Neuerdings habe ich merkwürdige Unterhaltungen mit einer lieben Freundin, wird die Klimakatasrophe oder Deepfakes das Ende unserer Welt einläuten? Verkehrte Welt, wir diskutieren die Varianten ihres Untergangs. Wann ist es normal geworden über das Ende der Welt zu reden? Gab es diese Gespräche schon seit je? Apokalypsen wurden zyklisch wohl schon immer vorausgesagt und fast jede Generation meinte, ihre Zeit wäre schlimmer, als alle davor. Aber. Aber jetzt? Klima in katastrophalem Zustand, Krieg allüberall und in unserer Nachbarschaft, KI, Deepfake und der Rechtsrutsch ganzer Demokratien. Schlimmer?
Heute Abend in der Schaubühne The Wooster Group mit einer Hommage an Tadeusz Kantor, den polnischen Theatergott.
Merkwürdig.
Ein polnischer Jude, dessen Vater in Ausschwitz umkam und der im katholischen Polen der Stalinzeit aufwuchs, erschafft theatralische Ereignisse über sich selbst, sein Leid, seine Hoffnungen, seine Erwartung oder Ersehnung des Todes. Der Abend auf den sich die Rekonstruktion beruft, hieß "Ich werde nicht wiederkehren" und war eine Collage all seiner vorherigen Inszenierungen. Der Titel bezieht sich auf ein Stück von Stanislaw Wyspiański über Odysseus, der nach seinen Irrfahrten in Ithaka ankommt, alle Freier tötet und dann feststellt, das er nicht einfach wieder zurückkommen kann, weil er ein anderer geworden ist.
Eine New Yorker Institution, eben jene Wooster Group untersucht 2022/23 das Werk dieses Mannes, der 1990 starb.
Theater verschwindet mit seinen Akteuren, keine Kränze usw., hier wird ein Wiederbelebungsversuch unternommen. Und das funktioniert in Momenten. Die Synchronisation von alten Probenmitschnitten und akut erlebter Darstellung ist spannend. Vieles war mir zu selbstreferentiell, Theater, das Theater kommentiert. Aber ein Moment ist stark und erschütternd. Ein junger Mann aus New York singt ein Lied, das ein Jude, Azriel David Fastag, auf dem Transport nach Treblinka geschrieben hat und dessen Melodie auf abenteuerliche Weise überlebt hat. Juden haben es gesungen, während sie in die Gaskammer gingen.
I believe / with complete faith / in the coming of the Messiah / in the coming of the Messiah I believe / though he may delay / every day / I believe.
Ich glaube / mit tiefem Glauben / an die Ankunft des Messias / an das Kommen des Messias glaube ich / auch wenn er etwas zu spät kommt / ich glaube.
Trauriger geht nicht.
Was ich habe, will ich nicht verlieren
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin
Thomas Brasch 1977
Was die Dramaturgie der Schaubühne darüber schreibt:
»A PINK CHAIR (In Place of a Fake Antique)« unternimmt eine szenische
Rekonstruktion des vorletzten Stücks von Tadeusz Kantor, »I Shall Never
Return«. Der polnische Theatermacher und Künstler, der in seinen
wegweisenden Arbeiten immer wieder die Grenzen zwischen bildender Kunst
und Theater überschritt, inszenierte das Stück 1988 kurz vor seinem Tod
und wirkte selbst darin mit. Zusammen mit Kantors Tochter Dorota
Krakowska als Leiterin sowie Probenaufzeichnungen der Inszenierung
begibt sich The Wooster Group auf eine Expedition in die Vergangenheit
der europäischen Theateravantgarde und auf die Suche nach einer
verlorenen Zeit – und wiederholt damit ein Wagnis, das auch Kantors
Schauspieler_innen virtuos in »I Shall Never Return« unternahmen. Diese
Inszenierung, die irgendwo zwischen Ithaka und einem polnischen Gasthaus
angesiedelt ist, erscheint wie ein Vermächtnis Kantors, in dem er
frühere Stücke, u. a. seine erste Arbeit »Die Rückkehr des Odysseus«,
auf die Bühne zurückholt und in der sich alles um das zentrale Motiv des
Abschieds dreht. In bildstarken surrealistischen Szenen tauchen
Wiedergänger_innen alter Figuren auf. Über die Geschichte dieser wie aus
einem Stummfilm gefallenen Charaktere wird immer wieder auch
bruchstückhaft Kantors eigene Biografie zusammengesetzt, die von
Verlust, Krieg und dem ständigen Bewusstsein um Vergänglichkeit und Tod
geprägt ist. Es ist ein visionäres Spektakel, halb Alptraum, halb
Groteske, und eindrückliches Beispiel für das, was Kantor selbst sein
»Theater des Todes« nannte. Ein Theater des Todes, das The Wooster Group
mit ihren Spieler_innen nun wieder zum Leben erweckt, indem sie die
Rekonstruktion der Rekonstruktion versucht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen