Gott ist ein Komödiant, der vor einem Publikum spielt, das zu ängstlich zum Lachen
ist.
Voltaire
Die Macht des Zuschauers.
Er kann wegbleiben. Einfach, deutlich, tödlich.
Er kann weggehen, das bedarf eines Entschlusses und eines gewissen Mutes.
Er kann einschlafen, wenn es auf der Bühne nicht allzu plötzlich laut wird, und dies ist
eine beliebte Ausweichvariante zwangsverschleppter Ehemänner und kunstbeflissener,
doch gestresster Workoholics. Er kann das Klatschen, den begehrten Applaus
verweigern oder zumindest nur matt und verlangsamt die Hände aneinander schlagen.
Und er kann pfeifen, buhen, brüllen, jubeln und, im schlimmen Fall, rythmisch
applaudieren.
Der Zuschauer.
Ziel aller unserer Bemühungen, manchmal fast verschwunden unter der Last
des alltäglichen Theatertrottes und der inzestuösen feuilletonbesessnen Egomanien,
denen wir gelegentlich verfallen. Er allein macht aus dem Spieler, einen Schau-Spieler.
Der Zuschauer schaut oder schaut halt nicht, er begreift oder entzieht sich, er hat die
Entscheidungsgewalt zum Zeitpunkt der Offenlegung aller unserer Bemühungen.
Er ist vorgefüttert mit Klischees und Erwartungen, er ist konservativ, übersättigt,
faul oder überraschbar, dumm oder klug - er ist der eigentliche Theatergott und
wird angebetet und verachtet zugleich.
"Das sind ja nur die Apotheker/Notare/Optiker = die Abonnenten, der gutbürgerliche
Mittelstand!"," Heute ist der Saal halbleer, was haben wir falsch gemacht? " Keiner liebt
mich!"Kennt ihr Blumenkohlvorstellungen, eng verbunden mit dem Zwischenruf:
"Könnten sie bitte etwas lauter sprechen?" Weißes Haupthaar wird gleichgesetzt
mit der möglicherweise letzten Generation der Interessierten. Wir brauchen sie und
fürchten sie.
Jeder einzelne im Publikum ist ein Esel, aber alle zusammen sind sie die Stimme
Gottes.
Franz Liszt
2. Februar 2013, Ingolstadt, Premiere von " Die Verschwörung des Fiesco zu
Genua" von Friedrich Schiller
Das Stück, produziert unter extremer Zeitbeschränkung läuft, war schon mal lockerer,
wird wieder entspannter werden, wenn der Premierenüberdruck raus ist. Schlußapplaus,
Es gibt Bravos fürs Ensemble und gut durchmischt Zuwendung und Ablehnung, sprich
"Buhs" für die Regisseurin, sprich mich.
Erst ein Schreck, dann der Gedanke, fair sind sie, können unterscheiden zwischen
Konzept und Spieler. Und schließlich bemerke ich, wie selten ich diesen klaren, ent-
schiedenen Laut in letzter Zeit gehört habe. Nicht nur bei meinen Arbeiten, sondern
überhaupt im Theater. Viel Applaus, oft Gepfeife, Bravos, viel zu häufig
"stehende Ovationen", das scheint so ein modisches Ding zu sein, wahrscheinlich
ein Ableger von DSDS, The Voice und solchem Zeug.
Sind wir zu politisch korrekt geworden, um uns deutlich gegen etwas zu positionieren?
Hat sich Theaterleidenschaft in mildinteressiertes In-Empfang-Nehmen der gekauften
Kunstdosis verwandelt? Tatort am Sonntag, zweimal im Monat ins Theater und einmal
zum Italiener. Oder ist die Unsicherheit gegenüber dem eigenen Urteil durch das
postdramatisch-dekonstruierte verbale Artilleriefeuer des Feuilletons so groß
geworden, dass lieber höflich geklätschelt wird, als lauthals gebuht.
'Der König ist nackt', 'Die Inszenierung ist Mist', oder 'Ich sehe das anders', zu
sagen, verlangt Vertrauen in das eigene Urteil. Anstatt sich selbst mit der Lüge: Die
sind doch Profis, die wissen doch was richtig ist! zu geißeln, sollten Zuschauer mehr
dem vertrauen, was sie am Abend sehen, denken, fühlen. Wenn der Saal dann mal voll
mit spießigen Rechthabern ist, sollte es doch zum Tumult kommen. Oder wenn auf der
Bühne selbstreferentieller Schmunz stattfindet auch. Das wäre doch aufregend, oder?
Fotos: Jochen Klenk
Denise Matthey, wunderbare Schauspielerin und Mitverschworene hat auf Facebook
einen Kommentar zu "unseren" Buhs geschrieben :
Es war einer der elektrisierendsten Momente, die ich bisher auf der Bühne erlebt
hab - voller Lebendigkeit, Empörung und viel Wohlwollen (es waren
wirklich nicht gleich viele Buher, nur laute.. ) - es gab verschiedene Positionen,
einfach, weil du eine bezogen hast. Und sie sind aufgewacht, da unten, konnten sich
nicht gemütlich zurücklehnen und schlafen und danach erzählen, ich hab mir was
Klassisches im Theater angeschaut. Offenbar mussten sie zuhören und sich
auseinandersetzen. Das hat mich ernsthaft glücklich gemacht.
Weit darf man nicht ins deutsche Publikum hineinhorchen, wenn man Mut zu
arbeiten haben will. Johann Wolfgang von Goethe
Quelle: an Wilhelm von Humboldt, 3. 12. 1795 arbeiten haben will. Johann Wolfgang von Goethe
Friedrich Schiller über die Premiere Der Räuber in Mannheim am 13. Januar 1782
Das Publikum fieberte fasziniert und in
beeindruckender Stille dem Ende der
Geschichte entgegen. Während der
ersten beiden Akte zeigte es überhaupt
keine Regung, so dass mich
zunächst eine große Furcht überkam, das Drama
würde nicht ankommen.
Aber dann, nach Ablauf des dritten Aktes,
applaudierte die rasende Menge,
teils schreiend mit geballten Fäusten.
Der Beifall vermischte sich mit dem
Weinen wankender Frauen, die, einer
Ohnmacht nahe, auf ihre Stühle sanken.
Trotz der mittelalterlichen
Aufmachung des Stückes hatten alle begriffen, dass es
die Gegenwart war,
die hier dargestellt wurde.