Die, meist schmuddeligen Bretter, die mir, irrerweise, immer noch die Welt bedeuten, haben
einen ganz eigenen Geruch. Schweiß, geflossen aus Angst und
Leidenschaft, Schminke, fettig und süßlich, Staub, immer Staub,
erhitzter Staub unter Scheinwerfern, kalter Staub wiederverwenderter Kulissen, die Ausdünstungen von Menschen, spielender Menschen,
Menschen im Lampenfieber, helfender Menschen, schauender Menschen. Und die Ausdünstungen aller vergangenen
Vorstellungen, der gelungenen und der
vergeigten, vermischen sich in diesem stinkenden, duftenenden Mischmasch. Menschen, die diesen Geruch lieben, sind nicht besonders, aber eigenartig. Sie stürzen sich in einen Beruf, der weder sozial, noch finanziell vielversprechende Angebote macht, die Arbeitszeiten sind Scheiße, Anerkennung ungewiss, aber sie, wir wollen, wir müssen diesem Duft nachjagen. Junkies, hooked on theatre.
Seit September 2020 habe ich den nicht mehr gerochen. Ein Junkie auf Entzug.
Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?
In letzter Zeit lese, höre ich, wenn über diesen für mich magisch parfümierten Raum gesprochen wird, mindestens einen der drei anderen Begriffe auch.
Es fing ganz wunderbar an, endlich wird das archaische Machtsystem des deutschen Stadttheaters in Frage gestellt. Endlich. Das Ensemblenetzwerk gründet sich, der GDBA wacht auf. Ein Aufbruch in wütender Liebe zum Theater.
Die Organisationsform des deutschen Stadttheaters wurzelt im Feudalismus und bewirbt sich gleichzeitig um Aufnahme ins Weltkulturerbe.
Bei Wiki finde ich, dass "ursprünglich am feudalen Hof ein Intendant der Verwalter des (z. B. königlichen oder fürstlichen) Fundus oder der Kleiderkammer war, im Absolutismus bezeichnete man hiermit den Steuereintreiber." Die nahezu ungebremste Machtfülle des Intendanten begünstigt seinen Mißbrauch dieser Macht.
Die Gagen für die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler sind geradezu lächerlich niedrig und ungerecht verteilt zwischen den Geschlechtern, wie allerorten, zu
Ungunsten der Frauen. Regieassistenti*innen werden noch
schlechter bezahlt und heftiger ausgebeutet. Die Arbeitszeiten aller Leute mit NV Solo-Verträgen sind empörend schlecht geregelt.
Regisseur*innen verwechseln ihre vereinende, zielgebende Aufgabe mit intellektueller Überlegenheit und herablassender Berechtigung, weil sie es können und verletzen das zerbrechliche, kostbare Verhältnis von Schauspieler*innen und Regisseur*innen immer wieder durch Rücksichtslosigkeit, Ungeduld und mangelndes Talent.
Also gilt es, neu nachdenken, andere, zeitgemäßere Organisations- und Schutzformen zu entwickeln.
Aber allmählich beginnt sich der Ton der Diskussion zu verändern. In diesem schrecklichen Jahr, in dem die Theater nicht spielen konnten, verwandeln sich diese Orte vor meinen lesenden Augen in schlammige, tiefschwarze Abgründe, in denen notgeile weiße Männer hilflose Mitarbeiter*innen verfolgen, systemischer Rassismus ungehindert Amok läuft, von Angst geschüttelte Schauspieler*innen unter menschenunwürdigem Druck arbeiten. Eine "toxische", systemisch rassistische, ergo kunstfeindliche Umgebung in der ich seit vielen, vielen Jahren meine produktive Zeit verbringe.
Die katholische Kirche wirkt im Vergleich wie ein kinderbespaßendes Bällebad.
Was habe ich nicht mitbekommen? Während ich inszeniert habe an kleinen, mittleren und großen Theatern und mit freien Gruppen?
Alle Welt und ihr Onkel entschuldigt sich schnellstens und glaubwürdig. Abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass man sich selbst ent-schulden kann, bezweifle ich auch, dass auf diese Art neues Verständnis entsteht. Öffentliche Kritik und Selbstkritik kenne ich gut aus meiner DDR-Schulzeit und habe es schon damals nicht gemocht, ein übles Ritual basierend auf moralischer Erpressung.
Mir scheint es fast so als würde hier keine neuen Kommunikationsformen gesucht, sondern Urteile gefällt, Strafen erlassen, Machtbereiche abgesteckt. Die weg, wir rein, und dann wird alls anders, besser. Eine monumentale, verzweifelte Selbstzerfleischung einer sowieso gefährdeten Kunstform, geführt in digitalen Foren mit Wortgewalt und gnadenloser, verallgemeinernder Wut
Der Stücke-Kanon muß weg ist noch einer der harmlosesten Verbesserungsvorschläge. Kleist weg. Schiller weg. Shakespeare weg. Weil ihre Figuren nicht unserer positiven Erwartung an den modernen Menschen entsprechen. What the fuck? Die meisten Menschen entsprechen nicht unseren Erwartungen. Das ist die Freude unseres Berufes, zu versuchen Konstellationen und Biographien zu verstehen, die uns vollkommen fremd scheinen und sich letztendlich als bekannt entblößen.
"Wenn wir unsere Vergangenheit nicht kennen (verstehen), werden wir keine (bessere) Zukunft haben." Was in klarem Deutsch heißt, wir machen den selben Scheiß wieder und wieder.
Irgendwann geht mir in diesen Auseinandersetzungen die Kunst verloren.
Ich bin ziemlich alt, weiß, jüdisch, weiblich und noch viele andere Dinge. Das heißt was? Ich sollte besser gar keine Meinung haben? Meine Meinung ist sowieso systemisch rassistisch? Mich mochten Leute nicht, weil mein Nachname sie ärgerte, oder weil ich eine laute Frau war, oder weil ich aus dem Osten war. So what the fuck?
Wie werden wir probieren, wenn wir nicht mehr angstfrei, grenzenlos spinnen können?
Sind alle Ankläger Opfer, die in gerechter Wut aufbegehren? Welche
Eigeninteressen spielen eine Rolle? Könnten wir uns darauf einigen,
nicht grundsätzlich selbstgerecht zu sein?
Ich habe in meiner Zeit als Theaterarbeiter nicht den Eindruck gehabt, es ginge hier grundsätzlich anders zu, als in der übrigen Welt. Soziale Abhängigkeit und Unsicherheit führt zu Ungerechtigkeit und sind ein gewöhnlicher und immanenter Teil des kapitalistischen Systems, in dem wir alle leben.
Sind wir sauer auf uns selbst, weil wir besser verdienen, wenn wir uns nicht ganz treu bleiben? Verkaufen wir unsere Besonderheit für Anwesenheit in der Presse? Sind wir neidisch? Haben wir unrealistische Ansprüche? Ist Opfer sein ein Alleinstellungsmerkmal?
Wollen wir Gerechtigkeit? Für jeden? Gibt es die? Wo? Wie?
Beide Bilder sind Ausschnitte eines Frescos an der Decke des Domes in Florenz.