Montag, 28. September 2020

DIE GROSSEN TRAURIGKEITEN UNSERER GESCHICHTE

Durch Zufall bin ich wieder einmal auf "Kuhle Wampe" gestossen, diesen alten Film, dieses uralte Doku-Drama, das alle Ossis mit Filmaffinität irgendwann mal gesehen haben. Ernst Busch spielt und singt und auch Herta Thiele. Berliner Arbeiter demonstrieren, reden, leiden, lieben. Wie "Menschen am Sonntag" aber mit Klassenkampf. 

Ich stoße auf den Namen eines der Autoren: Ernst Ottwald, geboren am 13. November 1901 in Zippnow, heute Sypniewo, in Westpreussen; gestorben am 24. August 1943 in einem sowjetischen Lager bei Archangelsk. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Mitglied beim Freikorps, dann folgte der harte Umschwung zur KPD. 

1932 haben Slatan Dudow, Bertolt Brecht und er dieses Drehbuch geschrieben und den Film realisiert. 1932!

Bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 stand sein Werk auf der Schwarzen Liste; sein Name war zusätzlich mit einem Kreuz versehen, um ihn als einen der „eigentlichen Schädlinge oder zu kennzeichnen, „die auch für den Buchhandel auszumerzen wären“. (Wiki)

Es folgte die Flucht über Dänemark und die Tschechoslowakei nach Russland. Gerettet. 1936 gerät er aber dort im Zuge der infernalischen stalinistischen Säuberungen unter Spionageverdacht, wird 1936 verhaftet und zur Zwangsarbeit in ein Lager bei Archangelsk deportiert. Dem Vorschub geleistet hatte Georg Lukács mit seinem Verdikt in einer Kritik von Ottwalts Romanen: „Es bedarf nicht langer Erörterungen, um klar zu sehen, dass solche ‚Helden‘, ohne mit ihren Verfassern identisch zu sein, doch deren Klassenlage treu widerspiegeln.“ Seine Frau Waltraut Nicolas, die ebenfalls verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt wurde, erfuhr erst viele Jahre später von seinem Tod.(Wiki)

Solche Hoffnung, solcher Verrat. Wie überlebt man das? Wie lebt man danach weiter? Hatten wir jemals solche Hoffnung? Wurden wir jemals so enttäuscht? Aller Täuschungen beraubt? Überleben, weiter leben. Trotzdem. Wir sind schon eine lahme, verwöhnte Truppe. Oder? Ich möchte das wirklich verstehen, aber kann ich es?


Waltraud Nicolas wurde 1936 gemeinsam mit ihrem Ehemann verhaftet, kam für drei Jahre in Untersuchungshaft und dann wurde sie zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie kehrte "schweigend" nach Deutschland zurück, überlebte und verstarb 1963.




II

Wir sahn zuviel. Wir sind zu schwer beladen

Mit Lastern, Lügen, Wahn und Grausamkeit,

Mit allen Schrecken dieser wilden Zeit,

Was sollen wir an friedlichen Gestaden?


Wir wissen schon zuviel von Tod und Grauen,

Nun fürchten wir uns vor den hellen Straßen.

Wir lebten unter Schatten; wir vergaßen,

Was Liebe heißt und Lächeln und Vertrauen.


Rührt uns nicht an, laßt uns vorübergehen!

Vergeßt, daß wir vor langen, langen Jahren

Lebendige und eure Freunde waren!


Wir haben zuviel Last mit uns gebracht;

Ihr würdet unsre Sprache nicht verstehen

Denn euch gehört der Tag und uns die Nacht.


III

Wir zögern noch und bleiben häufig stehen,

Wir traun noch nicht dem Wunder, das geschah;

Uns scheint, es müßte gleich wie Rauch vergehen

Und altes Grauen wäre wieder da...


Wir haben es verlernt, ins Licht zu sehen,

Wir kannten nur das Nein und nie ein Ja;

Was unsrer Sehnsuch nur im Traum geschehen,

Ist uns auf einmal so erschreckend nah,


Daß unsre Hand sich scheut, es zu erfassen,

Als könnte rascher Zugriff es zerstören,

Und wandeln in Vernichten und Verneinen;


Das Dunkel hat uns noch nicht losgelassen,

Und manchmal, wenn wir Kinder lachen hören,

Dann möchten wir beiseite gehn und weinen.

Waltraut Nicolas: Schattenland. Sonette. Hoffmann und Campe Verlag Hamburg 1948, S. 22/23.

(Textauszug S. Jenkner)

2 Kommentare:

  1. Ich lese gerade Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, ein Buch, das sie in den 1950er Jahren geschrieben hat und das 1955 auf deutsch erschienen ist. Ich bin erschüttert, zu lesen, zu welchen Grausamkeiten und Gewalttaten Menschen in der Lage sind, die allen Sinn und alle Hoffnung für ihr eigenes Leben verloren haben und nur noch einer Masse, einer Bewegung angehören. Über das Bündnis zwischen intellektueller Elite und Mob. Über die Staats-, Kultur- und Zivilisationsfeindlichkeit von totalitären ‚Bewegungen‘.

    Was diesen Bewegungscharakter betrifft, macht Hannah Arendt keinen Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, zwischen Hitler und Stalin. Beides waren Bewegungen, beide waren Führer von Bewegungen, die den Gegner, den sie vollständig entmenschlichten, ebenso vollständig vernichteten.

    Dabei ist Arendts Begriff der ‚Bewegung‘ genau durch dieses totalitäre Prinzip gekennzeichnet. Sie spricht von den Vorläufern des Nationalsozialismus und des Stalinismus, von den Panbewegungen des 19. Jahrhunderts, und sie zeigt, wie schon das Bürgertum von diesen von Kriminellen und Verbrechern durchsetzten Todfeinden einer zivilisierten Gesellschaften fasziniert gewesen ist, und sie die ‚gute‘ Gesellschaft des fin de siécle in ihnen ihresgleichen erkannt hat. Eben Mob und Elite.

    Es ist haarsträubend, das alles zu lesen, und man droht, den Glauben an die Gesellschaft und an den Menschen zu verlieren. Vor allem, wenn man an die eigene Biographie denkt. Für unsereinen aus den 1980er, 1990er und 2020er Jahren hat der Begriff der Bewegung einen guten Klang: die Umweltbewegung, die Anti-Atomkraft-Bewegung, die Friedensbewegung, die Friday-for Future-Bewegung, die me-too-Bewegung. Aber auch: die Pegida, die Reichsbürger, der Brexit; ebenfalls alles ‚Bewegungen‘.

    Es tut mir weh, den totalitären Charakter von Bewegungen schlechthin so sehr zu verallgemeinert zu sehen wie bei Arendt, die noch nichts von den späteren Bewegungen hatte wissen können; davon daß unsere Hoffnungen, für die Zukunft der Erde, für die kommenden Generationen auf Bewegungen wie Friday-for-Future beruht.
    Und vor allem: alle diese guten Kommunisten, die den stalinistischen Säuberungen nicht nur zum Opfer gefallen waren, sondern sich sogar willig zur Schlachtbank hatten führen lassen und sich zu all den angeblichen Schandtaten, deren Stalin sie bezichtigte, bekannten.

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  2. Noch was zu Waltraud Nicolas. Sie fragen:
    „Solche Hoffnung, solcher Verrat. Wie überlebt man das? Wie lebt man danach weiter?“

    Hannah Arendt bezeichnet es als ein Kennzeichen totalitärer Bewegungen, daß sie „Anspruch auf den Menschen als Ganzes“, „in seiner personalen Totalität“, erheben. (Vgl. „Elemente und Ursprünge ...“ (1979, S.540) Das ist die eine Seite. Die andere Seite derselben Medaille ist die Forderung nach „radikale(r) Zerstörung alles Bestehenden“. (Vgl. S.541) Das sei der „Typus des russischen Revolutionärs“, schreibt Arendt. Das ist die Wesensgleichheit zwischen Hitler und Stalin, um die im Historikerstreit in den 1980ern so sehr gestritten wurde. Habermas bestand damals auf der Singularität des Nationalsozialismus.

    Diese beiden Aspekte, Anspruch auf den Menschen in seiner personalen Totalität und die Zerstörung alles Bestehenden, gehören zusammen. Und daran ist Waltraud Nicolas, und viele, viele ihrer Zeitgenossinen und Zeitgenossen, gescheitert.

    Als die Wellen der me-too-Bewegung in Ihren Blog schwappten, forderte eine Kommentatorin die Herstellung einer totalen, auf den Prinzipien des Feminismus beruhenden „Reinheit“ der Gesellschaft und die Vernichtung der gesamten bisherigen Kultur; also die radikale Zerstörung alles Bestehenden. Ich betrachte mich selbst als Feministen. Aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl, es geht um meine Eliminierung.

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