Mittwoch, 9. Mai 2012

Zwei Friedhöfe in Berlin-Mitte


Friedhöfe sind gut zum Spazieren, besonders für Großstädter mit einem unterentwickelten Hang zur Natur. Man muß nirgendwo mit Hilfe des Nahverkehrs hinfahren, keine Badehose oder ähnliches einpacken und auch kein praktisches Schuhwerk anziehen. Das nächste Cafe ist nicht weit und man ist unter Leuten, nur dass die eben tot sind.
In welche Stadt ich auch komme, immer besuche ich auch ihre Friedhöfe. Ich war bei Marx und Jim Morrisson, bei Michail Bulgakow und auf dem herrlich gruseligen St. Louis Friedhof in New Orleans. Ein Freund hat mich vor Jahren auf den riesigen jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee geschleppt, inclusive über die Mauer klettern und von einem zauberhaften gesprächigen Totengräber wieder rausgelassen werden. Der jüdische Friedhof in Prag ist zum Weinen schön und in Neapel war ich in Katakomben voll theatralisch lebendigtoter Mumien. 

„Wenn ein Freund weggeht, muß man die Türe schließen, sonst wird es kalt.“ Bertolt Brecht

Merkwürdigerweise gehe ich selten an die Gräber der Menschen, die ich liebe und verloren habe. An die denke ich lieber ohne Grab.
Jetzt hat mich eine Freundin vor ein paar Tagen zum Besuch zweier sehr persönlicher Friedhöfe verführt, dem Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden und dem I. Französische Friedhof inmitten von Mitte, ganz dicht beieinander, nur durch eine Mauer (aber mit Durchgang) getrennt. Hier liegen einige mir nahe Menschen. Mein Vater. Und meine Großmutter, die ich sehr geliebt habe. Und der Klaus Piontek, ein guter, ein sehr guter Freund.

Ich will sterben, und ich hoffe
daß ich sterbe wie erhofft
nicht verwirrt und nicht besoffen
sterben mehrmals, oft und oft.

Meinetwegen auch mit Schmerzen
meinetwegen auch mit Wut
sterben nicht nur mit dem Herzen
sterben so, als sei es gut.

Ekkehard Schall
 
Und hier liegt eine riesige kunterbunte Gruppe deutscher Denker und Spinner und Künstler. Was muß das für eine geistvolle Geisterparty sein, so zwischen Mitternacht und die Minute danach
Anna Seghers tratscht mit Hermlin über die Situation des Schriftstellerverbandes und was der Hochhuth sich wohl gedacht hat. Da raucht Heiner Müller mit Hegel, Fichte und Marcuse. (Marcuse hat übrigens den guten Spruch: "weitermachen" auf seinem Grabstein!) Mein Mentor und erster Intendant Gerhard Wolfram, Langhoff, Devrient und Eysoldt und der gute alte Trinker Piet Dommisch streiten sich mit Eberhard Esche und Hacks über den Niedergang des Berliner Theaters. Und jetzt kann sich Ivan Nagel dazusetzen und Langhoff auch. Gosch ist ja wohl eher wortkarg. Hans-Peter Minetti muß sehen, wo er bleibt.
Die Bonhoeffers, Brecht, Bronnen und Eisler und Erich Engel und der wilde Geschonneck quatschen über was? - Da möchte ich gern zuhören. 
Oder bleiben die alten Feindseligkeiten bestehen? Bahro und Bohley noch unter Beobachtung von toten Stasileuten? Liest Jürgen Kuczynski noch jede Nacht die Börsenberichte? Bleiben Rauch, Schadow und Schinkel unter sich oder mischen sich alle Zeitalter? Posthume neue Freundschaften könnten entstehen. Und wird hier Theater gespielt? - Ein kleines edles Ensemble bekäme man zusammen. Iffland, Eysoldt, Devrient stoßen auf Schall, Weigel, Piontek und Franke.
Gibt es Bier für die berühmten Geister? Und für die anderen auch?
Denn das ist eines der schönen Dinge auf diesen Friedhöfen - hier liegen berühmt und unberühmt nebeneinander, friderizianisches und wilhelminisches Deutschland, DDR und alles dazwischen und danach auf wenigen hundert Quadratmetern zusammengedrängelt. Bombastische Grabmäler und Findlinge, immer wieder peinliche von Herzen kommende Sprüche und der quadratische kleine Klotz für den quadratisch kleinen Hanns Eisler. Leider hat Herr Litfaß keine seiner Säulen bekommen.



Wirklich und ohne Quatsch, auch ein Herr Piefke fand hier seine letzte Ruhestätte. Berlin lebe hoch!
Ich möchte übrigens verbrannt werden und mir ist schnurzpiepe was danach mit dem Rest passiert.

LVI.

     Ich hab’ im Traum’ geweinet,
Mir träumte du lägest im Grab’.
Ich wachte auf und die Thräne
Floß noch von der Wange herab.
     Ich hab’ im Traum’ geweinet,
Mir träumt’ du verließest mich.
Ich wachte auf, und ich weinte
Noch lange bitterlich.

     Ich hab’ im Traum’ geweinet,
Mir träumte du wärst mir noch gut.
Ich wachte auf, und noch immer
Strömt meine Thränenfluth.

Heinrich Heine
(Nein, der liegt nicht hier, würde aber gut hierher passen, oder?)

Wiki schreibt:
Der Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden (kurz: Dorotheenstädtischer Friedhof) liegt im Berliner Ortsteil Mitte. Er bedeckt eine Fläche von 17.000 Quadratmetern. Der Zugang befindet sich in der Chausseestraße Nr. 126. Zahlreiche bedeutende und prominente Persönlichkeiten haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Durch die Gestaltung ihrer Grabmäler ist der Friedhof auch ein wichtiges Zeugnis für die Berliner Bildhauerkunst, besonders des 19. Jahrhunderts. Die Anlage steht vollständig unter Denkmalschutz.
Der I. Französische Friedhof in der Oranienburger Vorstadt von Berlin ist ein kunsthistorisches Denkmal in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden. Der Französische Friedhof bildet gemeinsam mit dem benachbarten Dorotheenstädtisch-Friedrichswerderschen Friedhof das bedeutendste erhaltene und noch genutzte Friedhofsensemble Berlins aus dem 18. Jahrhundert. Auf dem Friedhof sind Beispiele klassizistischer Grabmalkunst des 19. Jahrhunderts zu finden. 

Dienstag, 8. Mai 2012

Ruth Orkin - Die Kartenspieler


Ruth Orkin - Die Kartenspieler - New York - 1947







Estate of Ruth Orkin

There was a little girl

By Henry Wadsworth Longfellow

There was a little girl,
Who had a little curl,
Right in the middle of her forehead.
And when she was good,
She was very very good,
But when she was bad 
she was horrid.
Leider unübersetzbar.







Estate of Ruth Orkin

Montag, 7. Mai 2012

Meine erste Demo


Meine erste Demo

Meine erste Demo seit November 1989. 
Selbstverständlich habe ich seitdem viele Petitionen unterschrieben, Protestbriefe verfaßt und was es sonst an demokratischen Widerspruchsmöglichkeiten gibt. Aber keinerlei Teilnahme an größeren Ansammlungen von langsam laufenden Leuten zum Zwecke des Protestes. Ochlophobie oder Demophobie - Angst vor Menschenmengen nennt man das, habe ich gerade herausgefunden. Es ist genau genommen die Angst, eingequetscht oder zertrampelt zu werden, sagt mir Wiki. Sogar von meinem ersten Bob Dylan Konzert bin ich weg, ehe der gute Herr Zimmermann auftrat, weil ich mich so vor den vielen Leuten auf der Wiese in Treptow gegrault habe und es wurde auch noch dunkel. Nee, nichts wie weg. Und dann saß ich zu Hause vor dem Plattenspieler, das war so ein Kasten mit dem man Vinyl-Schallplatten abspielen konnte, und habe mir Highway Revisited zum 700sten Male angehört.

Demophobie klingt wie Angst vorm Volk, eine phobische Störung vieler Politiker.

Aber heute war ich doch mit auf einer nicht riesigen, aber sehr lebendigen und notwendigen Protestaktion der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch".
Wenn ich versuchen wollte, eine Liste der durch diese Schule gegangenen Schauspieler niederzuschreiben, die schon gestern und noch heute das Niveau und die Vielfältigkeit des Theater- und Filmlebens dieses Landes miterschaffen, würde dies ein seeeeehr langer Blogeintrag werden. Also nur einige wenige: Alexander Lang, Christian Grashoff, Nina Hoss, Margit Bendokat, Jürgen Gosch....

Protest ist nötig!

Die Buschler arbeiten nun seit circa drei Jahrzehnten in vier über Berlin verstreuten Gebäuden, die, das kann ich zumindestens für das Gebäude in Schöneweide beeiden, jetzt in einem recht veralteten, beengten und leicht heruntergekommenem Zustand sind. Asbest gibt es wohl auch. Ein neuer zentraler Standort wurde von unserem Bürgermeister versprochen und unter hohen Kosten geplant und verworfen und wieder geplant, immer mehr Geld wurde ausgegeben. Pankow oder Mitte oder wo?  Die finanziellen Fakten kann man in den Zeitungen Berlins nachlesen. Jedenfalls sieht es nun so aus, als solle es gar keinen Neubau geben, obwohl die Schule sich zu großen Kompromissen bereit erklärt hatte, um die Kosten niedrig zu halten. 

Protest ist nötig!

Und das allerbeste an der Demo heute war, dass die Studenten all die Aktionen der letzten Tage, selbst organisiert haben und sicherlich auch die der kommenden, organisieren werden. Sich zu wehren lernen ist großartig. Ob die Herren, die den BAU gestoppt haben, dies wohl beabsichtigt hatten?
DER BAU.fakten
Seit 15 Jahren ist ein gemeinsamer Campus für die Hochschule „Ernst Busch“ in Planung, der nun, kurz vor Baubeginn, von der SPD gekippt werden soll. Als Grund werden Mehrkosten angegeben, die 1,8 Millionen über den genehmigten Baukosten liegen. Dies scheint in Anbetracht der 5 Millionen Euro, die bereits vom Land Berlin investiert worden sind (u.a. 500.000 Euro für das Grundstück in der Chausseestraße), eine Farce zu sein. Die Hochschule hat bereits Abstriche und Kompromisse in Höhe von 4,7 Millionen gemacht und auf Räume und Ausstattung verzichtet. Ein Flügel der SPD schlägt vor, statt des Neubaus lieber die einzelnen Standorte zu sanieren (das BAT-Studiotheater und Schöneweide) und somit einen Betrag einzusparen, welcher für die Verbesserung der Berliner Grundschulen genutzt werden soll. Dieser Vorschlag ist sowohl unkonkret wie unverschämt. Er ist eine kurzfristig gedachte Sparmaßnahme, die letztendlich erhebliche Mehrkosten verursachen würde. Eine Sanierung von Schöneweide ist bei laufendem Schulbetrieb nicht möglich. Ein solcher Neubau wäre im angegebenen Rahmen von 10 Millionen Euro niemals finanzierbar. Die Schule müsste in einem solchen Fall in zunächst als Provisorium gedachte Container ausweichen und womöglich dort für längere Zeit bleiben. Letztendlich könnte das gar das Aus der Schauspielabteilung oder die Zusammenlegeung mit einer größeren Kunsthochschule bedeuten. Einen innerhalb verschiedener Bildungseinrichtungen initiierten Kulturkampf können wir nicht akzeptieren, genauso wenig wie die Tatsache, zu einem Spielball eines innerparteilichen Ränkespiels der SPD zu werden. Wir, als Studentenschaft, dürfen dies nicht zulassen und fordern deshalb den Senat des Landes Berlin auf, den Stop des Neubaus zu überdenken. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das für die Stadt historisch wie kulturell so bedeutende Theater nicht der Willkür der Politik ausgesetzt bleibt. Wir brauchen ein Statement. 
Auf dieser Seite kann man auch die Petition unterschreiben.

Einige aktuelle Beiträge zum Thema:



Vergebung, Verzeihung, Entschuldigung


Man mag sich nichts vergeben, hieße, nähme man das Verb beim Wort, man wäre sich selbst gegenüber unerbittlich, unverzeihend, ohne die Möglichkeit der Vergebung. Anstattdessen meint es nur, man will sich nicht zu weit aus dem Fenster hängen, schön vorsichtig bleiben, ohne das Risiko des Lächerlich-machens. Es beschreibt den bisweilen VERGEBLICHEN Versuch die Würde zu wahren.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Kann man also nur Vergebung erhalten, wenn man fähig ist anderen oder gar sich selbst zu vergeben? Da wird es ja ganz schwierig.

Wiki setzt Vergebung mit Verzeihung gleich und übersetzt es dann mit der Annahme von bekundeter Reue. Annahme, hmm. Was man mit dem Angenommenen dann anstellt, bleibt freilich dahingestellt. Man nimmt Reue an und vergibt das Angenommene. Hin und her. Quid pro quo. Im christliche Sinne soll Vergebung doch ohne weitere Leistung des Beschuldigten gewährt werden, nur Einsicht muß er haben. Und wenn er nicht weiß, was er tut, kann ihm sogar völlig ohne Eigenbeteiligung vergeben werden. "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun."

Entschuldigen hat auch so eine Ambivalenz. Ich entschuldige mich, ich mache mich frei von Schuld, was für ein Blödsinn, oder? Ich entschulde jemanden von etwas, geht doch schon eher. 
"Schuld" hat, sagen einige Wörterbücher,  die selbe germanische Wurzel "sculan" wie "sollen". Das, was man soll, ist das was man schuldet.

Der Anklang von Handel in all diesen Wörtern macht mich stutzen. 

Verzeihung ist der profane Ausdruck an Stelle des religiösen Vergebung: das Gegenteil von zeihen, anklagen, also "eine Anklage fallen lassen" und auf Konsequenzen verzichten. 

„Gewaltfreiheit ist bedeutungslos, wenn sie von einer hilflosen Kreatur ausgeht. Eine Maus wird einer Katze kaum vergeben, wenn sie es zulassen muss, von ihr in Stücke zerrissen zu werden.“ Mahatma Gandhi

Vergebung, für Hingebung, Erlassung, der Substantivbildung zu vergeben, in seiner ursprünglichen Bedeutung von fortgeben, hinweggeben. Was wird denn genau vergeben, weggegeben? Das Schuldgefühl des Bereuenden? Die eigene Wut, Trauer über was immer einem angetan wurde? Ist es ein Handel? Schlechtes Gewissen gegen Vergebung? Wohin gibt man das, was man vergibt?

Die Engländer haben "Forgive and forget", vergib und vergiss, auch keine leichte Sache. Ich, z.B., bin schwer zu erzürnen, wenn aber erstmal am kochen, auch nur schwer wieder zu beruhigen. Gott sei Dank, habe ich andererseits aber ein schlechtes Gedächtnis, mir fällt das Vergessen manchmal leichter, als das Vergeben. Und ich mag keine Entschuldigungen, weil sie nur in den seltensten Fällen mit mir zu tun haben, sondern, so scheint mir, meist mit dem Bedürfnis des "Schuldners" sich frei zu sprechen, mir die Last überzuhelfen, wenn ich nicht entschulde, bin ich dann Schuld. Das gilt natürlich umgekehrt auch, wenn ich die Schuldige bin.

Oder: "es tut mir leid", auch so ein komisches Gebilde, nicht "ich habe dir Leid angetan", nein, mir tut "es" leid.

Was wäre nun denn ein rechtes Wort für die Einsicht von Schuld, und die Bitte von ihr entlastet zu werden?

Demophon, Sohn des Theseus, liebte Phyllis , die Tochter des thrakischen Königs Sithon. Sie wurde seine Frau. Demophon reiste, mit dem Versprechen bald zurückzukommen, nach Athen, kam aber sehr lange Zeit nicht. Phyllis verzeifelte, erhängte sich aus Trauer und ward in einen Mandelbaum verwandelt, der plötzlich Blüten trieb, als der schlußendlich doch noch zurückgekehrte Demophon ihn umarmte.

Holzschnitt, Phyllis und Demophon, Venedig, frühes 16. Jahrhundert



Sonntag, 6. Mai 2012

Ich sehe was, was du nicht siehst

Wiki sagt: Illusion und das ältere, heute ungebräuchliche und praktisch unbekannte Verb illudieren ist eine Ableitung vom lateinischen Verb illudere. Dieses wiederum ist eine Zusammensetzung des Verbs ludere für „spielen“ mit der lokalen Präposition "in".



Weinglass? Doppelprofil?

Lynceus des Türmers  
Türmerlied
 
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen
Gefällt mir die Welt.

Ich blick' in die Ferne,
Ich seh' in der Näh'
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.

So seh' ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir's gefallen,
Gefall' ich auch mir.

Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!

Johann Wolfgang von Goethe



?

Wiki schreibt in etwa: Assimilation in psychophysiologischer Hinsicht wird definiert als die Angleichung eines neuen Bewusstseinsinhaltes an das in Bereitschaft stehende Material.



Seht ihr das weiße Gesicht links?
© Shigeo Fukuda

„Illusionen empfehlen sich dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen.“ Sigmund Freud



Gespräche

Samstag, 5. Mai 2012

e.e. cummings - die gierigen die leute





die gierigen die leute

die gierigen die leute
(wie falls wie kann ja)
sie stehlen und kaufen
und sie sterben für weil
doch die glocke in der kirche
sagt Warum

die behutsamen die achtsamen
(wie alle wie kann jeder)
Sie tun und tun nicht
und sie wenden sich an ein welches
doch der mond in seiner glorie
sagt Wer

die geschäftigen die millionen
(wie du bist wie kann ich bin)
sie tummeln und wimmeln
durch den donner von scheint
doch die sterne in ihrem schweigen
sagen Sei

die gerissenen die zaghaften
(wie denken wie kann fühlen)
sie wenn und sie wie
und sie leben für bis
doch die sonne in ihrem himmel
sagt Jetzt

die furchtsamen die zarten
(wie zweifel wie kann vertrauen)
sie arbeiten und beten
und beugen sich einem muss
doch die erde in ihrem glanz
sagt Mai


e.e. cummings 
versuch einer übertragung 


© ???


the greedy the people

the greedy the people
(as if as can yes)
they steal and they buy
and they die for because
though the bell in the steeple
says Why


the chary the wary
(as all as can each)
they don't and they do
and they turn to a which
though the moon in her glory
says Who


the busy the millions
(as you're as can i'm)
they flock and they flee
through a thunder of seem
thoguh the stars in their silence
say Be


the cunning the craven
(as think as can feel)
they when and they how
and they live for until
though the sun in his heaven
says Now


the timid the tender
(as doubt as can trust)
they work and they pray
and they bow to a must
though the earth in her splendor
say May

Freitag, 4. Mai 2012

Gerhard Richter oder Berlin im Mai


Gestern ein Besuch der Gerhard Richter Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie. 

Berlin im Mai, leichter Regen, Löwenzahn wuchert, lila Flieder beschießt überraschend mit Duftschwaden, die Stadt in ihren besten Farben - ein Frühsommertag wie er in keinem Buche steht - man darf wieder menschliche Körper sehen, anstatt klumpförmige Wintermantelträger, die meisten Beine sind noch bleichweiß, aber die Gesichter schon leicht angesommert. Ein paar ganz Wagemutige schlappen bereits in Flip Flops herum, die nannten wir früher Badelatschen und der Name beschreibt sie auch genauer. Die beliebteste Droge dieser Tage ist Eiscreme, alles schleckt. Männer in Anzügen sehen besonders rührend aus, wenn sie dem geschwinden Schmelzen hinterherlecken. Würde es wohl Aufsichtsratssitzungen oder hochpolitische Versammlungen verändern, wenn alle Beteiligten erst mal zusammen ein Eis in der Waffel lutschen, lecken müßten. Behauptete schwere Ernsthaftigkeit ist bei solchem Vorgang schwer aufrecht zu erhalten, oder?

Ein schöner Tag in meiner liebsten Stadt mit einer raren Freundin.

Sollt ich mich einzeln freuen,
Wenn auch der Frühling nah?
Doch kommen wir zu zweien,
Doch kommen wir zu zweien,
Gleich ist der Sommer da. 
Goethe

Am Potsdamer Platz eine 20m x 20m große Werbetafel für ein 4,50 Euro billiges H&M Bikini. Dann mit dem schnellsten Aufzug Europas in zwanzig Sekunden hundert Meter in die Höhe zum Berliner "Panormapunkt", unpoetischer Name für einen Ort mit toller Aussicht. Von oben sieht Berlin groß, voll, grün und ungeteilt aus. 
Später in der Brunnenstrasse in einer der ungefähr zwei Milliarden berlinischen Galerien, diese heißt "Lacke und Farben", eine kleine Ausstellung von Thomas Rauchfuss "Schweine vor New York". Er malt auch rote Bilder.


Abends im Rheingold in der Novalisstrasse, dem oberen Ende der Eichendorfstrasse, da wo auch Schlegel, Tieck und die anderen Romantiker ihre Strassen haben. Eine richtig gute Bar mit (!) perfekter Lüftung und Barkeepern, die noch mit grandiosen Ritualen und Sambaschüttlern ihre Drinks zusammentänzeln. Ich treffe eine Gleichaltrige, mit der ich vor 30 Jahren ein gute und widersprüchliche Zeit verbracht habe, sie in Erhoffung ihrer baldigen Ausreise, ich auch mal auf Westgastspiel mit dem Deutschen Theater, wir beide uns, in der wahrscheinlich einzigen Nachtdiscothek Ostberlins, bis in den Morgen in die glückliche Erschöpfung tanzend. Bei gutem Flirten gab einem der Bäcker vor der Ladenöffnung schon heiße Brötchen. Um 10 war Probe, na und.

Gerhard Richters Bilder haben mir nicht gefallen.


Donnerstag, 3. Mai 2012

Lavinia Fontana


Lavinia Fontana 
Bologna 1552 - Rom 1614
Tochter des Malers Prospero Fontana, verheiratet mit Paolo Zappi, der seine eigene Karriere aufgab und die Hausarbeit übernahm und manchmal die Bildhintergründe malte, um ihr mehr Zeit zum Arbeiten zu ermöglichen. Sie gebar 11 Kinder, von denen nur drei überlebten.

Lavinia Fontana, Das Wolfmädchen Antonietta Gonsalus, im Musée du Chateau in Blois

Ulisse Aldrovandi, 1522 - 1605, italienischer Naturforscher, aus
"Monstrorum historia cum Paralipomenis historiae omnium animalium"

Lavinia Fontana, 1577, Selbstporträt am Spinett, Academia Nazionale di San Luca in Rome

Lavinia Fontana, 1583, Neugeborenes Baby in einer Krippe

Die Nektartropfen

 

Als Minerva, jenen Liebling,
Den Prometheus, zu begünst'gen,
Eine volle Nektarschale
Von dem Himmel niederbrachte,
Seine Menschen zu beglücken
Und den Trieb zu holden Künsten
Ihrem Busen einzuflößen,
Eilte sie mit schnellen Füßen,
Dass sie Jupiter nicht sähe;
Und die goldne Schale schwankte,
Und es fielen wenig Tropfen
Auf den grünen Boden nieder.
 
   Emsig waren drauf die Bienen
Hinterher und saugten fleißig;
Kam der Schmetterling geschäftig,
Auch ein Tröpfchen zu erhaschen;
Selbst die ungestalte Spinne
Kroch herbei und sog gewaltig.
   Glücklich haben sie gekostet,
Sie und andre zarte Tierchen!
Denn sie teilen mit dem Menschen
Nun das schönste Glück, die Kunst.

Johann Wolfgang von Goethe 

Dienstag, 1. Mai 2012

Sofonisba Anguissola


Sofonisba Anguissola 1532 - 1625 (!)

Sofonisba Anguissola - Asdrubale, der von einem Flußkrebs gebissen wurde - circa 1554

Sofonisba fertigte diese Zeichnung für Michelangelo, der sie beauftragt hatte, einen weinenden Jungen zu zeichnen. Sie war dann für einige Zeit seine "informelle" Schülerin.
Er gab ihr Entwürfe aus seinen Notizbüchern und sie sollte sie im eigenen Stil erarbeiten.

http://www.art-magazin.de/div/heftarchiv/1995/1/EGOWTEGOTTSPOPOGWTROWTWR/Eine-Frau-pr%FCft-die-Seele-des-K%F6nigs

Selbstporträt 1554

Sieht sie nicht fast wie Paula Modersohn-Becker aus?

1905

Der Reigen - Vier Inszenierungen in sieben Monaten


Theater. Theater ist eines der Dinge, die ich liebe. Sonst hieße der Blog ja auch anders.

Theater ist für mich wie meine persönliche Droge, hält mich in Abhängigkeit, hat unerwartete Nebenwirkungen, kann bewußtseinserweiternd wirken oder wenigstens die Illusion davon vorgaukeln und hin und wieder habe ich einen schlechten Trip.
Sieben Monate auf Droge verlangt nach einer Entziehungskur, verlangt nach Innehalten, Anhalten, Stillsein. Deshalb rede ich hier, logisch.
Sieben Monate im Halbtraumland, ungefähr 210 Tage "als ob", ganz im Jetzt und nie wirklich anwesend, Volkshochschulkurs "Schizophrenie für Fortgeschrittene - Nº 213".

Hase oder Ente?
Was für ein Abenteuer. Was für eins?

Sieben Monate Theaterwohnungen und Pensionen, öde Klamottenwiederholung, fremde Waschmaschinen, Kaffeehaus-, Bäcker-, Internetcafesuche und immer andere Leute.  

Magdeburg, Heilbronn, Ingolstadt und Rostock, Mittel-Deutschland, hoher Süden und dann ganz nach oben in den Norden, Deutschland ist klein, aber sehr verschieden.  

Heilbronn hat ein wunderbares Cafe mit Wlan, das Caipirinha, mit dem wahrscheinlich hübschesten Kellner Deutschlands. Nett ist er auch, und guten Kaffee serviert er. Dann noch eine exzellente indische Pizzeria und am Freitag gibt es beim Bäcker Stuten, ein süßes Brot.

Ingolstadt besitzt ein überirdisch phantastisches Steakhaus, das "Schanzer" und jede Menge Donauufer und der Theaterpförtner verkauft nach der Vorstellung Bier und in fröhlicher Asozialität versammeln sich die kantinenlosen Spieler zum Absacken vor dem Bühneneingang.

Rostocks Himmel sind wunderschön und im Bresi kann man rumhocken und rauchen und sich fühlen wie in einer altmodischen Kneipe, denn der Wirt spricht dich schon beim zweiten Besuch mit dem Vornamen an. 
Und da habe ich auch noch ein paar gute Freunde, die am Zustand ihres Theaters leiden und doch nicht bitter sind, sondern kampfeslustig.


Landschaftsausschnitt mit Frau oder Porträt?
Sieben Monate - vier Stücke, Jewgeni Schwarz, Schimmelpfennig, Shakespeare, Schnitzler - kein Wunder, dass es in meinem Kopf aussieht, wie in einem psychedelischen Experimentalfilm. So viele Worte und Wörter, Rhythmen, Synkopen, Bilder, Lügen, Wahrheiten und Spiele. Alle Namen beginnen mit S - ein Zeichen? Wohl eher nicht.

Sieben Monate in Zusammenarbeit mit wunderbaren Spielern und Technikern, anderen Irren und einigen bräsigen Nervensägen, sieben Monate allein. 

Im Ergebnis bin ich müde, und bin glücklich und liebe Theater immer noch. Aber für eine kleine Weile aus der Entfernung. Uff.
(Es gibt sie übrigens, die Theater, die in ihrer Stadt für ihre Stadt arbeiten, unpädagogisch, aufmerksam, spielerisch und oft verflixt gut. Es gibt sogar noch Ensembles!)

Reiter oder Profilansicht?
Es wär' doch schön gewesen, wenn ich Sie nur auf die Augen geküsst hätt'. Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen... 
A. Schnitzler Der Reigen