Mittwoch, 12. Juli 2023

Wie würde ich mich entscheiden?

ARRIVAL, ein Film von Denis Villeneuve, den ich gerade zum dritten Mal gesehen habe, stellt eine mich tief erschütternde einfache Frage: Wenn ich wüßte, wie mein Leben verlaufen wird, wen ich wann und wie verlieren werde, um meine Mißerfolge und Niederlagen schon im Voraus wüßte, um jeden kommenden Liebeskummer wüßte, jeden Schmerz, jede Krankheit und schließlich auch wüßte, wann ich und wie sterben werde - was würde ich tun, wie mich entscheiden? Würde ich das Leid mit dem Glück annehmen? Würde ich das Wagnis der Liebe eingehen, wissend, das sie endlich ist?

In GOTT LEBT IN BRÜSSEL, auch einem Film, dieser von Jaco Van Dormael, veröffentlicht Gottes zornige Tochter, weltweit die Sterbedaten der Menschen. Was würde dieses Wissen an meinem, an unserem Leben ändern?

Vor vielen Jahren habe ich eine kleine Geschichte gelesen, die mir nicht aus dem Kopf geht, obwohl ich nicht einmal mehr weiß, wer sie geschrieben hat: Die Menschheit bemerkt, dass es wirklich UFOs gibt und das sehr viele und sehr unterschiedliche, die Erde umkreisen. Irgendwann gelingt es uns, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und wir stellen eine Frage, die uns umtreibt: Warum gerade wir, warum beobachtet ihr uns, obwohl wir euch technologisch nicht einmal ansatzweise ebenbürtig sind? Die Antwort ist schwierig zu übersetzen, aber letztendlich lautet sie: Von allen Lebewesen im Universum seid ihr, die einzigen die sterben. Und. Und ihr seid die einzigen, die Kunst haben.

Wir nennen es Schicksal, weil wir nicht wissen, was uns passieren wird. Wüßten wir es, wie würden wir es dann nennen? 

Es sagt sich leicht, dass es ohne Tiefen, keine Höhen gäbe, ohne Leid kein Glück, aber würde ich, wissend, trotzdem den notwendigen Preis bezahlen? Oder keine Entscheidungen mehr treffen, oder aus zu viel Vorauswissen heraus erstarren? Würde ich lieben, ohne das Versprechen der Erfüllung? Würde ich Theater machen, ohne die Hoffnung auf Karriere, auf Erfolg?

Wenn ich nie mehr den augenblicklichen, beglückenden Moment erleben könnte, ohne um sein Endergebnis zu wissen, was würde das mit mir machen?

Dienstag, 4. Juli 2023

Die afd und ihre Wähler

Eine Meinungsumfrage des Institutes INSA im Auftrag von „Bild“ erklärt die AfD mit 28 Prozent zur momentan stärksten Partei in Brandenburg. Die SPD käme mit 21 Prozent auf Platz zwei.

Soll ich jetzt froh sein, dass meine Mutter schon gestorben ist, dass sie das nicht mehr erleben muss?

Soll ich, wie manche Freunde es tun, die Wiederkunft der Dreissiger Jahre heraufbeschwören?

Wahlergebnis der Reichtagswahlen 1928 NSDAP 2,6% KPD 10,6 SPD 29,8

Wahlergebnis bei den Reichstagswahlen 1930 NSDAP 18,3% KPD 13,1 SPD 21,5

Wahlergebnis bei den Reichstagswahlen 1932 NSDAP 33,1% KPD 16,9 SPD 20,4

Wahlergebnis bei den Reichstagswahlen 1933 SPD 18,3 KPD 12,3 NSDAP 43,9

Soll ich heulen? Kotzen? Angst haben?

Was mich irre macht, ist die Fähigkeit  avon vielen ganz gewöhnlichen Menschen aus Eigeninteresse, Faulheit, Dummheit oder Bösartigkeit eine fiktive Vergangenheit herzuphantasieren, deren Wiedererstehen, sie endlich zu Gewinnern der Geschichte machen wird.

Egal ob der Weg dahin der Brexit, die Wiederherstellung Großungarns oder die Renazifizierung Deutschlands ist.Und sie alle erklären sich dabei selbstgerecht bibbernd zu Opfern - Opfern der Umstände, der jeweiligen Regierungen, obskurer Eliten, der gierigen Ausländer, der gierigeren Juden. Sie selbst haben nie etwas getan, nur immer erlitten. Hitler war schuld, die Kommunisten waren schuld, der okkupierende Westen war schuld, die Grünen sind schuld. Irgendjemand ist immer schuld.

Vor Jahren saß ich in einem Cafe an einem Tisch neben einem Ehepaar aus dem damaligen West-Deutschland, sie schwärmten von der Wärme und dem Zusammenhalt, die in den Familien während des Dritten Reiches geherrscht hätten. Mein Mund konnte nicht still bleiben und fragte, ob sie von den Milionen Opfern dieser so kuscheligen Zeit wüßten. Die Frau schaute mich mit großen Augen an und sagte: "Aber die wären doch sowieso irgendwann gestorben."

Kultiviere gänzliche Empathielosigkeit, entmensche den erwählten Schuldigen, vergiss Deine eigene Feigheit, informiere dich nicht, glaube nur, was in dein Wunschbild passt, ignoriere alles Leid anderer. Dann kannst du mit einem Gefühl von selbstgerechter Wut Nazis an die Macht wählen und alle Not um dich herum ignorieren, die der "letzten Generation", die, derer, die vor Krieg und Hunger fliehen, die, deren Not deiner Not nicht gleicht.

Leider, leider ist Netanjahus Regierung in Israel auf einem erschreckend ähnlichen Irrweg.

Ich bin traurig und hilflos. Und wenn ich nach den USA schaue, wird mir gänzlich schlecht. Wir zerfleischen uns derweil über Sprachdetails und sexuelle Definitionen. Ich möchte, dass jeder genauso leben kann, wie er oder sie oder es für komfortabel hält und wünschte, wir alle LGBTQ+ und alle individuellen Varianten würden uns vereinen , um Faschisten daran zu hindern, an die Macht zu kommen.

Montag, 29. Mai 2023

Margit Bendokat ist jetzt Ehrenmitglied des Deutschen Theaters

Margit. 

So viele Momente, so viele gute Erinnerungen. 

Als blutjunge Anfängerin habe ich das Glück gehabt, eine Garderobe mit ihr zu teilen, mit ihr zu reden, von ihr zu lernen.

Sommernachtstraum von Alexander Lang, Margit als Helena im blauen Einteiler, murmelt ihren Text, und zwischendurch erklärt sie mir im wunderschönsten Berlinerisch: "Mein Untertext? Alles Scheiße!" Auf der Bühne sprach sie perfektes Hochdeutsch, aber die Melodie ...

Danton, wieder Alex, Margit spielt Marion, "alle Männer wurden zu einem Mann." Eine zarte Hure unschuldigster Art, ihre Worte eine sehnsuchtsvolle Suche nach Verstehen, sich selbst und auch die vielen Männer. "Deine Lippen sind kalt geworden." So unendlich traurig. Dieser Mann macht eine Verständigung unmöglich.

Stella, wieder Alex, "Er ist wieder da!". Zur Premiere waren wir alle im Schockzustand, weil Alex in den hermetisch abgeriegelten Proben, vermieden hatte, uns mitzuteilen, dass wir das Satyrstück zur vorher laufenden Medea waren. Jeder Lacher eine Verwirrung. Margits Stella, voll tragischer Würde in ihrer unerwarteten Komik.

Dreigroschenoper, derselbe Regisseur, die Inszenierung ein nicht wirklich gelungener Versuch und keiner von uns konnte wirklich gut singen. Margit als Mrs. Peachum hinter der Bühne immer mit Macholdts Inhalator, einem gläsernen Foltergerät im Mund. Das Geräusch der blubbernden Inhalationsflüssigkeit habe ich noch im Ohr. Meine Stimmbänder spielten auch verrückt und so waren wir vereint in unserer Stimmpanik. Zur Premiere sang sie ein Lied genau einen Halbton zu tief, drei Strophen lang. Respekt.

Lohndrücker, diesmal ist Heiner Müller der Regisseur, Margit im Rang singt das Lied vom Konsum. Klar, kalt, unversöhnlich. Große Clowns sind unerbittlich.

Die Perser von Jürgen Gosch, Margit spricht einen ellenlangen Monolog gegen den Gipshorizont, jedes Wort haarscharf, unbeurteilt, aber ohne jedwede Sentimentalität. Klar. 

Klarheit ist vielleicht das richtige Wort ihren Umgang mit Sprache zu beschreiben. Ja, ihre Stimme war gelegentlich schrill, aber eben auch direkt, wahrhaftig, ohne bequeme Filter.

Margit geriet ins Theater ohne Vorwarnung und sie hat ihr Wissen über unsere Welt in dieses Theater hineingetragen.

Ich danke Dir.

Samstag, 13. Mai 2023

Gestorbene

Wenn ich ein Grammatikproblem nicht lösen konnte oder ein Zitat aus einem deutschen Gedicht suchte oder ein Detail deutscher Geschichte erfragen wollte, habe ich meinen Vater angerufen. Und, darauf bin ich stolz, er mich auch, vice versa. Er war ein strenger Kritiker, aber ein liebevoller.

Wenn ich ein Detail der englischen Geschichte überprüfen wollte, etwas über einen obskuren englischen Dichter oder den Namen eines Schauspielers, wie klein die Rolle auch war, eines Hollywoodfilms der 30er oder 40er Jahre wissen wollte, oder über die Schwierigkeiten meines Lebens überhaupt abjammern wollte, war mein Gesprächspartner meine Mutter. Sie war ein Sonderfall, weil ihre Liebe ohne Bedingung war. Was immer ich auch angestellt hätte, sie war immer auf meiner Seite.

Meine Oma, Helli, war die coolste Person, die ich je gekannt habe. Ich liebte sie und sie mich.

Mein Opa Walter war schwerhörig und sehr liebenswert.

Meine Oma Margarete war eine garstige Frau.

Tante Gerda kannte alle Details der Trotzköpfchen- und Nesthäkchenromane und die besten, köstlichsten Rezepte für jederlei Resteverwertung. Und sie war außergewöhnlich und bezaubernd.

Tante Schusti konnte besser backen als irgendwer und überließ ihre Rezepte immer nur mit Auslassungen. 

Mein Onkel Stefan hat sein halbes Leben mit der Dokumentation der New Yorker Theaterszene der 70er Jahre verbracht und sein wahres Talent vergeudet.

Meine Tante Hanne liebte Therese Ghiese, war gegen den Krieg und vermied jedwede Genüsse.

Meine Freundin Annette liebte das Leben und das Theater, ihren Sohn, Alex und die Marx Brothers und konnte sogar noch mehr und schneller sprechen als ich.

Horst, mein lieber Bühnenbildner über fast 30 Jahre, war neugierig, höflich, wunderbar, Sachse und nie wirklich glücklich.

Mein Freund Volkmar war aufmerksam und genau und ließ mir nichts durchgehen.

Meine Kollegen Tommy, Tobias, Robert, Heimar, Dieter, Dietrich, Kurt, Fred, Katja, Gerhard, Johanna und Inge haben mich Vieles und Wichtiges gelehrt.

Sie alle sind tot.

GROWING OLD IS NOT FOR SISSIES. Bette Davis

ALT WERDEN, IST NICHTS FÜR SCHWÄCHLINGE. Bette Davis


Freitag, 12. Mai 2023

Selbständig oder vereinfachend - freischaffend

Selbst-ständig, unverständlicherweise selbständig geschrieben, Frei-schaffend, selbst eine bestimmte Tätigkeit dauernd ausüben, ständig - was für eine schöne, doch halbwahre Beschreibungen einer lebenslang unsicheren Beschäftigungslage. 

Das Internet erklärt: Das spätmittelhochdeutsche Wort „selbstēnde“ hieß „für sich bestehend“. Ab 1996 hieß es der neuen Rechtschreibung nach dann selbstständig – neben der Schreibweise selbständig. Bei Google liefert selbstständig 71,9 Mio. Ergebnisse, während selbständig nur rund 34,5 Mio. Treffer ergibt (Stand Dezember 2022). https://languagetool.org/insights/de/beitrag/selbststandig-selbstandig/

Selbstständig oder selbständig, oh, es gibt Pluspunkte: Einige der Unannehmlichkeiten des deutschen Stadttheatersystems bleiben mir erspart, ich kann mich aus den notwendigen und komplizierten, politischen und finanziellen Schwierigkeiten heraushalten. Außer, wenn sie die Gage beeinträchtigen. Doch ich kann "Nein" sagen, wenn es mir finanziell möglich ist. Und wenn ich "Ja" sage, bin ich nur zu Besuch, im besten Fall eine gern gesehene Tante, die gelegentlich vorbeischaut und die "Mühen der Ebenen" nicht mitbearbeiten muss.

Aber. Aber, nie ist irgendetwas sicher. Ist das Telefon kaputt? Oder bin es ich. Damit und davon lebe ich, leben die Selb(st)ständigen, Jahr über Jahr. Mal besser, mal schlechter. Das Alter spielt eine Rolle, die Nähe zu gerade virulenten Trends wohl auch. Aber da weiß ich zu wenig, spüre es nur. Und das Feuilleton, ein besser bezahltes Fass ohne Boden, manchesmal übersättigt und naseweiß. Aber wenigstens gibt es überhaupt noch gelegentlich Theaterkritiker, in manchen kleineren Städten schreibt Theaterkritiken, der, der auch die Geflügelzüchter und Sportvereine abdeckt. Ahnungslos, aber bemüht.

Unter Feuilleton versteht man den literarisch-unterhaltenden Teil einer Zeitung. In diesem Teil stehen Rezensionen, Kritiken, Buchbesprechungen usw. Ein literarischer Beitrag im Feuilletonteil der Zeitung wird ebenfalls Feuilleton genannt, sagt Wiki.
 
Letzten Endes, liebe ich es, freischaffend zu sein. Ich treffe seit Jahren drei, vier Mal pro Jahr auf eine Gruppe von Spielern, manchmal kenne ich einige schon, aber es ist eine gute Weile her, manchmal sind mir alle neu und unbekannt. Konzeptionsproben sind wie erste Schultage, alles ist möglich und darum spannend. Meistens treffe ich auf gute Leute, selbst im heftigst überarbeiteten Zustand noch neugierig, willig und interessiert. Ich liebe Proben. Abenteuerland. Proben sind meine Droge, wie gern ich auch faule Freizeit liebe, irgendwann muss ich wieder probieren, sonst werde ich unfroh und unleidlich.  

 
Aber, ich bin in vielem auf mich allein gestellt. Der Verwaltungsdirektor ist im verständlichen, aber künstlerisch nur mäßig interessierten Sparwahn, ich muss damit umgehen. Die Schauspieler haben seit Monaten viele Vorstellungen und noch mehr Proben, Kinder vermissen ihre Eltern, Schlaf ist rar. Die Vorteile einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit einem Ensemble sind ein eigenes Thema. Auch kenne ich die Städte, in denen ich arbeite meist nur oberflächlich, ganz anders als in Rostock, wo ich fünf Jahre gelebt, geliebt und gearbeitet habe.

Wir reden nicht gern über unsere Ängste und schlechte Zeiten, weil sie uns schwach und nicht genügend erfolgreich erscheinen lassen könnten, denn wir sind dem Markt ganz direkt ausgeliefert und müssen uns gut verkaufen. 

Der Begriff "Markt" bezeichnet allgemeinsprachlich einen Ort an dem Waren regelmäßig meist an einem zentralen Ort gehandelt werden.

Unser "zentraler Ort" ist das Stadttheater, dass von interner Stagnation, Corona und Energiekrise heftig geschüttelt wird und da werden wir halt mitgeschüttelt. Bis jetzt geht es mir gut, wer weiß, was die Zukunft bringt. Aber solang man mich läßt, ...

Sonntag, 7. Mai 2023

Sardanapal von und mit Fabian Hinrichs in der Volksbühne - Dennoch, auch wenn ich nicht geliebt werden kann, so laßt mich doch lieben!

Zuerst: Ich gestehe, dass ich nach 90 Minuten gegangen bin, aber das war wegen eines plötzlichen Hustenreizes und ich mag nicht stören. 

George Gordon Noel Byron - meine erste Begegnung mit ihm hatte ich in den Romanen von Georgette Heyer, Romanzen, die in der Zeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Aufstieg und Untergang Napoleons spielten und die ich verschlang, während ich gleichzeitig mit ihnen Englisch lernte. Die Hauptfiguren waren englische Aristrokraten, der Stil witzig und genau, die historischen Details reich. Byron tauchte als Nebenfigur auf, als Ausrichtung des Kompasses für Dandys. Wie bindet er seine Krawatte, wie poliert sein Diener seine Stiefel, welche skandalöse Affaire hat er jetzt? Er war eitel, hungerte sich schön, liebte seine Schwester und Lady Lamb (Sie nannte ihn: Mad, bad and dangerous to know.) und viele andere, er liebte Geld, dass er nie zur Genüge hatte, er liebte einen schönen Griechen und den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken, er starb an Unterkühlung. 

Jahre später las ich seine Gedichte und liebte sie. 

FINSTERNIS

Ich hatte einen Traum, der keiner war.
Die Sonne war erloschen, und die Sterne,
verdunkelt, schweiften weglos durch den Raum,
kein Mond, die Erde schwang im Äther, blind
und eisig sich verfinsternd; kam der Morgen
und ging und kam––er brachte keinen Tag,
die Menschen fühlten sich im Stich gelassen,
vergaßen ihre Leidenschaften; Herzen
gefroren, frönten dem Gebet um Licht:
am Feuer lebten sie, und alles brannte––
die Throne, die Paläste wie die Hütten
und die Behausungen der kleinen Leute
waren Scheiterhaufen, Städte warn zerstört,
ihr Heim in Flammen, sahn die Menschen zu
und schauten sich noch einmal ins Gesicht;
wie glücklich, wer im Auge der Vulkane
zuhause war, im Fackellicht der Berge:
angstvolle Hoffnung nur enthielt die Welt;
die Wälder brannten, schwanden Stund um Stund,
zerfielen, Stümpfe knisterten, erloschen,
ein letztes Knirschen, und––alles war schwarz.
Das Licht verzweifelte, die Menschen sahn
unirdisch aus, als schlügen Blitze ein;
die einen fielen nieder und verhüllten
die Augen um zu weinen; andre stützten
das Kinn in ihre Hände, heiter fast;
noch andre eilten eifrig hin und her,
nährten die Scheiterhaufen, schauten wie
vom Wahn gehetzt empor zum trüben Himmel,
dem Leichentuch einer vergangenen Welt;
dann wieder fluchten sie und warfen sich
zu Boden, zähneknirschend; wilde Vögel
erschraken, kreischten, flatterten zu Boden,
ließen die Flügel hängen; wilde Tiere
warn zahm und zitterten; und Vipern krochen
sich windend durch die Menge, zischten, doch
sie bissen nicht––und wurden totgeschlagen.
Der Krieg, für einen Nu nur nicht mehr da,
er fraß sich wieder satt: mit Blut erkauft
ein Mahl, ein jeder saß verstockt für sich,
stopfte sich voll im Finstern: nirgends Liebe;
die ganze Welt nur ein Gedanke––Tod,
unmittelbar, unrühmlich; Hunger stach,
lebte von Innereien–– Menschen starben,
ihr Fleisch, ihre Gebeine ohne Grab;
die Mageren von Mageren verschlungen,
selbst Hunde griffen ihre Herren an,
nur der nicht, der zu einem Leichnam hielt,
Vögel verbellte, Tiere, Menschen, bis
der Hunger sie verzehrte oder Tote
die schlaffen Rachen lockten; für sich selbst
suchte er nichts zu fressen, jaulte nur
vor Mitleid, leckte eine Hand, die ihm
das Streicheln schuldig blieb––er starb.
Die Masse war verhungert bis auf zwei
aus einer Riesenstadt, die überlebten;
sie waren Feinde und sie trafen sich,
wo ein Altar in Schutt und Asche lag,
allerlei Heiliges für unheiligen Zweck
gehäuft gewesen war, und kratzten nun
mit ihren zitternd skelettierten Händen
ein wenig Glut zusammen, bliesen ihr
ein bißchen Leben ein––sie flammte auf,
war ein Gespött; dann, als es heller wurde,
erhoben sie die Augen und gewahrten
einander––schauten, schrien auf und starben
an wechselseitiger Abscheulichkeit,
unwissend, wer es war, auf dessen Stirn
Unhold geschrieben stand. Nichtig die Welt,
die volkreiche, die kraftvolle: ein Klumpen,
kein Kraut, kein Baum, kein Mensch,  kein Leben, bloß
ein Klumpen Tod––Chaos aus hartem Lehm.
Still alles: Flüsse, Seen, Ozean
in tiefem Schweigen, reglos, unbesetzt
die Schiffe, sie verrotteten auf See,
die Masten fielen, splitterten: ihr Fallen
ein Schlafen überm Abgrund, keine Wogen––
die Wellen tot, Gezeiten ausgestorben,
des Mondes Herrschaft ausgehaucht; die Winde
verwittert, stand die Luft doch, und die Wolken
warn weg, warn nie gewesen, Finsternis
bedurfte ihrer nicht, sie war––das All.
Übertragen von Günter Plessow

Sardanapal, sein Gesang in Versen oder ein Theaterstück. Who knows? Ein König hasst alles, was er tun müsste, um König zu sein, er will nicht herrschen, nicht kämpfen, nicht regieren. Er will essen, trinken, singen, lieben. Sein Reich wird angegriffen, spät, zu spät willigt er ein, eine Gegenoffensive zu führen, die mißlingt, er verbrennt sich und seine angehäuften Kunstwerke, seine Geliebte springt ihm nach in die Flammen. So soll das assyrische Reich untergegangen sein. Historisch Quatsch, aber poetisch richtig.

Wie verzweifelt Hinrichs nach dem Glück sucht, dem Gefühl, dass in ihm entsteht, wenn er Musik hört, poetische Worte liest, wenn er tanzt, was er nicht kann, sein Körper verweigert sich, ein rührender Anblick. Wie verzweifelt er versucht, uns dieses Gefühl zu vermitteln. Lilith Stangenberg, Sir Henry, junge Tänzer und Musiker geben sich größte Mühe. Bis zur Minute 90 habe ich die Mühe verstanden und mitgetragen, aber nicht geliebt. Ich fühlte mich in meine Schulzeit versetzt. Verstehen und fühlen, anstatt fühlen und darum verstehen. Hinrichs wirkt sehr einsam an diesem Abend. Vielleicht weil er seinen Hauptdarsteller verloren hat. Vielleicht weil er wirklich verzweifelt ist.

Darkness

By Lord Byron
I had a dream, which was not all a dream.
The bright sun was extinguish'd, and the stars
Did wander darkling in the eternal space,
Rayless, and pathless, and the icy earth
Swung blind and blackening in the moonless air;
Morn came and went—and came, and brought no day,
And men forgot their passions in the dread
Of this their desolation; and all hearts
Were chill'd into a selfish prayer for light:
And they did live by watchfires—and the thrones,
The palaces of crowned kings—the huts,
The habitations of all things which dwell,
Were burnt for beacons; cities were consum'd,
And men were gather'd round their blazing homes
To look once more into each other's face;
Happy were those who dwelt within the eye
Of the volcanos, and their mountain-torch:
A fearful hope was all the world contain'd;
Forests were set on fire—but hour by hour
They fell and faded—and the crackling trunks
Extinguish'd with a crash—and all was black.
The brows of men by the despairing light
Wore an unearthly aspect, as by fits
The flashes fell upon them; some lay down
And hid their eyes and wept; and some did rest
Their chins upon their clenched hands, and smil'd;
And others hurried to and fro, and fed
Their funeral piles with fuel, and look'd up
With mad disquietude on the dull sky,
The pall of a past world; and then again
With curses cast them down upon the dust,
And gnash'd their teeth and howl'd: the wild birds shriek'd
And, terrified, did flutter on the ground,
And flap their useless wings; the wildest brutes
Came tame and tremulous; and vipers crawl'd
And twin'd themselves among the multitude,
Hissing, but stingless—they were slain for food.
And War, which for a moment was no more,
Did glut himself again: a meal was bought
With blood, and each sate sullenly apart
Gorging himself in gloom: no love was left;
All earth was but one thought—and that was death
Immediate and inglorious; and the pang
Of famine fed upon all entrails—men
Died, and their bones were tombless as their flesh;
The meagre by the meagre were devour'd,
Even dogs assail'd their masters, all save one,
And he was faithful to a corse, and kept
The birds and beasts and famish'd men at bay,
Till hunger clung them, or the dropping dead
Lur'd their lank jaws; himself sought out no food,
But with a piteous and perpetual moan,
And a quick desolate cry, licking the hand
Which answer'd not with a caress—he died.
The crowd was famish'd by degrees; but two
Of an enormous city did survive,
And they were enemies: they met beside
The dying embers of an altar-place
Where had been heap'd a mass of holy things
For an unholy usage; they rak'd up,
And shivering scrap'd with their cold skeleton hands
The feeble ashes, and their feeble breath
Blew for a little life, and made a flame
Which was a mockery; then they lifted up
Their eyes as it grew lighter, and beheld
Each other's aspects—saw, and shriek'd, and died—
Even of their mutual hideousness they died,
Unknowing who he was upon whose brow
Famine had written Fiend. The world was void,
The populous and the powerful was a lump,
Seasonless, herbless, treeless, manless, lifeless—
A lump of death—a chaos of hard clay.
The rivers, lakes and ocean all stood still,
And nothing stirr'd within their silent depths;
Ships sailorless lay rotting on the sea,
And their masts fell down piecemeal: as they dropp'd
They slept on the abyss without a surge—
The waves were dead; the tides were in their grave,
The moon, their mistress, had expir'd before;
The winds were wither'd in the stagnant air,
And the clouds perish'd; Darkness had no need
Of aid from them—She was the Universe.

Samstag, 6. Mai 2023

Bulgur - noch nie gegessen

Hartweizen oder Durum - Bulgur und Couscous und Gries - Verarbeitungen des Hartweizens, perfekt für Pasta und Pizza und wichtiger Bestandteil der Küchen des Nahen und Mittleren Ostens. Klar kenne ich Pasta, aber Couscous habe ich nur einmal in Marokko gekostet und Bulgur ist mir neu. Habe ich was verpasst. Aber ab jetzt ...

Und blüht der Weizen, so reift er auch,
das ist immer so ein alter Brauch.
Und schlägt der Hagel die Ernte nieder,
übers andere Jahr trägt der Boden wieder.  

Johann Wolfgang von Goethe

Zwei Esslöffel Olivenöl heiß werden lassen, Zwiebeln anbraten, ungefähr sieben Minuten bei mittlerer Hitze, Tomatenmark, Knoblauch, klein geschnitzelte Paprika und Tomate dazu. Nochmal drei Minuten, Salz, Pfeffer, Kreuzkümmel und den feinen Bulgur rein, gut rühren, Kichererbsen aus der Dose (abgetropft) hinzufügen und Brühe auch. Deckel drauf, von der Hitze nehmen und den Bulgur quellen lassen, wenn die Flüssigkeit aufgesaugt ist - etwas Zitronensaft und Petersilie drüber. Geht schnell, schmeckt wirklich gut und ist, wenn man Gemüsebrühe nimmt, vegetarisch und so oder so auch noch gesund.

Zwischen Weizen und Korn,
Zwischen Hecken und Dorn,
Zwischen Bäumen und Gras,
Wo gehts Liebchen?
Sag mir das! ... 

 Johann Wolfgang von Goethe

Zutaten: Eine Zwiebel; 1/4 Tasse Tomatenmark; 1 Staude Strauchtomaten; 1/2 Paprika; 1 1/2 Tassen feinem Bulgur; 1 Dose Kichererbsen; 3 Tassen Brühe; Salz, Pfeffer und 1/2 Esslöffel Kreuzkümmel

https://feelgoodfoodie.net/recipe/bulgur-pilaf/#wprm-recipe-container-21835 

Ich habe mehr Zwiebel und Paprika und weniger Tomaten genommen und reichlich Knoblauch dazugefügt und ganz unvegetarisch eine Bratwurst dazu gegessen.

 

Montag, 1. Mai 2023

In Brandenburg auf der Suche nach einer Ladestation

Seit einigen Jahren lebe ich ohne eigenes Auto. Gut für den CO2 Fußabdruck und sparsamer und meine Nerven ertrugen, das ewige Suchen nach einem Parkplatz immer weniger gut. In der Großstadt ist das als Single, das gut zu Fuß ist, auch nicht wirklich schwer und es gibt ja noch Share Now oder auch mal ein Taxi. Für Ausflüge am Wochenende miete ich dann zwei-, dreimal im Jahr ein Auto. 

Dies war mein Wochende: Samstag 10 vor 10 stehe ich am Sixtschalter im Hilton am Gendarmenmarkt, wo ich, meinem Mietvertrag zufolge, den Autoschlüssel erhalten soll. Niemand erscheint. Telefonische Kontaktversuche enden im erschöpfenden Niemandsland der neutralen Sprachansagen nach Tasten-zwischen-Eins-und-Drei-Drücken. An der Hotelrezeption sagt man mir, da kommt fast nie einer, laufen sie lieber gleich in die Station an der Leipziger. Ok, ich betrete drei Strassen weiter, mit Gepäck, das Sixt-Büro und werde von einem offensichtlich gestressten Mitarbeiter schroff darauf hingewiesen, dass man mir doch mitgeteilt hätte, dass ich gleich in die Leipziger kommen sollte. Hat man nicht und es wird später auch grummelnd zurückgenommen. Ich stelle mich an. Sechs Kunden, pro Kunde circa zehn Minuten, erst ist nur ein Tisch besetzt, dann noch ein zweiter, diese Gelegenheit nutzt Mitarbeiter Nummer eins allerdings für ein längeres privates Telefonat. 

Eine Stunde später ich bin dran. Mist, ich habe übersehen, dass ich ein Elektro-Auto kriege. Natürlich keine Möglichkeit zum Wechsel, Ich will stornieren, das wären 80 Prozent Stornokosten, die anderen Menschen in der Schlange werden verständlicherweise ungeduldig - "Nun nehmen Sie das Auto doch. Ist easy peasy, bezahlt wird an der Ladesäule mit Paypal, nun machen Sie schon." - Ich nehme das Auto. Die App, die ich für die mir überreicht wordene Ladekarte herunterlade, erkennt die Karte nicht, eine zweite, die mir schroff rübergereicht wird, will die App auch nicht. Nach vielen Versuchen finde ich später heraus, dass der Scanner eine Zahl falsch liest. 

Wir fahren. Das Hotel tief im Brandenburgischen ist fabelhaft, das Essen schmackhaft, das Wetter strahlend, die Wiesen und Bäume hellgrün, gelbgrün, mattgrün, knallgrün und alle möglichen Grüns, die so nur der späte Frühling bietet, und die Laune blendend. Es bleibt nur der kleine nagende Gedanke: Wie lädt man so ein Auto auf und wo?

Tja, hier wird es kompliziert. Wie? Keine Informationen im Auto selbst, Google bietet viele, aber nicht, die ich benötige. Im Kofferraum liegt ein fettes Kabel, das ist gut. Aber das Bezahlproblem ist damit noch nicht gelöst. Mittlerweile habe ich drei Apps für E-Auto Ladestationen heruntergeladen.

Wo? Rheinsberg - eine Ladestation, schwer zu finden und an Abenden und am Wochenende geschlossen. Gransee - eine Ladestation, die aber meine Geldkarten nicht annnimmt. Die Hotline kann leider nur Auskunft über den Zustand der Ladesäule selbst geben. Ein Passant schlägt mir freundlich alle Schritte vor, die ich schon ausprobiert habe.

Meine Begleiterin verletzt ihr Knie beim Stolpern über eine Wurzel, kann nur unter heftigen Schmerzen laufen und wir müssen daher eher als erwünscht nach Hause.

In Neuruppin und Oranienburg sollen einige Ladesäulen sein, aber ich gehe auf Risiko und fahre nach Berlin. Naja, vier oder mehr Stunden im Irgendwo aufs Aufladen warten, klingt wenig reizvoll.

Wir haben für eine Strecke von 78 Kilometern noch Strom für 130. Haben wir? Nein, das Ding entlädt sich schneller als versprochen, obwohl ich so ökonomisch fahre, dass ich mich selber dabei langweile.

In Pankow lade ich, ja ich kriege es hin, diesmal geht es, nach einigen Versuchen, wirklich über Paypal, es lädt.

2 KWh, helfen nicht viel, aber bringen uns bis Mitte, die Freundin wird nach Hause gebracht, eine neue Ladesäule gefunden, das Auto angeschlossen. Vier Stunden später ist es genug geladen und ich gebe es ab.

Ich werde nie wieder ein Auto bei Sixt ausleihen.

Ich werde (in den nächsten Jahren) nie wieder ein Elektroauto mieten, wenn ich vorhabe aufs Land zu fahren.

Nuklearphysik in brandenburgischer Idylle

Aber wir hatten zwei herrliche Frühlingstage, sind viel gelaufen und haben den Frühling aufgesaugt.

Donnerstag, 20. April 2023

Nächtliche Gedanken

Neuerdings habe ich merkwürdige Unterhaltungen mit einer lieben Freundin, wird die Klimakatasrophe oder Deepfakes das Ende unserer Welt einläuten? Verkehrte Welt, wir diskutieren die Varianten ihres Untergangs. Wann ist es normal geworden über das Ende der Welt zu reden? Gab es diese Gespräche schon seit je? Apokalypsen wurden zyklisch wohl schon immer vorausgesagt und fast jede Generation meinte, ihre Zeit wäre schlimmer, als alle davor. Aber. Aber jetzt? Klima in katastrophalem Zustand, Krieg allüberall und in unserer Nachbarschaft, KI, Deepfake und der Rechtsrutsch ganzer Demokratien. Schlimmer?

Heute Abend in der Schaubühne The Wooster Group mit einer Hommage an Tadeusz Kantor, den polnischen Theatergott. 

Merkwürdig.

Ein polnischer Jude, dessen Vater in Ausschwitz umkam und der im katholischen Polen der Stalinzeit aufwuchs, erschafft theatralische Ereignisse über sich selbst, sein Leid, seine Hoffnungen, seine Erwartung oder Ersehnung des Todes. Der Abend auf den sich die Rekonstruktion beruft, hieß "Ich werde nicht wiederkehren" und war eine Collage all seiner vorherigen Inszenierungen. Der Titel bezieht sich auf ein Stück von Stanislaw Wyspiański über Odysseus, der nach seinen Irrfahrten in Ithaka ankommt, alle Freier tötet und dann feststellt, das er nicht einfach wieder zurückkommen kann, weil er ein anderer geworden ist. 

Eine New Yorker Institution, eben jene Wooster Group untersucht 2022/23 das Werk dieses Mannes, der 1990 starb.

Theater verschwindet mit seinen Akteuren, keine Kränze usw., hier wird ein Wiederbelebungsversuch unternommen. Und das funktioniert in Momenten. Die Synchronisation von alten Probenmitschnitten und akut erlebter Darstellung ist spannend. Vieles war mir zu selbstreferentiell, Theater, das Theater kommentiert. Aber ein Moment ist stark und erschütternd. Ein junger Mann aus New York singt ein Lied, das ein Jude, Azriel David Fastag, auf dem Transport nach Treblinka geschrieben hat und dessen Melodie auf abenteuerliche Weise überlebt hat. Juden haben es gesungen, während sie in die Gaskammer gingen.

Ani Ma'amin - I believe - Ich glaube

I believe / with complete faith / in the coming of the Messiah / in the coming of the Messiah I believe / though he may delay / every day / I believe.

Ich glaube / mit tiefem Glauben / an die Ankunft des Messias / an das Kommen des Messias glaube ich / auch wenn er etwas zu spät kommt / ich glaube. 

Trauriger geht nicht.


with a complete faith10
in the coming of the Messiah
in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
https://lyricstranslate.com/de/ani-maamin-i-believe.html
with a complete faith10
in the coming of the Messiah
in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
https://lyricstranslate.com/de/ani-maamin-i-believe.html
with a complete faith10
in the coming of the Messiah
in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
https://lyricstranslate.com/de/ani-maamin-i-believe.html

Was ich habe, will ich nicht verlieren

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Thomas Brasch 1977

Was die Dramaturgie der Schaubühne darüber schreibt:

»A PINK CHAIR (In Place of a Fake Antique)« unternimmt eine szenische Rekonstruktion des vorletzten Stücks von Tadeusz Kantor, »I Shall Never Return«. Der polnische Theatermacher und Künstler, der in seinen wegweisenden Arbeiten immer wieder die Grenzen zwischen bildender Kunst und Theater überschritt, inszenierte das Stück 1988 kurz vor seinem Tod und wirkte selbst darin mit. Zusammen mit Kantors Tochter Dorota Krakowska als Leiterin sowie Probenaufzeichnungen der Inszenierung begibt sich The Wooster Group auf eine Expedition in die Vergangenheit der europäischen Theateravantgarde und auf die Suche nach einer verlorenen Zeit – und wiederholt damit ein Wagnis, das auch Kantors Schauspieler_innen virtuos in »I Shall Never Return« unternahmen. Diese Inszenierung, die irgendwo zwischen Ithaka und einem polnischen Gasthaus angesiedelt ist, erscheint wie ein Vermächtnis Kantors, in dem er frühere Stücke, u. a. seine erste Arbeit »Die Rückkehr des Odysseus«, auf die Bühne zurückholt und in der sich alles um das zentrale Motiv des Abschieds dreht. In bildstarken surrealistischen Szenen tauchen Wiedergänger_innen alter Figuren auf. Über die Geschichte dieser wie aus einem Stummfilm gefallenen Charaktere wird immer wieder auch bruchstückhaft Kantors eigene Biografie zusammengesetzt, die von Verlust, Krieg und dem ständigen Bewusstsein um Vergänglichkeit und Tod geprägt ist. Es ist ein visionäres Spektakel, halb Alptraum, halb Groteske, und eindrückliches Beispiel für das, was Kantor selbst sein »Theater des Todes« nannte. Ein Theater des Todes, das The Wooster Group mit ihren Spieler_innen nun wieder zum Leben erweckt, indem sie die Rekonstruktion der Rekonstruktion versucht.

Mittwoch, 19. April 2023

Ein Maler schreibt ein Gedicht

Gefunden in

Paris Magnétique

einer Ausstellung über jüdische Künstler in Paris 1905 bis 1940

im Jüdischen Museum Berlin

 

Den ermordeten Künstlern


Ob ich sie alle gekannt habe? Ob ich in ihrem Atelier gewesen bin?

Ob ich ihre Kunst von nah und fern gesehen habe?

Und jetzt trete ich aus mir heraus, aus meinen Jahren,

und gehe an ihr unbekanntes Grab.

Sie rufen mich, sie ziehen mich in ihre Grube – mich

Den Unschuldigen, den Schuldigen.

Sie fragen mich: Wo bist Du gewesen?

- Ich bin entflohen ...

Sie hat man zu den Todes-Duschen geführt,

wo sie ihren Schweiß schmeckten.

Da sahen sie das Licht

Ihrer ungemalten Bilder.

Sie haben die ungelebten Jahre nicht gezählt,

welche sie gespart und aufbewahrt hatten,

für die Erfüllung ihrer Träume

schlaflose, verschlafene.

Sie haben in ihrem Kopf jenen Kindheitswinkel –

gesucht, in dem der sternumkränzte Mond

ihnen eine helle Zukunft versprach.

Die junge Liebe im finsteren Zimmer, im Gras

Auf Bergen und Tälern, die aufgeschnittene Frucht,

mit Milch begossen, mit Blumen bedeckt,

verkündete ihnen ein Paradies.

Die Hände ihrer Mutter, ihre Augen,

begleiteten sie zur Bahn,

zu fernem Ruhm.

Ich sehe: Da schleppen sie sich nun – in Lumpen

barfuß, auf stummen Wegen.

Die Brüder von Israëls, Pissaro und Modigliano, unsere Brüder.

Es führen sie in Stricken, die Brüder von Dürer, Cranach und

Holbein – zum Tode in die Krematorien.

Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen.

...

Marc Chagall