Sonntag, 20. November 2011

Theater hat auch einen Sonntag vor der Premiere



Blöder Tag. Nutzloser Tag. Verkrampfte Versuche sich zu "erholen", unkonzentrierte Anläufe am nächsten Projekt zu arbeiten, führen zu nur einem Ergebnis: man schludert rum, ist sich selbst lästig und findet überhaupt alles eben blöde.
Samstag ist noch ok, diesen Morgen hat man geprobt und jetzt: faulenzen, Freunde treffen, Einen trinken gehen und dann am nächsten Morgen ausschlafen - ha, von wegen! 6.00 Uhr in der Frühe sitze ich im Bett mit dumpfem Kopf und unzähligen Dingen im Hirn, die ich, weil ja erst Montag wieder Probe ist, leider nicht umsetzen kann, und die doch ungeduldig und insistierend meine müde Hülle am Schlafen hindern. So ein unamüsanter Mist!
Ich langweile mich fast nie, außer am Sonntag vor der Premiere. Und es ist nicht einmal die angenehme Langeweile heißer Sommertage in irgendeiner bequemen Sitzgelegenheit, an denen der Gang zum Kühlschrank schon unvorstellbarer Energie bedürfte. Oder auf langen Zugfahrten, wenn man in einem gedehnten Zustand des Fastwegdämmerns zart vor sich hin sabbert. 
Nö, Vorpremierensonntagslangeweile ist wie eine einzelne Mücke im Zimmer, wenn man schlafen will. Wie ein Essensrest zwische den Zähnen und kein Zahnstocher weit und breit. Noch 20 Stunden bis zur nächsten Probe!


"I've got a great ambition to die of exhaustion rather than boredom."
"Ich habe einen grossen Ehrgeiz, lieber an Erschöpfung zu sterben, als an Langeweile."
Thomas Carlyle


Freitag, 18. November 2011

e.e. cummings - gesetzt den fall


  gesetzt den fall

  Das Leben ist ein alter mann der blumen auf seinem kopf trägt

  der junge tod sitzt in einem cafe
  lächelnd, ein geldstück haltend zwischen
  daumen und zeigefinger

  (ich sage zu dir "wird er blumen kaufen"
  und "Der Tod ist jung
  das leben trägt velourhosen
  das leben tappert, der tod hat einen bart" ich

  sage es zu dir, du schweigst. -- "siehst du
  Das Leben? er ist da und hier,
  oder das, oder dies
  oder nichts oder ein alter mann dreidrittel
  eingeschlafen, auf seinem kopf

  blumen, immer jammernd
  zu niemandem irgendwas über les
  roses les bluets
  ja,
  wird Er kaufen?

  Les belles bottes--oh höre
  , pas cheres")
  und langsam antwortete meine liebe das glaube ich. Aber
  ich glaube ich sehe noch jemand anders

  da ist eine dame, deren name ist Danach
  sie sitzt neben dem jungen Tod, ist schlank
  mag blumen.
Egon Schiele 1911 Selbstseher oder Tod und der Mann

 suppose
  
 Life is an old man carrying flowers on his head. 
 young death sits in a cafe smiling, 
 a piece of money held between 
 his thumb and first finger

 (i say "will he buy flowers" to you 
 and "Death is young 
 life wears velour trousers 
 life totters, life has a beard" i 

 say to you who are silent.--
 "Do you see Life? he is there and here, 
 or that, or this 
 or nothing or an old man 3 thirds asleep, 
 on his head 

 flowers, always crying 
 to nobody something about les 
 roses les bluets 
 yes, 
 will He buy? 

 Les belles bottes--oh hear 
 , pas cheres") 
 and my love slowly answered I think so. But 
 I think I see someone else there is a lady, whose name is Afterwards 
 she is sitting beside young death, is slender; 
 likes flowers.


Egon Schiele 1915 Der Tod und das Mädchen

  Das Leben spricht natürlich Französisch:

  les / roses les bluets = die rosen die kornblumen", "roses, bachelor's buttons";
  Les belles bottes = "hübsche gebinde", "pretty bunches";
  pas chères = "nicht teuer", "not expensive." 

Egon Schiele 1913 Seher

Grammatik der Sprachen von Babel - Jürgen Buchmann


Ein Mann, mit dem äußerst passenden Namen Buchmann, hat ein Buch geschrieben, mit dem nicht sehr kurzen Titel: Grammatik der Sprachen von Babel - Aufgezeichnet nach den Gesprächen des Messer Marco Polo, Edelmanns aus Venedig, von der Hand des Maestro Rustichello da Pisa, der auch Rusticiano genannt wird, im Gefängnis zu Genua. Das Buch ist dünn, gerade mal 50 Druckseiten.  
Marco Polo im Tartarenkostüm, Jan van Grevenbroek

1298, Venedig führt wieder einmal Krieg mit Genua, Marco Polo, ehemaliger Weltreisender und nunmehr venezianischer Flottenkommandant, wird nach der Seeschlacht von Corzula gefangengenommen und von den siegreichen Genuesen für ein Jahr ins Gefängnis gesteckt. Dort trifft er auf den Dichter Rustichello da Pisa, und diktiert ihm, auf dessen Drängen hin, seine Reiseerinnerungen. In einem kleinen Anhang ergeht er sich über die Sprachen, denen er auf seinen Reisen begegnet ist und schlägt "Eine Rhetorik des Schweigens" als Titel für diesen Teil vor, da, wie er sagt: "Wer Ohren hat zu hören, der höre, aber ...wie hört Euer Hören sich an?" Dieser Vorschlag erscheint Rustichello zu befremdlich und er entscheidet sich für den oben erwähnten Titel. Dieser "Anhang" enthält nun 33 Kurzbeschreibungen fremdartiger Sprachen, "aber die Überschriften der einzelnen Kapitel, die Hinweise zum Verbreitungsgebiet der betreffenden Sprachen enthielten, sind durch Beschädigung des Oberrandes der Handschrift verlorengegangen."

XI

In dieser Sprache sind alle Tempora bis auf das Futur ausgestorben; man kennt dort nur künftige Ereignisse, künftige Entschlüsse und künftiges Glück. Manchmal sitzen sie zusammen wie ängstliche Kinder und schweigen, denn es geschehen sonderbare und unheimliche Dinge. Endlich beginnt einer zaghaft zu reden. Alles wird sich zum Guten wenden; schon morgen kann alles anders sein. Sie umarmen sich, lächeln sich an und vertrauen auf den Kalender.

XXV

Der Gelehrte Mukhtar Ibn Ahmad erzählte mir einst unter Lachen, im Arabischen besitze jedes Wort viererlei Bedeutung: Es bezeichne erstlich eine Sache, alsdann ihr Gegenteil, fernerhin etwas, das mit Kamelen zu tun habe, und endlich eine Obszönität. In letzterer Hinsicht geht die Sprache dieses Volks noch weiter. Von den Modi des Verbums kennt sie einzig den Konjunktiv, der das Verlangen bezeichnet: Kein Satz, der nicht ein Zeugnis ihrer Begehrlichkeit wäre; noch die Greise verbringen den Tag mit lüsternen Reden. Die Grammatiker des Landes beklagen die Frivolität ihrer Sprache; einer, heißt es, der sich um ihretwillen entmannte, habe zu spät gefunden, dass er auch damit ihr nicht zu entrinnen vermochte.

Der Turmbau zu Babel, der Meister von Bedford, französischer Buchmaler um1423

1. Mose - Kapitel 11

Luther:
ES hatte aber alle Welt einerley zungen vnd sprache. 2 Da sie nu zogen gen Morgen / funden sie ein eben Land / im lande Sinear / vnd woneten daselbs. 3 Vnd sprachen vnternander / Wolauff / lasst vns Ziegel streichen vnd brennen / Vnd namen ziegel zu stein / vnd thon zu kalck / 4 vnd sprachen / Wolauff / Lasst vns eine Stad vnd Thurn bawen / des spitze bis an den Himel reiche / das wir vns einen namen machen / Denn wir werden vieleicht zerstrewet in alle Lender. 5 DA fur der HERR ernider / das er sehe die Stad vnd Thurn / die die Menschenkinder baweten. Vnd der HERR sprach / Sihe / Es ist einerley Volck vnd einerley Sprach vnter jnen allen / vnd haben das angefangen zu thun / sie werden nicht ablassen von allem das sie furgenomen haben zu thun. 7 Wolauff / lasst vns ernider faren / vnd jre Sprache da selbs verwirren / das keiner des andern sprache verneme. 8 Also zerstrewet sie der HERR von dannen in alle Lender / das sie musten auffhören die Stad zu bawen / 9 Da her heisst jr name BabelAuff Deudsch / Ein vermischung oder verwirrung. / das der HERR daselbs verwirret hatte aller Lender sprache / vnd sie zerstrewet von dannen in alle Lender.

Luther 1912:
Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Da sie nun zogen gen Morgen, fanden sie ein ebenes Land im Lande Sinear, und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, laß uns Ziegel streichen und brennen! und nahmen Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der HERR hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der HERR von dort alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, daß der HERR daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreut von dort in alle Länder.

Revidierte Elberfelder Bibel:
Und der HERR sprach: Siehe, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle, und dies ist [erst] der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts unmoeglich sein, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, lasst uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass sie einer des anderen Sprache nicht [mehr] verstehen! 

Mittwoch, 16. November 2011

Theater hat auch eine Märchen-Beleuchtungsprobe


Die Beleuchtungsprobe: Man trifft sich um 8 oder 9.00 Uhr früh, die Bühne ist, in diesem Fall, spartanisch weiß-schwarz und unfertig, die Kostüme werden wild und bunt sein, sind aber heute noch nicht da. Man kennt sich nicht, eine kurze Vorbesprechung eine Woche zuvor, und jetzt geht es schon zur Sache. Die Spieler haben einen Tag frei, anstelle ihrer, zwei freundliche und stumme Lichtdouble.

Früher tat man "es" nur im Dunkeln, heute und hier geht es um Schatten und Abstufungen von hell und dunkel, darum, dass die Szenen im rechten Licht stehen. 

Das Licht ist eine launische Diva, wenn Beleuchtende und Beabsichtigtes nicht zusammenkommen, wird das Falsche gesehen werden, Lustiges als Trauriges erscheinen, Trauriges als lustig und alle Mühe umsonst. 

Und dann auch noch "Märchenlicht", wo alles erlaubt ist, aber das meiste nicht funktioniert, weil Kinder, diese unerbittlich geradlinigen Zuschauer, jeden Spaß akzeptieren, aber abrupt das Interesse verlieren, wenn sie nicht ernst genommen werden.

Der Chefbeleuchter ist gekommen, um kurz mal reinzuschauen, 8 Stunden später ist er immer noch da. Wir spielen mit Farben, mit Pink und Cyan und Türkis, mit Kontrasten und den technischen Beschränkungen einer Märchenproduktion. 70 Minuten Spieldauer, maximal eine Stunde für Aufbau und Einleuchten vor der Vorstellung, davon oft zwei pro Tag, und erst abends folgt dann die richtige Kunst, die Oper.

In der Tat, keine andere Produktion dieses Jahres wird mehr Zuschauer haben, in diesem Fall circa 32 000, aber auch kein anderes Stück wird so unterbudgetiert und knapp geplant sein, weil es ja nur für Kinder ist. Hochmut oder Nachlässigkeit? Ausverkauft sind wir sowieso, warum dann noch investieren?

Ich habe Glück, zwei Fachmänner erfinden und zaubern, dass das Schwarz-Weiss zum Leben erwacht, sich verwandelt, und beginnt seine eigene Geschichte zu erzählen. Wunderbar! Ein Geschenk.




Beleuchter/innen bedienen und warten die lichttechnischen Einrichtungen eines Theaters oder sind für die ordnungsgemäße Montage, Einrichtung und Bedienung von licht- und veranstaltungstechnischen Anlagen in Produktionsstudios zuständig. Sie kümmern sich beispielsweise um die Bühnenbeleuchtung bei Rock- oder Popkonzerten oder helfen mit, Messestände ins richtige Licht zu setzen. Beleuchter/innen arbeiten in erster Linie in Theatern, Opern- und Schauspielhäusern, bei Konzert- und Kongressveranstaltern sowie bei Film- und Fernsehproduktionsgesellschaften. Sie sind aber z.B. auch bei Agenturen für Sportveranstaltungen beschäftigt. Darüber hinaus können sie in Ingenieurbüros für technische Fachplanung im theatertechnischen Bereich tätig sein.

Montag, 14. November 2011

Ein albernes Löwengedicht & Pirosmani 2


Landgraf Ludwig und der Löwe

Der heil'ge Ludwig tritt hervor
Aus Wartburgs hochgewölbtem Thor,
Er grüßet fromm den Morgenstrahl
Und schaut herab auf Stadt und Thal.

Und als er so hinunterschaut,
Schreckt ihn ein donnergleicher Laut.
Er wendet sich nach dem Geschrei,
Und sieht bestürzt den Löwen frei,

Den Löwen, den man ihm geschenkt,
Der seinen Kerker heut gesprengt; —
Sein Haupt, vom Mähnenhaar umrollt,
Bewegt er wild, die Stimme grollt.

Und seiner Augen Flammenstern
Ist starr gerichtet auf den Herrn,
Doch dieser blickt so fest ihn an,
Wie ihm der Löwe kaum gethan.

Und Auge fest in Auge ruht,
Der Landgraf aber droht voll Muth:
„Gleich lege dich, mein edles Thier!
Bei meinem Zorn befehl' ich's dir!"

Da hat der Löwe sich, erschreckt,
Zu Ludwigs Füßen hingestreckt,
Es hielt die Riesenkraft im Bann
Der Zornblick von dem frommen Mann.

Ein fester Blick, ein kühner Muth,
Die sind zu allen Zeiten gut.
Der Leu des feindlichen Geschicks
Weicht oft dem Feuer kühnen Blicks.

Ludwig Bechstein

 Nico Pirosmani

Rainer Maria Rilke - Die Stimmen & Nico Pirosmani


Die Stimmen

Neun Blätter mit einem Titelblatt


Titelblatt

Die Reichen und Glücklichen haben gut schweigen,
niemand will wissen was sie sind.
Aber die Dürftigen müssen sich zeigen,
müssen sagen: ich bin blind
oder: ich bin im Begriff es zu werden
oder: es geht mir nicht gut auf Erden
oder: ich habe ein krankes Kind
oder: da bin ich zusammengefügt...

Und vielleicht, daß das gar nicht genügt.

Und weil alle sonst, wie an Dingen,
an ihnen vorbeigehn, müssen sie singen.

Und da hört man noch guten Gesang.

Freilich die Menschen sind seltsam; sie hören
lieber Kastraten in Knabenchören.

Aber Gott selber kommt und bleibt lang
wenn ihn diese Beschnittenen stören. 

 Niko Pirosmani Kinderloser Millionär und arme Frau gesegnet mit Kindern

1862 - 1918 Niko Pirosmanashvili in Georgisch: ნიკო ფიროსმანი, gebürtig ნიკოლოზ ასლანის ძე ფიროსმანაშვილი = Nikolos Aslanis dse Pirosmanaschwili ist ein georgischer Maler. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt, er arbeitete als Diener, Schaffner und versuchte ein kleines Geschäft zu eröffnen, das aber schnell Pleite ging, seit 1902 lebte er obdachlos im Bahnhofsviertel von Tiflis. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit dem Malen von Kneipenschildern und Gelegenheitsarbeiten. Er tauschte seine Gemälde in den Kaschemmen gegen Essen, Trinken oder einen warmen Platz zum Übernachten ein.
Pirosmani starb am 9. April 1918 an Unterernährung und Leberversagen. Zuvor hatte er drei Tage lang krank und hilflos in einem Keller gelegen. Er wurde auf dem St.-Nino-Friedhof begraben. Die genaue Lage des Grabs ist mangels Registrierung unbekannt. (Wikipedia)

Es gibt einen wunderschönen Film über ihn, den ich vor 30 Jahren in meinem "immer noch" Lieblingskino, der Camera in der Oranienburgerstrasse, da wo heute das Tacheles ist, gesehen habe: Pirosmani. Regie: Giorgi Schengelaja , UdSSR, 1971.

Der blaue Junge


Der Knabe in Blau, vermutlich das Porträt eines englischen Knaben names Jonathan Buttall. Im 18. Jahrhundert gemalt, steht der Junge in der Kleidung des 17. Jahrhunderts, sehr klar und kühl, vor einer rauen und sturmzerfetzten Landschaft. Kein Haar ist verweht, die Federn am Hut in seiner Hand sind auch gänzlich unbewegt. Wie ein Gemälde vor einem Gemälde, frühe Blue-Box Technik sozusagen.

Der Knabe in Blau 1770 Thomas Gainsborough

1796 mußte Jonathan Konkurs anmelden und sein Portrait verkaufen. Nach verschiedenen Besitzerwechseln wurde es 1922 nach Amerika, genauer nach Kalifornien, verkauft. Der Direktor der Londoner Nationalgalerie schrieb zum Abschied: "Au Revoir, C.H." auf die Rückseite des Bildes.


Gainsborough hat auch noch einen Knaben in Pink gemalt. 

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts trugen Babies übrigens meist geschlechtsunabhängiges weiß, wenn die Eltern es sich denn leisten konnten. Erst dann und noch bis zum Beginn des 2. Weltkrieges wurden Blau und Pink zu geschlechterspezifischen Farben für Kleinkinder. Aber Pink galt damals als maskuline Farbe, verdünntes Rot sozusagen und deshalb üblich für Knaben. Kleine Mädchen trugen gewöhnlicherweise blau, weil es, wie es in einer Werbeschrift aus den 20ern heisst, die "delikatere"Farbe sei.

"...a June 1918 article from the trade publication Earnshaw's Infants' Department said, “The generally accepted rule is pink for the boys, and blue for the girls. The reason is that pink, being a more decided and stronger color, is more suitable for the boy, while blue, which is more delicate and dainty, is prettier for the girl.” Other sources said blue was flattering for blonds, pink for brunettes; or blue was for blue-eyed babies, pink for brown-eyed babies, according to Paoletti.
In 1927, Time magazine printed a chart showing sex-appropriate colors for girls and boys according to leading U.S. stores. In Boston, Filene’s told parents to dress boys in pink. So did Best & Co. in New York City, Halle’s in Cleveland and Marshall Field in Chicago.

 

Vermutlich war die Knabenportraits eine Hommage an den holländischen Maler van Dyk.

Van Dyk 1637/38 Portrait Charles II.

Nina Simone singt "Little girl blue"


Der Knabe in Blau, inspiriert von Gainsboroughs Gemälde, war der erste Film von Friedrich Wilhelm Murnau. Der Film aus dem Jahr 1919 wurde möglicherweise nie öffentlich gezeigt und gilt als verschollen.



Little Boy Blue


Little Boy Blue come blow your horn,
The sheep's in the meadow the cow's in the corn.
But where's the boy who looks after the sheep?
He's under a haystack fast asleep.
Will you wake him? No, not I - for if I do, he's sure to cry.



Sonntag, 13. November 2011

Iwan Goll und Claire Goll


IWAN GOLL (geb. Isaac Lang) 
Geboren in Saint-Die am 29. März 1891,
gestorben in Paris am 27. Februar 1950,
von 1919 bis zu seinem Tod verheiratet mit CLAIRE GOLL.

Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als   Deutscher bezeichnet."

 Handabdrücke des Dichterpaars Yvan (links) und Claire Goll, genommen 1947

CLAIRE GOLL (geb. Clara Aischmann)
Geboren in Nürnberg am 29. Oktober 1890,
gestorben in Paris am 30. Mai 1977.

„Frauen können von vielem träumen, wovon Männer sich nichts träumen lassen.“


Hedwig Warmbier, Blumenfrau auf dem Potsdamer Platz

Wie schwer wird deinem Arm das Glück Italiens
Und die Last der Gärten!
Viel Taunächte und Rosenabende,
Gitarren, Hundegebell, Windschmeichelei,
Wie schwer das ganze Glück des Frühlings!

Aber laß dich vom Gebrüll umtaumeln,
Pferde zerwiehern dein Gebet,
Autobusse flattern
Über dich hin. -  -

Höher halte die Anemonenflamme!
Höher deine Asphodelen!
(Zwei Knaben stehlen
Dir ein Krokusbund)
Höher wie eine Heilige
Hebe die Blumen in die graue Stadt.

Iwan Goll, 1919


Ode an den Herbst
Zweite Fassung

Warum zerreißen die Ulmen
Schon ihr Gewand
Und schlagen um sich mit den Armen
In irrer Besorgnis?
Des Sommers goldene Ruhe
Hat sie verlassen.
Verloren sind die Schlüssel
Die Schlüsselblumen des Glücks
Im grauen Grase,
Und schon vergessen
Verklingen im Abgrund
Die Schwüre der Liebe.

Der große König
Der seltsam Wissende
Herrscher des Waldes
Er gibt den Kampf auf
Gegen die Wolken,
Er läßt sein rostiges
Szepter fallen,
Der Apfel der Weisheit
Und alle Kronjuwelen
Verfaulen.

Im brüchig rasselnden
Geißblattgeranke
Klopfet die Angst des Iltis
Und über dem Teiche
Zerbricht die Libelle
Wie tönendes Glas.

Nur die Zentauren
Im roten Barte
Sie rennen erfreut
Mit funkelnden Hufen
Die Hügel ab,
Und ihre Spuren
Verglimmen im Moose.

Es lösen die Blätter
Sich ab von den Stämmen
Wie wehe, wie wehende Hände;
Sie schichten unten
Ein kupfernes Grab
Den sterbenden Vögeln.

In den Ruinen
Der Vogelburg wohnt noch
Die nächtliche Eule
Mit großen Augen
Das Schicksal beleuchtend.

Iwan Goll

Ich lebe nicht, ich liebe

Aus allen Poren strömt mir die Liebe.
Meine Muskeln sind gespeist von Deiner Liebe.
Ich habe nur rote Blutkörperchen vor lauter Liebe.
Mein Haar ist gelockt von der Liebe.
In allen Zungen singe ich, daß ich dich liebe.
Tanzen muß ich immer aus Liebe
Bin ich krank vor Liebe?
Oder gesund aus Liebe?
Ich lebe nicht, ich liebe.
Ich kann nicht sterben, weil ich dich liebe.
 
Ivan Goll an Claire Goll

Geburtstag von Ivan Goll

Ich hab den Abendstern
Meinen Lieblingsschmuck
In einem Taxi verloren
Ich hab meinen Geliebten
Auf dem Spielplatz der Engel
Zwischen Mars und Frankreich verloren
Eine Regenzeit beginnt in meinen Augen
Die Raben tragen Trauer
Die jungen Vögel hören auf zu wachsen
Mein Liebster und der Abendstern
Waren ein - und derselbe:
Blumen streikt mit mir: hört auf zu lächeln!

Claire Goll an Iwan Goll

 

Liebe

Ich liebe die Stille zwischen uns
Dieselbe Stille wie zwischen Blumen.
Das leise Schweigen am Morgen,
Das lautere des Abends
Und das zitternde zu Mitternacht
Das um den Andern fürchtet.

Ich mag nicht, dass Menschen kommen
Und uns unsere Stille stehlen,
Die gross ist wie die Stille der Kathedralen.
Ach, wie sie es zerbrechen
Unser blaues Schweigen aus venetianischem Glas.
Ich könnte weinen, wenn Fremde kommen.
Nur die Vögel draussen verstehen uns
Und singen unsre Stille
Und machen uns noch stummer vor der Ewigkeit.
Stille, süsser Vorschuss auf den Tod,
Sag dem Geliebten wie ich ihn liebe.

Claire Goll 

Du bist zart

Du bist zart
Wie die Fingerabdrücke
Der Vögel im Schnee.

Du bist traurig
Wie die Pinie am Berg
Mit dem zerzausten Haar.

Du bist süss
Wie die Datteln
Biblischer Palmbäume.

Und ich betrüge dich,
Gerade weil du so sanft bist
Und so vollendet traurig.
Claire Goll

Freitag, 11. November 2011

Bambi - ein Waisenkind wird mißbraucht


Bambi, das Rehkitz, verliert seine Mama und ich bin sicher, hunderttausende Kinder sind deshalb schon in Tränen ausgebrochen. Gestern abend konnte ich nun im Fernsehen, Dank sei der Theaterwohnung und den vielen probenfreien Abenden, die, aus mysteriösen Gründen, Bambi-Verleihung genannte Großveranstaltung des Burda-Verlages verfolgen, allerdings mit dem Rücken zum Gerät. Die Tonspur allein genügte, wer weiß, was zusätzliche Bildüberflutung bei mir noch angerichtet hätte. Man hätte weinen können, jetzt weiß ich wieder, warum ich nicht Fernsehen gucke!



Ich weiß gar nicht, womit beginnen, Wiki sagt: Der Bambi ist laut Veranstalter ein Preis für „Menschen mit Visionen und Kreativität, die das deutsche Publikum in (dem jeweiligen) Jahr besonders berührt und begeistert haben“
Ich sage, es ist eine verlogene, ununterhaltsame, eitle Propagandaveranstaltung - Propaganda für ein verschwiemeltes Deutschland - gebündelt in ein "wir sind prima und halten zusammen Gefühl". Da wurde Unglaubliches miteinander in einen Topf geworfen: Schauspieler, die eine Rolle erfolgreich gespielt haben, Menschen, die Großartiges leisten, um soziale Not zu lindern, ein Soldat, der einen anderen Soldaten gerettet hat und dabei selbst schwer verletzt wurde, Jopi Heesters als Dauerpreisträger für's Überleben, Helmut Schmidt für was genau, weiß ich nicht, Rosenstolz für ihr Comeback, Justin Bieber fürs Singen (?), Gwyneth Paltrow für, ja für was, und, einen Tusch, Bushido, der Rapper aus dem wilden Neu-Koelln für ... Heißt es nicht eigentlich, die Guten ins Töpfchen, die...? Der Fakt, dass der Abend auch noch fast gänzlich ohne Witz oder wenigstens Humor war, wurde ob solcher Unverschämtheit, fast nebensächlich.



Noch einmal Wiki: Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten kann oder auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben....Scham kann auch durch Verfehlungen oder empfundene Unzulänglichkeit (Peinlichkeit) anderer ausgelöst werden, die einem gemeinschaftlich verbunden sind. Hierfür ist mitunter der Neologismus Fremdschämen gebräuchlich...

Lasst uns gemeinsam eine Minute schweigend fremdschämen.

Donnerstag, 10. November 2011

Caravaggio - Bacchus

1595, ein Junge, wahrscheinlich heißt er Mario Minniti, sitzt Model, ein Hemd als Toga über der linken Schulter drapiert, das Stückchen Matratze, das freibleibt, ist schmuddelig, ebenso die Fingernägel der kindlich-weichen Hände. Die Haut von Gesicht und Händen ist leicht gebräunt, der Körper blass, wie bei Menschen, die im Freien arbeiten. Der Kopfschmuck wirkt herbstlich und riesig, aus dem rundlich hinreißenden Gesicht, schauen die Augen müde und doch verführend. Er hält ein Weinglas einladend mit zierlich gespreizten Händen in der linken Hand. Man vermutet, das Caravaggio mit einer Art camera lucida, einer Spiegelkonstruktion gearbeitet hat, das Abbild also spiegelverkehrt ist. Die rechte Hand hält, tja was, eine schwarze Schleife, mit der die improvisierte Toga zusammen gehalten wird? Wird er sie lösen, wenn der Wein angenommen worden ist?

Ein Fast-Kind-Bacchus mit einer üppigen Fruchtschale, die Früchte halbverfault, vielleicht ein Vanitas Motiv. “Vanitas vanitatum, et omnia vanitas” (Prediger 1, 2) verdeutscht "Eitelkeit der Eitelkeiten", oder: alles ist eitel, nichtig, der Vergänglichkeit anheimgefallen.

In der Karaffe mit rotem Wein findet sich, das hat man erst bei der Reinigung des Gemäldes festgestellt, ein kleines Selbstportrait des Malers selbst, eine weitere "Spiegelung".

Jugend, Lust, Verfall und Tod in Harmonie, wie merkwürdig und schön.