, und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, sprach er „konntet ihr nicht säuberlicher mit mir umgehen, gerissen habt ihr an meinem dünnen Röckchen daß es überall zerfetzt und durchlöchert ist, unbeholfenes und täppisches Gesindel das ihr seyd!“ Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen, und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle. Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort, und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt. Als sie beim Heimweg wieder auf die Heide kamen, überraschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte daß so spät noch jemand daher kommen würde. Die Abendsonne schien über die glänzenden Steine, und sie schimmerten und leuchteten so prächtig in allen Farben, daß die Kinder stehen blieben, und sie betrachteten. „Was steht ihr da, und habt Maulaffen feil!“ schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht ward zinnoberroth vor Zorn. Er wollte mit seinen Scheltworten fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören ließ, und ein schwarzer Bär aus dem Walde herbei trabte. Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen, der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst „lieber Herr Bär, verschont mich, ich will euch alle meine Schätze geben, seht, die schönen Edelsteine, die da liegen. Schenkt mir das Leben, was habt ihr an mir kleinen schmächtigen Kerl? ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen: da die beiden gottlosen Mädchen packt, das sind für euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die freßt in Gottes Namen.“ Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht, gab dem boshaften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze, und es regte sich nicht mehr.
Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach „Schneeweißchen, Rosenroth, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen.“ Da erkannten sie seine Stimme, und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann, und war ganz in Gold gekleidet. Er sagte „ich bin eines Königs Sohn, und war von dem gottlosen Zwerg, der mir meine Schätze gestohlen hatte, verwünscht als ein wilder Bär in dem Walde zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlöst würde. Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen.“
Schneeweißchen wurde mit ihm, und Rosenroth mit seinem Bruder vermählt, und sie theilten die großen Schätze mit einander, die der Zwerg in seiner Höhle zusammen getragen hatte. Die alte Mutter lebte noch lange Jahre ganz glücklich bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbäumchen aber nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster, und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen, weiß und roth.
 
Gebrüder Grimm Märchen 3. Auflage


Bittersüß - Bittersweet


     ...entfloh'n der Trieb der schönsten Leidenschaft, geheilt der Liebe bittersüße 
     Wunden, was kann ich thun?
     Die Jungfrau von Orleans, ein heroisch-komisches Gedicht in 16 Gesängen von
     Voltaire

   
    Bittersüß - Solanum dulcamara - Bittersüßer Nachtschatten - Hundbeere,  
    Mäuseholz, Mausholz, Natter(n)holz, Pissranke, Rote Hundsbeere,  
    Saurebe, Stinkteufel, Süßstoff, Teufelsklatten, Waldnachtschatten, 
    Wasserranke, Wolfsbeere - hochgiftig und verführerisch schön, einige
    Vogelarten allerdings vertragen es gut, ein aggressives Unkraut, das, 
    wenn nicht in Schach gehalten, andere Pflanzen überwältigt und verdrängt.


     Bittersüß. Ich habe herrliche Theater-Proben und trauere mit meiner Freundin. 
     Ich habe Energie für Anproben, Besprechungen und unzählige Neben-
     schauplätze und meine Schwester, bzw. Kostümbildnerin muß sich in Berlin,
     nach unzeitigem Herzinfarkt therapieren lassen. Nein, Theater ist
     nicht meine Zuflucht, mein Leben ist wichtiger. Aber die Not in meinem 
     Leben speist meine Arbeit. Nicht aus taktischen Erwägungen, sondern
     aus innigster unvermeidbarer Verbundenheit. What the Fuck! Wie irrsinnig 
     kann das Leben sein? Ist das gut, ist das schlecht? Richtig? Falsch? Ist es
     einfach so wie Leben ist? Momentan ist für Reflektion wenig Zeit. Ich lebe
     dem Leben hinterher.
    
Das bittersüße ehlich Leben

Gott sei gelobet und geehrt
Der mir ein frumb Weib hat beschert
Mir der ich zwei und zweinzig Jahr
Gehaust hab, Gott gab länger gar

Wiewohl sich in mein ehlig Leben
Had Süß und Saures oft begeben
Gar wohl gemischt von Freud und Leid,
Erst auf, dann ab, ohn Unterscheid

Sie hat mir nit stets kochet Feigen
Will schwankweis Dir ein Teil anzeigen
Sie ist ein Himmel meiner Seel
Sie ist auch oft mein Pein und Hell,

Sie ist mein Engel auserkoren,
Ist oft mein Fegeteufel woren.
Sie ist mein Wünschelrut und Segen
Ist oft mein Schauer und Platzregen

Sie ist mein Mai und Rosenhag,
Ist oft mein Blitz und Donnerschlag,
Mein Frau ist oft mein Schimpf und Scherz,
Ist oft mein Jammer, Angst und Schmerz,

Sie ist mein Wonn und Augenweid,
Ist oft mein Traurn und Herzeleid
Sie ist mein Freiheit und mein Wahl,
Ist oft mein Gfängnis und Notstall,

Sie ist meine Hoffnung und mein Trost,
Ist oft mein Zweifel, Hitz und Frost.
Mein Frau ist meine Zier und Lust,
Ist oft mein Graun und Suppenwust,

Ist oft mein königlicher Saal,
Doch auch mein Krankheit und Spital.
Mein Frau, die hilft mir treulich nähren,
Thut mir auch oft das Mein verzehren,

Mein Frau, die ist mein Schild und Schutz,
Ist oft mein Frevel, Stolz und Trutz.
Sie ist mein Fried und Einigkeit,
Und oft mein täglich Hebensstreit

Sie ist mein Fürsprech und Erlediger,
Ist oft mein Ankläger und Prediger.
Mein Frau ist mein getreuer Freund,
Oft worden auch mein größter Feind,

Mein Frau ist mietsam oft und gütig,
Sie ist auch zornig oft und wütig.
Sie ist mein Tugend und mein Laster,
Sie ist mein Wund und auch mein Pflaster,

Sie ist meines Herzens Aufenthalt,
Und machet mich doch grau und alt.

Hans Sachs, 1494-1576