Donnerstag, 2. Mai 2013

TRAURIGKEIT DIE JEDER KENNT - Erich Kästner



 Edvard Munch. Der Nachtwandler. 1923/24 


TRAURIGKEIT DIE JEDER KENNT

Man weiß von vornherein, wie es verläuft.
Vor morgen früh wird man bestimmt nicht munter.
Und wenn man sich auch noch so sehr besäuft:
die Bitterkeit, die spült man nicht hinunter.

Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund.
Und angefüllt ist man mit nichts als Leere.
Man ist nicht krank. Und ist auch nicht gesund.
Es ist, als ob die Seele unwohl wäre.

Man will allein sein. Und auch wieder nicht.
Man hebt die Hand und möchte sich verprügeln.
Vorm Spiegel denkt man: "Das ist dein Gesicht?"
Ach, solche Falten kann kein Schneider bügeln.

Vielleicht hat man sich das Gemüt verrenkt?
Die Sterne ähneln plötzlich Sommersprossen.
Man ist nicht krank. Man fühlt sich nur gekränkt.
Und hält, was es auch sei, für ausgeschlossen.

Man möchte fort und findet kein Versteck.
Es wäre denn, man ließe sich begraben.
Wohin man blickt, entsteht ein dunkler Fleck.
Man möchte tot sein. Oder Gründe haben.

Man weiß, die Trauer ist sehr bald behoben.
Sie schwand noch jedes Mal, so oft sie kam.
Mal ist man unten, und mal ist man oben.
Die Seelen werden immer wieder zahm.

Der Eine nickt und sagt: "So ist das Leben."
Der andre schüttelt seinen Kopf und weint.
Wer traurig ist, sei´s ohne Widerstreben!
Soll das ein Trost sein? So war´s nicht gemeint.


 Edvard Munch, Selbstbildnis. Zwischen Uhr und Bett. 1940-1943

Traurigkeit, das allgemeine, lebhafte, wenn auch nicht durch eine bestimmte, im Augenblick eben vorhandene Ursache erregte Schmerzgefühl, besonders wo es dauernde Stimmung wird und die Gemüthslage des Menschen anhaltend beherrscht. Ihre Veranlassungen können so mannigfaltig sein, als die schmerzlicher Empfindungen überhaupt. Sie spricht sich auch im Äußern durch erschlaffte Züge, gesenkte, matte, 
oft thränenvolle Augen, herabgezogene Mundwinkel, Blässe des Gesichts, kraftlose, langsame Sprache, Seufzen, gebeugte Haltung des Körpers aus, wirkt nachtheilig auf 
die Gesundheit u. gibt oft Veranlassung zu chronischen Übeln, Stockungen, 
Schleimflüssen, skirrhösen Verhärtungen etc.

Pierer's Universal-Lexikon

Edvard Munch. Selbstportrait mit Zigarette.
1895

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