Ende März 1946 hielt Albert
Camus einen Vortrag an der Columbia University in New York: Unter dem
Titel »The Human Crisis« erschien die englische Übersetzung des Vortrags
im selben Jahr in der New Yorker Zeitschrift Twice A Year. Das französische Original gilt als verschollen, so dass die Pariser Nouvelle Revue Française 1996 eine Rückübersetzung veröffentlichen musste, die Faust-Kultur hier erneut veröffentlicht.
100. Geburtstag von Albert Camus am 7. november 2013
Die Krise des Menschen
Von Albert Camus
Lassen Sie mich zuerst den Standort
meiner Generation bestimmen. Die Menschen meines Alters wurden kurz vorm
oder im Ersten Weltkrieg geboren, durchlebten ihre Jugend in der
Weltwirtschaftskrise und waren etwa zwanzig, als Hitler an die Macht
kam. In Europa und Frankreich erhielten sie zur Abrundung ihrer Bildung
den Spanischen Bürgerkrieg, München, den Kriegsausbruch 1939, die
Niederlage und vier Jahre Besatzung und Widerstand. Das dürfte gemeint
sein, wenn man diese Generation als interessant bezeichnet. Deshalb
dachte ich, dass nicht ich nur in meinem Namen zu Ihnen sprechen sollte,
sondern im Namen von Franzosen, die heute dreißig Jahre alt sind und
deren Hirne und Herzen sich in jenen furchtbaren Jahren gebildet haben,
als sie und ihr Land sich von Schande nährten und lernten, nicht mehr
mitzumachen.
Ja, eine interessante Generation ist es, vor allem deshalb, weil sie
angesichts der absurden Welt, die ihnen hinterlassen worden war, an
nichts glaubte und in der Revolte lebte. Die Literatur ihrer Zeit
revoltierte gegen Klarheit, Erzählung und sogar gegen den Satz. Die
Malerei verwarf den Gegenstand, die Wirklichkeitstreue und sogar die
Proportion. Die Musik schaffte die Melodie ab. Die Philosophie
schließlich lehrte, dass es keine Wahrheit gebe, sondern nur Phänomene:
dass es Mister Smith, Monsieur Durand und Herrn Vogel geben mochte,
aber nichts diesen drei Einzelphänomenen Gemeinsames. Die
moralischen Vorstellungen dieser Generation gingen sogar noch weiter:
Nationalismus hielt sie für überlebt, Religion für Flucht; die
fünfundzwanzig Jahre politisches Weltgeschehen hatten sie gelehrt,
jede echte Überzeugung in Zweifel zu ziehen und zu meinen, dass
niemand Unrecht habe, da jeder Recht haben könne. Was die
traditionelle Moral unserer Gesellschaft anbelangte, so war sie, was sie
noch immer ist: eine monströse Heuchelei.
So verneinte diese Generation alles. Das war an und für sich nichts
Neues. Andere Generationen in anderen Ländern hatten dieselbe
Erfahrung in anderen Epochen gemacht. Neu war nur, dass Menschen, die
allen Wertsetzungen entfremdet waren, sich zu einer Welt verhalten
mussten, in der Mord und Terror herrschten. Die Widersprüche, in die sie
dabei gerieten, waren so grausam, dass sie auf eine Krise des Menschen
überhaupt schlossen. Sie traten in den Krieg ein, wie man in die Hölle
eintritt, wenn es denn wahr ist, dass die Hölle die Verneinung von allem
ist. Sie, die weder Krieg noch Gewalt suchten, mussten den Krieg
mitmachen und Gewalt ausüben; sie, die nichts hassten als den Hass,
mussten dessen strenge Disziplin lernen. In offenem Gegensatz zu sich
selbst, ohne jede Anleitung durch überlieferte Werte, hatten sie die
schwersten menschlichen Konflikte auszuhalten. So ist da auf der einen
Seite diese besondere Generation, die ich eben beschrieben habe, und auf
der anderen eine Krise von weltweiten Ausmaßen, eine Krise des
Gewissens, die ich jetzt so klar wie möglich charakterisieren möchte.
Statt sie allgemein zu beschreiben, möchte ich sie durch vier kurze
Geschichten illustrieren, Geschichten aus einer Zeit, die die Welt zu
vergessen anfängt und die doch noch in unseren Herzen brennt.
1)
In einer europäischen Hauptstadt findet die Hausmeisterin in einer von
der Gestapo gemieteten Wohnung morgens zwei in der Nacht Verhörte vor,
noch blutend und gefesselt; sorgfältig richtet sie den Raum wieder her
– guter Dinge, sicher kommt sie gerade vom Frühstück. Als einer der
gefolterten Männer ihr Vorhaltungen macht, empört sie sich: “Ich mische
mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten meiner Mieter ein.”
2) In Lyon wird einer meiner Genossen zum dritten
Verhör aus der Zelle geholt. Bei einem der beiden ersten Verhöre sind
ihm die Ohren zerfetzt worden, und er trägt einen Verband um den Kopf.
Der deutsche Offizier, der ihn hereinführt, derselbe, der an dem
früheren Verhör teilgenommen hatte, fragt ihn wie mit besorgter
Anteilnahme: “Was machen Ihre Ohren?”
3) In Griechenland hat ein deutscher Offizier nach
einem Partisanenüberfall drei Brüder als Geiseln genommen und trifft
Anstalten, sie erschießen zu lassen. Die alte Mutter der drei bittet um
Gnade, und er erklärt sich bereit, einen der Söhne zu verschonen, aber
unter der Bedingung, dass sie selber bestimme, welchen. Als sie sich
dazu nicht entscheiden kann, machen sich die Soldaten schussbereit.
Schließlich zeigt sie auf den Ältesten, weil der eine Familie zu
ernähren hat, und verurteilt damit zugleich die beiden anderen Söhne –
wie es der deutsche Offizier beabsichtigt.
4) Eine Gruppe deportierter Frauen, darunter eine
Genossin, wird über die Schweiz nach Frankreich repatriiert. Kaum auf
Schweizer Boden, sehen sie eine Beerdigung. Der bloße Anblick versetzt
sie in hysterisches Lachen: ”So also geht man hier mit den Toten um”, sagen sie.
Ich
habe diese Geschichten nicht wegen ihres Sensationsgehalts ausgewählt.
Ich weiß, wie zartbesaitet die Welt ist und dass man lieber die Augen
verschließt, als sich stören zu lassen. Diese Geschichten habe ich
auswählt, weil ich nun anders als mit einem konventionellen ja
auf die Frage antworten kann: “Ist der Mensch in einer Krise?” Nun kann
ich so antworten, wie es diejenigen, von denen ich sprach, getan haben:
Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil Tod oder Folter eines Menschen
in unserer Welt mit Gleichgültigkeit, mit wissenschaftlicher Neugier
oder auch ganz ohne Reaktion mitangesehen werden. Ja, der Mensch
ist in einer Krise, weil die Tötung eines Menschen anders als mit
Abscheu und Scham, die sie hervorrufen sollte, betrachtet werden kann.
Weil Trauer wie eine leidige Verpflichtung empfunden wird, etwas wie
der Umstand, um Lebensmittel anstehen zu müssen – deshalb ist der
Mensch in einer Krise.
Es ist zu leicht, einfach Hitler die Schuld daran zu geben und zu
sagen, da die Schlange zertreten sei, sei auch das Gift aus der Welt.
Denn wir wissen ganz genau, dass dieses Gift nicht aus der Welt ist,
dass wir alle es in unseren eigenen Herzen tragen, wie sich an dem
Argwohn zeigt, mit dem Nationen, Parteien und Individuen sich
unverändert begegnen. Ich war immer der Auffassung, dass eine Nation für
ihre Verräter ebenso verantwortlich sei wie für ihre Helden. Aber das
gilt auch für eine Zivilisation, und die Zivilisation des weißen Mannes
insbesondere ist für ihre Perversionen genauso verantwortlich wie für
ihre Ruhmestaten. So gesehen sind wir alle für den Hitlerismus
verantwortlich und verpflichtet, den tieferen Ursachen dieser Pest
nachzuforschen, die das Gesicht Europas entstellt hat.
Versuchen wir nun, anhand der vier Geschichten, die ich erzählt
habe, die deutlichsten Symptome der Krise aufzuzählen. Es sind die
folgenden:
1)
Gewaltherrschaft als Folge einer derartigen Pervertierung von Werten,
dass ein einzelner oder eine historische Kraft heute nicht nach ihrer
Menschenwürde, sondern nach ihrem Erfolg beurteilt werden. Die Krise
der Moderne ist deutlich daran abzulesen, dass im Westen keiner seiner
unmittelbaren Zukunft mehr sicher ist, während jeder mit der Gewissheit
zurechtkommen muss, so oder so unter die Räder der Geschichte zu
geraten. Soll der Hiob unserer Zeit nicht an seinen Wunden auf dem
Misthaufen verenden, muss erst einmal die Hypothek von Furcht und Angst
getilgt werden, damit er die geistige Freiheit wiederfindet kann, ohne
die keins der Probleme, vor denen unsere Gewissen heute steht, zu lösen
ist;
2) das Unvermögen, zu überzeugen. Menschen leben –
und können nur leben – in dem Glauben an etwas allen Gemeinsames,
etwas, auf das sie sich immer zurückbeziehen können. Wenn man zu einem
Menschen menschlich spricht, erwartet man Reaktionen, die ebenfalls
menschlich sind. Stattdessen haben wir erlebt, dass es Menschen gibt,
die man nicht überzeugen kann. Ein KZ-Häftling konnte unmöglich die
SS-Männer, die ihn schlugen, vom Unrecht ihres Tuns überzeugen. Die
griechische Mutter, von der ich sprach, konnte unmöglich den deutschen
Offizier davon überzeugen, dass er ihr mit seiner Grausamkeit das Herz
brach. Denn SS-Leute und deutsche Offiziere waren keine Menschen mehr,
keine Vertreter der Spezies Mensch, sondern zur Idee oder Theorie
erhobener Instinkt. Leidenschaft, selbst mörderische, wäre weniger
teuflisch gewesen, denn Leidenschaft erschöpft sich irgendwann.
Hingegen ein Mensch, der imstande ist, nach dem Zustand der Ohren zu
fragen, die er vorher selber zerfetzt hat, der ist nicht von
Leidenschaft getrieben, der ist wie ein mathematisches Theorem, das
durch nichts aufgehalten oder umgelenkt werden kann;
3) die Ersetzung der natürlichen Sache durch
bedrucktes Papier, womit ich das Überhandnehmen der Bürokratie
meine. Der moderne Mensch schiebt zwischen sich und die Natur eine
immer abstraktere und kompliziertere Maschinerie, die ihn in die
Einsamkeit stößt. Aus Papier, Büros und Beamten ist eine Welt
entstanden, aus der alle menschliche Wärme geschwunden ist und wo der
Kontakt von einem zum andern nur noch durch ein Labyrinth von
Formalitäten führt. Der deutsche Offizier, der meinem Genossen
besänftigend in die geschundenen Ohren sprach, glaubte so handeln zu
dürfen, weil der Schmerz, den er ihm zugefügt hatte, zu seinen
Dienstaufgaben gehörte, folglich eigentlich nichts Böses geschehen war.
Kurz, wir sterben, lieben oder töten nur noch im Auftrag;
4) die Ersetzung des Menschlichen durch das
Politische. Individuelle Leidenschaften gibt es nicht mehr, nur noch
kollektive, also abstrakte Leidenschaften. Ob wir wollen oder nicht, wir
müssen politisch sein. Was heute zählt, ist nicht, ob man eine Mutter
achtet und ihr Leid erspart – was heute zählt, ist nur noch, ob man
einer Doktrin zum Triumph verholfen hat oder nicht. Menschliches Leiden
ist kein Skandal mehr, sondern nur noch ein Posten auf einer Rechnung,
deren Schreckenssumme erst noch gezogen werden muss;
5) der all diesen Symptomen gemeinsame Nenner, den
wir als den Kult von Effizienz und Abstraktion beschreiben können. Das
ist der Grund, warum der europäische Mensch heute nichts als Einsamkeit
und Schweigen erfährt. Er kann sich anderen Menschen nicht mitteilen,
weil es keine Werte mehr gibt, die alle teilten. Deshalb kann er nicht
mehr der Achtung durch andere sicher sein, und ihm bleibt nur noch die
Wahl, Opfer oder Henker zu werden;
II.
Das
ist die Erfahrung meiner Generation, und das ist die Krise, in der sie
sich befand und immer noch befindet. Ihr mussten wir uns stellen und
dabei Orientierungshilfe suchen, wo wir sie fanden, also nirgends,
außer im Bewusstsein von der Absurdität unserer Situation. So mussten
wir in den Krieg und dem Grauen ins Auge sehen, ohne den Trost letzter
Gewissheiten zu haben. Wir wussten nur, dass wir den Bestien, die in
Europa die Macht an sich gerissen hatten, nicht nachgeben durften,
aber nicht, wie wir, was wir für unsere Pflicht hielten, in der Lage,
in der wir uns befanden, rechtfertigen sollten. Selbst die
Nachdenklichsten unter uns wussten nicht, im Namen was für eines
Prinzips sie sich dem Terror widersetzen und Mord als Mittel zum Zweck
ablehnen sollten.
Denn wenn man an nichts glaubt, wenn nichts Sinn hat und es keine
Werte mehr gibt, dann ist alles erlaubt und nichts hat Bedeutung. Dann
gibt es weder Gut noch Böse, und Hitler hatte weder Unrecht noch Recht.
Man kann Millionen Unschuldiger ins Krematorium schicken oder sich für
die Krankenpflege aufopfern. Man kann einem Mann mit der einen Hand die
Ohren zerfetzen, um sie mit der andern zu streicheln. Man kann in der
Gegenwart von Folteropfern die Wohnung aufräumen. Man kann die Toten
ehren oder sie beseitigen wie Müll. Das eine ist so gut wie das andere.
Und weil alles sinnlos zu sein schien, mussten wir schließen, dass der
Erfolg allein zähle. Solche Skeptiker gibt es ja noch heute, die Ihnen
erzählen, dass, wenn Hitler diesen Krieg zufällig gewonnen hätte, die
Geschichte das, was er verkörperte, gutgeheißen und dem widerlichen
Postament, auf dem er dann thronte, ihre Reverenz erweisen würde. In der
Tat hätte die Geschichte, so wie sie sich heute darstellt, Hitler dann
heiliggesprochen und Mord und Terror gerechtfertigt, so wie wir alle
Mord und Terror rechtfertigen, wenn wir dem Gedanken nachgeben, alles
sei sinnlos.
Gewiss, einige von uns ließen sich davon überzeugen, dass man in
Ermangelung höherer Werte immer noch an einen Sinn der Geschichte
glauben könne, jedenfalls handelten sie immer so, als sei das ihre
Überzeugung. Sie erklärten den Krieg für notwendig, weil er die Epoche
der Nationalismen beenden und ein Zeitalter herbeiführen würde, in dem
die Imperien unfreiwillig oder freiwillig einer Weltgesellschaft und
dem Paradies auf Erden Platz machen würden.
Aber damit kamen sie zu Schlussfolgerungen, zu denen sie auch
gekommen wären, wenn sie wie wir anderen alles für sinnlos gehalten
hätten. Denn wenn die Geschichte überhaupt Sinn hat, dann muss dieser
alles umfassen, oder es wäre keiner. Diese Menschen dachten und
handelten, als gehorche die Geschichte irgendeiner transzendentalen
Dialektik und als bewegten wir uns alle auf irgendein bestimmtes Ziel
zu. Sie dachten und handelten nach dem schrecklichen Grundsatz Hegels,
der Mensch sei für die Geschichte gemacht, nicht die Geschichte für den
Menschen. Tatsache ist, dass der ganze politische und moralische
Pragmatismus, der heute in der Welt herrscht, oft durchaus ungewollt
jener deutschen Geschichtsphilosophie entstammt, nach der die ganze
Menschheit mit rationalen Schritten auf einen harmonischen Endzustand
zumarschiert. Der Nihilismus ist einer Art von absolutem Rationalismus
gewichen, aber beide führen zu denselben Ergebnissen. Denn wenn es wahr
ist, dass die Geschichte durch eine unfehlbare und fatale Logik bestimmt
ist, wenn es wahr ist, wie diese deutsche Philosophie behauptet, dass
auf die Anarchie der Feudalstaat, auf den Feudalstaat der Nationalstaat
und auf die Nationen Imperien mit dem Endziel einer Weltgesellschaft
folgen, dann ist alles, was diesem vorbestimmten Endziel dient, gut,
und die Erfolge der Geschichte sind unabweisbare Wahrheiten. Und da
diese Erfolge nur in üblicher Weise durch Kriege und Intrigen, durch
die Ermordung Einzelner und ganzer Völker erreicht werden können, so
können Handlungen nicht nach gut oder schlecht beurteilt werden, sondern
nur nach zweckdienlich oder zwecklos.
Die Versuchung der Menschen meiner Generation war eine doppelte:
entweder nichts für wahr zu halten oder die Wahrheit allein in der
Unterwerfung unter eine historische Vorbestimmung zu sehen. Weil
viele einer dieser beiden Versuchungen erlegen sind, konnte die Welt
Usurpatoren in die Hände fallen und schließlich von Terror regiert
werden. Denn wenn nichts wahr oder falsch ist, gut oder böse, wenn
Effizienz der einzige Wert ist, dann ist die einzige Regel, an die man
sich halten kann, die, der Effizienteste zu sein, und das heißt: der
Mächtigste. Dann ist die Welt nicht mehr in Gerechte und Ungerechte
eingeteilt, sondern in Herren und Sklaven. Recht hat, wer die Macht
hat. Die Hausmeisterin hat Recht, die Gefolterten Unrecht. Der deutsche
Offizier, der die Folter anordnet, und derjenige, der sie ausführt –
die zu Totengräbern gewordenen SS-Leute –, das sind die Vernünftigen
dieser neuen Welt. Sehen Sie nur einmal um sich, ob es nicht noch immer
so ist. Immer noch stecken wir mit dem Kopf in der Schlinge der Gewalt
und werden erdrosselt. Im Innern jeder Nation wie in der ganzen Welt
sind Misstrauen, Rachsucht, Habgier und Machtwille dabei, ein Reich
der Finsternis und Verzweiflung zu errichten, wo jeder in den Grenzen
des Jetzt zu leben gezwungen ist – das bloße Wort “Zukunft” macht ihm
schon Angst –, abstrakten Mächten ausgeliefert, hilflos und durch die
Hast des Daseins abgestumpft, ohne selbstverständliche Wahrheiten,
reflektierte Muße und einfache Freuden.
III.
Wenn
die Symptome der Krise wirklich Machtgier, Terror, Verdrängung des
wirklichen Menschen durch den politischen und historischen Menschen,
Herrschaft von Abstraktion und Fatum, Einsamkeit ohne Zukunft sind und
wir diese Krise überwinden wollen, so müssen wir bei den Symptomen
ansetzen. Das ist die ungeheure Aufgabe, vor der unsere Generation
steht, ohne sich dabei an irgendetwas halten zu können. Ja, gerade aus
der Verneinung muss sie die Kraft für diese Aufgabe schöpfen. Man
brauchte uns gar nicht erst zu sagen: du musst an Gott, an Plato oder an
Marx glauben, denn das Problem war, dass wir zu keinerlei Glauben
imstande waren. Unsere Frage war einzig und allein, ob wir uns auf eine
Welt, in der man nur Opfer oder Henker sein konnte, einlassen sollten
oder nicht. Dabei versteht sich von selbst, dass wir weder Opfer noch
Henker sein wollten, weil wir tief in unseren Herzen wussten, dass
selbst diese Unterscheidung nur eine scheinbare war und wir im Grunde
genommen alle Opfer waren und dass Mörder und Ermordete schließlich in
derselben Niederlage vereint sein würden. Insofern ging es also gar
nicht mehr darum, ob wir uns auf diese Situation und diese Welt
einlassen sollten oder nicht, sondern darum, festzustellen, mit was für
Gründen wir uns dagegen widersetzen könnten.
Darum haben wir unsere Gründe in unserer Revolte selbst gesucht, die
uns unwillkürlich dazu getrieben hatte, den Kampf gegen das Unrecht
zu wählen. Uns wurde klar, dass wir nicht nur um unser selbst willen
revoltiert hatten, sondern für etwas allen Menschen Gemeinsames.
Aber was bedeutete in einer Welt ohne Werte, die unsere Herzen
verwüstet hatte, eigentlich unsere Revolte? Sie hat Menschen aus uns
gemacht, die nein sagten. Gleichzeitig aber waren wir auch Jasager. Wir sagten nein
zu dieser Welt, zu ihrer Absurdität, zu den Abstraktionen, die uns
bedrohten, zu der Zivilisation des Todes, die uns da angerichtet wurde.
Indem wir nein sagten, erklärten wir, dass es so nicht mehr weitergehen
konnte, dass es eine Grenze des Hinnehmbaren gab. Damit bejahten wir
alles, was diesseits jener Grenze lag, bejahten, dass da etwas
in uns war, das die Zumutung zurückwies und das nicht für immer
unterdrückt werden konnte. Natürlich lag da ein Widerspruch, der uns
zum Nachdenken bringen musste. Wir hatten geglaubt, dass die Welt
eigentlich für nichts lebte und kämpfte, und da kamen wir und kämpften
trotzdem gegen Deutschland. Die Franzosen, denen ich in der
Widerstandsbewegung begegnet bin, bewiesen, indem sie in den Zügen, mit
denen sie ihr Propagandamaterial transportierten, Montaigne lasen, dass
man für die Skeptiker Verständnis und doch einen Ehrbegriff haben
konnte. Irgendetwas bejahten wir schließlich alle, schon dadurch, dass
wir lebten, hofften und kämpften.
War aber dieses Irgendetwas von allgemeiner Bedeutung, ging es über
die persönliche Stellungnahme hinaus, konnte es anderen zum Maßstab
ihres Verhaltens werden? Die Antwort ist ganz einfach. Die Menschen, von
denen ich spreche, waren bereit, ihre Revolte mit dem Leben zu
bezahlen. Ihr Tod würde beweisen, dass sie sich für eine Wahrheit
geopfert hatten, die ihre eigene Existenz, ihr Einzelschicksal
überstieg. Was sie in ihrer Revolte gegen ein feindseliges Schicksal
verteidigten, das war ein universeller Wert. Wo Menschen in der
Anwesenheit der Hausmeisterin gefoltert wurden, wo Menschenohren mit
Methode zerfetzt wurden, wo Mütter gezwungen wurden, ihre Kinder zum
Tode zu verurteilen, wo die Gerechten verscharrt wurden wie verreckte
Tiere, da haben sie in ihrer Revolte gezeigt, dass etwas in ihnen
verneint wurde, das nicht ihnen allein gehörte, sondern allen Menschen,
die zur Solidarität bereit sind.
Als das einmal feststand, wussten wir, wie wir zu handeln hatten,
und wir machten die Erfahrung, wie der Mensch noch in der allergrößten
moralischen Verarmung Werte wiederfinden kann, um sein Handeln
danach auszurichten. Denn wenn die Wahrheit in der Solidarität zwischen
den Menschen lag, in der wechselseitigen Anerkennung ihrer
Menschenwürde, dann war die Solidarität selbst der Wert, den es zu
behaupten galt.
Und damit diese Solidarität Bestand hat, müssen die Menschen frei
sein, denn Herr und Sklave können nicht miteinander reden. Ja, Sklaverei
ist ein Schweigen, und zwar das schrecklichste überhaupt.
Und um diese Solidarität dauerhaft zu machen, müssen wir die
Ungerechtigkeit beseitigen, denn zwischen dem Unterdrückten und dem,
der aus der Unterdrückung Profit zieht, gibt es kein Gespräch – auch
der Neid wohnt im Reich des Schweigens.
Um diese Solidarität zu einer bleibenden zu machen, müssen wir
Gewalt und Lüge ächten, denn wer lügt, verschließt sich vor den
anderen, und wer foltert und Gewalt antut, bewirkt ein Schweigen, das
sich nie wieder brechen lässt. Ja, auf der Verneinung, die unsere
Revolte war, müssen wir eine Moral der Freiheit und Aufrichtigkeit
gründen.
Soviel wissen wir jetzt: dass wir dem Morden mit Solidarität
entgegentreten müssen, dass wir gegen Ungerechtigkeit, Sklaverei und
Gewaltherrschaft kämpfen müssen, denn das sind die drei Plagen, die die
Menschen zum Schweigen bringen, Barrieren zwischen ihnen errichten, sie
namenlos machen und sie hindern, den einen Wert zu erkennen, der sie in
dieser verzweifelnden Welt retten kann: Brüderlichkeit im Kampf gegen
das Fatum. Am Ende dieser langen Nacht, jetzt und in Zukunft, wissen
wir, was wir in dieser von krisengeschüttelten Welt zu tun haben.
1)
Wir müssen die Dinge bei ihrem Namen nennen und uns klarmachen, dass
wir jedesmal Millionen von Menschen umbringen, wenn wir bestimmten
Gedanken freien Lauf lassen. Nicht der Mörder macht Denkfehler, sondern
Denkfehler machen Mörder. So kann man Mörder sein, ohne jemand wirklich
umgebracht zu haben. Und in diesem Sinne sind wir alle mehr oder minder
Mörder. Deshalb ist als erstes jede Art von Pragmatismus und
Fatalismus in Tun und Denken unumwunden zu verwerfen.
2) Wir müssen die Welt von der Gewalt reinigen, von
der sie befallen ist, einer Gewalt, die alles beherrscht und den
Verstand außer Kraft setzt.
3) Die Politik muss wieder in ihre Schranken
gewiesen werden. Ihr Ziel sollte nicht sein dürfen, die Welt mit einem
Evangelium oder einem Katechismus zu versorgen, weder einem
politischen noch einem moralischen. Das große Unglück unserer Zeit
ist gerade, dass die Politik sich anmaßt, uns mit einer ganzen
Weltanschauung und manchmal sogar mit Vorschriften für unser Liebesleben
zu beglücken. Die Aufgabe der Politik ist es, unser Haus in Ordnung zu
bringen, nicht, sich mit unseren persönlichen Problemen zu beschäftigen.
Ich für mein Teil weiß nicht, ob es ein Absolutes gibt oder nicht, aber
ich weiß genau, dass das die Politik nichts angeht. Das Absolute ist
nichts, das alle angeht es geht jeden einzelnen an, und jedem muss von
der Gemeinschaft die innere Muße gelassen werden, sich nach dem
Absoluten zu fragen. Wenn unser Leben auch anderen gehört und wir es
notfalls für andere hingeben müssen – unser Tod gehört nur uns allein.
Das ist meine Definition von Freiheit.
4) Ausgehend von einer Position der Verneinung
müssen wir als viertes positive Werte suchen und schaffen, die
verneinendes Denken mit der Möglichkeit bejahender Tat versöhnen
können. Hierin liegt eine Aufgabe für Philosophen, die ich nur andeuten
kann.
5) Dazu muss die Einsicht in die Notwendigkeit
eines Universalismus kommen, durch den alle Menschen guten Willens sich
solidarisch fühlen können. Um aus seiner Vereinzelung herauszukommen,
muss man sprechen, aufrichtig, nie lügen, aus welchem Grund auch immer,
und die ganze Wahrheit sagen, die man kennt. Aber die Wahrheit kann man
nur in einer Welt sagen, in der sie definiert und auf Werte gegründet
ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Kein Hitler kann bestimmen, was
wahr und was falsch ist. Kein Sterblicher darf, weder heute noch morgen,
seine Wahrheit für allgemeingültig erklären, um sie anderen
aufzuzwingen; solche Allgemeingültigkeit könnte allein das menschliche
Gewissen beanspruchen, und sie zu begründen, müssen erst die Werte
wiedergefunden werden. Die Freiheit, die wir schließlich gewinnen
müssen, ist die Freiheit, nie zu lügen. Nur so können wir zur Erkenntnis
unserer Gründe gelangen, warum wir leben und warum wir sterben.
An
diesem Punkt sind wir immerhin angekommen, und vielleicht war er des
langen Wegs nicht wert. Aber die Geschichte der Menschen ist ja die
Geschichte ihrer Irrtümer und nicht die ihrer Wahrheiten. Die Wahrheit
ist vermutlich wie das Glück: ganz einfach und ohne Geschichte.
Heißt das nun, dass all unsere Probleme auf dem Weg zur Lösung sind?
Keineswegs. Die Welt ist weder besser noch vernünftiger geworden, und
wir sind aus der Absurdität nicht heraus. Aber wir haben wenigstens
einen Grund, unser Verhalten zu ändern, und ein solcher Grund hat uns
bisher gefehlt. Gäbe es den Menschen nicht, könnte die Welt nur
verzweifeln; aber der Mensch mit seinen Leidenschaften, seinen
Träumen, seinen Beziehungen zu anderen existiert. So haben einige von
uns in Europa ein pessimistisches Weltbild mit einem zutiefst
optimistischen Menschenbild zu versöhnen versucht. Was wir vorschlagen,
ist nicht, aus der Geschichte zu fliehen, denn wir sind Teil der
Geschichte.
Unser Vorschlag ist nur, innerhalb der Geschichte zu kämpfen, um den
Teil des Menschen vor ihr zu bewahren, der ihr nicht gehört. Wir
möchten nur unseren Weg zu der Art von Zivilisation finden, in der der
Mensch weder der Geschichte den Rücken kehrt noch länger ihr Sklave ist;
in der der Dienst, den jeder den anderen schuldet, durch das
Nachdenken, die Muße und die Teilhabe am Glück aufgewogen wird, die ihm
selber zustehen.
So lebt heute in Frankreich und Europa eine Generation, die jeden, der auf die conditio humana
vertraut, für verrückt erklärt, und jeden, der an den Verhältnissen
verzweifelt, für einen Feigling. Sie verwirft absolute Erklärungen und
die Herrschaft politischer Ideologien, aber den lebendigen Menschen in
seinem Streben nach Freiheit bejaht sie. Zwar glaubt sie nicht an die
Verwirklichung allgemeiner Glückseligkeit, wohl aber an die Möglichkeit,
das Leid der Menschheit zu lindern. Gerade weil die Welt eigentlich
unglücklich ist, glaubt diese Generation, dass wir ein bisschen Glück
auf ihr schaffen müssen: Gerade weil die Welt ungerecht ist, müssen wir
für Gerechtigkeit wirken; gerade weil sie letzten Endes absurd ist,
müssen wir ihr Sinn geben.