Man mag sich nichts vergeben, hieße, nähme man das Verb beim Wort, man wäre sich selbst gegenüber unerbittlich, unverzeihend, ohne die Möglichkeit der Vergebung. Anstattdessen meint es nur, man will sich nicht zu weit aus dem Fenster hängen, schön vorsichtig bleiben, ohne das Risiko des Lächerlich-machens. Es beschreibt den bisweilen VERGEBLICHEN Versuch die Würde zu wahren.
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“
Kann man also nur Vergebung erhalten, wenn man fähig ist anderen oder gar sich selbst zu vergeben? Da wird es ja ganz schwierig.
Wiki setzt Vergebung mit Verzeihung gleich und übersetzt es dann mit der Annahme von bekundeter Reue. Annahme, hmm. Was man mit dem Angenommenen dann anstellt, bleibt freilich dahingestellt. Man nimmt Reue an und vergibt das Angenommene. Hin und her. Quid pro quo. Im christliche Sinne soll Vergebung doch ohne weitere Leistung des Beschuldigten gewährt werden, nur Einsicht muß er haben. Und wenn er nicht weiß, was er tut, kann ihm sogar völlig ohne Eigenbeteiligung vergeben werden. "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun."
Entschuldigen hat auch so eine Ambivalenz. Ich entschuldige mich, ich mache mich frei von Schuld, was für ein Blödsinn, oder? Ich entschulde jemanden von etwas, geht doch schon eher.
"Schuld" hat, sagen einige Wörterbücher, die selbe germanische Wurzel "sculan" wie "sollen". Das, was man soll, ist das was man schuldet.
Der Anklang von Handel in all diesen Wörtern macht mich stutzen.
Verzeihung ist der profane Ausdruck an Stelle des religiösen Vergebung: das Gegenteil von zeihen, anklagen, also "eine Anklage fallen lassen" und auf Konsequenzen verzichten.
„Gewaltfreiheit ist bedeutungslos, wenn sie von einer hilflosen
Kreatur ausgeht. Eine Maus wird einer Katze kaum vergeben, wenn sie es
zulassen muss, von ihr in Stücke zerrissen zu werden.“ Mahatma Gandhi
Vergebung, für Hingebung, Erlassung, der Substantivbildung zu vergeben, in seiner ursprünglichen Bedeutung von fortgeben, hinweggeben. Was wird denn genau vergeben, weggegeben? Das Schuldgefühl des Bereuenden? Die eigene Wut, Trauer über was immer einem angetan wurde? Ist es ein Handel? Schlechtes Gewissen gegen Vergebung? Wohin gibt man das, was man vergibt?
Die Engländer haben "Forgive and forget", vergib und vergiss, auch keine leichte Sache. Ich, z.B., bin schwer zu erzürnen, wenn aber erstmal am kochen, auch nur schwer wieder zu beruhigen. Gott sei Dank, habe ich andererseits aber ein schlechtes Gedächtnis, mir fällt das Vergessen manchmal leichter, als das Vergeben. Und ich mag keine Entschuldigungen, weil sie nur in den seltensten Fällen mit mir zu tun haben, sondern, so scheint mir, meist mit dem Bedürfnis des "Schuldners" sich frei zu sprechen, mir die Last überzuhelfen, wenn ich nicht entschulde, bin ich dann Schuld. Das gilt natürlich umgekehrt auch, wenn ich die Schuldige bin.
Oder: "es tut mir leid", auch so ein komisches Gebilde, nicht "ich habe dir Leid angetan", nein, mir tut "es" leid.
Was wäre nun denn ein rechtes Wort für die Einsicht von Schuld, und die Bitte von ihr entlastet zu werden?
Demophon, Sohn des Theseus, liebte Phyllis , die Tochter des thrakischen Königs Sithon. Sie wurde seine Frau. Demophon reiste, mit dem Versprechen bald zurückzukommen, nach Athen, kam aber sehr lange Zeit nicht. Phyllis verzeifelte, erhängte sich aus Trauer und ward in einen Mandelbaum verwandelt, der plötzlich Blüten trieb, als der schlußendlich doch noch zurückgekehrte Demophon ihn umarmte.
Holzschnitt, Phyllis und Demophon, Venedig, frühes 16. Jahrhundert