Sonntag, 13. September 2020

Kulturwochenende in Berlin am Ende des Sommers

1
Joachim Meyerhoff liest aus seinem Buch "Hamster im hinteren Stromgebiet".

"ZEIT IST HIRN"

Wir sind sehr viele an diesem Spätsommernachmittag im Freilichtkino Friedrichshain bei einer Veranstaltung von Radio 1. Ganz ungewohnt, solche Menschenmassen. Maske tragen bis zum nummerierten Platz, der Abstand wird eingehalten, die Stimmung ist lässig. Es ist angenehm warm, aber während der anderthalbstündigen Lesung fallen Blätter auf mich. Noch ist Sommer. 

Meyerhoff hat mit knapp über 50 einen Schlaganfall erlitten. Schlagartig hat ihn etwas angefallen. Die Bühne ist sehr weit weg, ein winziger Mann sitzt an einem Tisch und liest seinen Text in ein Mikrophon. Er hält mein Interesse, ich kichere, lache sogar. Das könnte auch mir passieren, jetzt oder morgen. Schwingt da Angst in meinem Lachen? Er ist ein ok Schreiber, aber ein großartig genauer Erinnerer. 

Was seine Kinder, die er ganz offensichtlich sehr liebt, über seine Beschreibungen denken, würde mich interessieren. Jedenfalls bin ich irgendwie froh, dass mein Vater seine Eindrücke meiner Teenagerzeit nicht veröffentlicht hat.

2
RomCom nennen es die Amis, Romantische Komödie, Kiss Me Kosher von Shirel Peleg. Die Produktion entstand an 27 Drehtagen in vier Sprachen – hauptsächlich in Englisch sowie teilweise in Deutsch, Hebräisch und Arabisch - in und um Tel Aviv und Jerusalem.

Die Synchronisation ist die böseste Krux des Films. Eigentlich reden die Figuren in Englisch, Hebräisch und Deutsch und Arabisch miteinander, eigentlich haben sie heftige Akzente, verstehen sich nicht oder nur halb, die deutsche Synchronisation läßt nichts davon erahnen. Die Großmutter zum Beispiel, Deutsch geboren, mit vier Jahren von ihren Eltern versteckt, die im KZ umkamen, und von einer Deutschen gerettet, nach dem Krieg vermutlich nach Israel geflohen und sie raucht Kette - ihre deutsche Stimme spricht ohne Spuren von Jiddisch, ohne Gefühle für die Sprache mit der sie aufwuchs und die sie hassen lernte, ohne die Folgen, die Kettenrauchen auf die Stimmbänder hat. Als wenn man einen Film über den Turmbau zu Babylon in einer allen verständlichen Sprache drehen würde. Faul und unachtsam. Schade.

Dass der Film trotzdem halbwegs funktioniert ist ein Wunder. Moran Rosenblatt & Luise Wolfram spielen das zentrale Liebespaar. Luise Wolfram sieht aus wie die Wiederkunft aller herrlichen Renaissanceportraits, ihre Schönheit unirdisch, ihr Spiel ganz geerdet. Moran Rosenblatt verschenkt ihren Charme freigiebig. 

 

 

Schön, dass das Nicht-Problem der Geschichte die lesbische Liebe ist. Es gibt genug andere Konflikte, den Holocaust, den arabisch-israelischen Dauerkrieg, Palästina, unterschiedliche Erwartungen an eine Beziehung und ehemalige Liebhaberinnen. Ein Film, der der deutschen Falle fast entgeht, er wird fast nie bedeutungsschwanger, immer kurz vorher wird geschnitten oder ein Witz gemacht.

3
Galerie-Wochende in Berlins Mitte - Andreas Greiner - Olafur Eliasson - Andreas Gursky - Robert Capa 1945.

Bei Capa habe ich geheult. 1945, das erste Rosh-ha-Shana nach der Verwüstung in einer kleinen Berliner Synagoge, die noch steht, die Betenden sind amerikanische Soldaten und Überlebende. So viel Trauer in den Augen und Körpern. 

Greiner sollte man sich unbedingt ansehen. Hatte den Namen noch nicht gehört. Er photographiert Bäume, den Wald. Den sterbenden Wald. Ohne Sentimentalität. Seine Bilder sind so bearbeitet und verpixelt, dass sie wie 3D Ölgemälde aussehen. Eine künstliche Intelligenz hat aus 10 000 seiner Harz-Bilder ein Video erschaffen, der Soundtrack ist Mendelsohn-Bartoldys Chorwerk "Abschied vom Walde" in extremer Verlangsamung. Kiefern. Grüne Kiefern. Tote Kiefern. 

Eliiasson - ich habe schon bessere Arbeiten von ihm gesehen, aber immer wieder beeindruckt mich die Verbindung von Technik, Licht und körperlicher Erfahrung, die er ermöglicht.

Gursky - ein Bauhausgebäude in weiß und rot, vier Kanzler von hinten und eine Madonna mit Kind.

1 Kommentar:

  1. Ergänzung zu Gursky:
    Auch eine weniger bekannte Variante von "Rhein" ist in der Oranienburger Straße zu erleben. Das Gras ist hier graugelb bearbeitet, wie im ausgehenden Winter.
    ("Rhein II" mit grünem Gras - das teuerste Foto der Welt - ist leider nur im Internet zu betrachten.)

    AntwortenLöschen