Samstag, 27. November 2021

Cevapcici - Eine Erinnerung

Meine Freundin hat sie als junges Ding in der "Möwe" gegessen, dem Künstlerclub in Ost-Berlin, offen bis sehr spät. Man mußte ordentlich angezogen sein, um reinzukommen, konnte aber gänzlich besoffen wieder rausgehen, taumeln, stolpern. Wenn man nachts noch irgendwo abhängen wollte, war die "Möwe", damals fast die einzige Möglichkeit. Cevapcici mit Pommes und Gin Fizz für 1,50 Mark der DDR, Studenten bekamen besonders große Portionen. 

"Memories"! Viele Flirts, viele Gespräche, die die Welt verändern wollten, viele Küsse.

Komischerweise habe ich Cevapcici dort nie gegessen, aber kenne sie aus Bulgarien mit Schopskasalat und bulgarischen Zigaretten. Papyrossa, gräßliches Zeug. Aber Bulgarien war Ausland, anders, und auf dem Weg zurück machten wir noch einen Tag Zwischenstop in Budapest, was faktisch schon wie Westen war.

Jedes Land auf dem Balkan hat eine eigene, beste Variante, ich mochte diese, saftig, würzig.

Das Rezept:

700 g Hackfleisch, gemischt, halb Schwein, halb Rind, ich habe bei meinem Lieblingsfleischer Lamm-Gehacktes bekommen und mit Rindergehacktem gemischt. https://www.fleischerei-erchinger.de/

150 g Zwiebel, sehr fein geschnitten, gehackt oder gerieben

3 Knoblauchzehen durchgedrückt oder auch mehr, je nach Laune

1,5 TL Salz 

1/2 TL Natron

1 TL schwarzen Pfeffer

2 TL Paprikapulver edelsüß 

1 TL Papriakpulver rosenscharf 

1 EL Olivenöl, plus Olivenöl zum braten

Alle Zutaten in einer Schüssel vermischen und 10 (in Worten zehn) Minuten kneten, 10 Zentimeter lange und circa zwei Zentimeter breite Miniwürste rollen und, auf einen Teller legen, mit Frischhaltefolie abdecken und für mindestens zwei Stunden an die kälteste Stelle des Kühlschranks stellen, dann in reichlich Olivenöl 8 bis 10 Minuten bei mittlerer Hitze braten. Dazu Zatziki und Avjar (Paprika-Auberginen Püree) und, wenn man sentimentale Erinnerungen folgt, mit Pommes, in unserem Fall vom sehr guten Currywurststand in der Oranienburger, servieren. 

Das ursprüngliche Rezept ist von dieser Website: https://emmikochteinfach.de/cevapcici-das-original-ganz-einfach/

Ich schaffe es fast nie, Photos zu machen, bevor alles aufgegessen ist. Deshalb eine Leihgabe.



 

Sonntag, 21. November 2021

GUDRUN RITTER - GÖTZ-GEORGE-PREIS

 

Ich liebe Gudrun Ritter. 

Sie ist eine zarte, kleine Frau mit wissenden Augen und einem gefährlich sinnlichen Mund, ihre Stimme kann rau und schrill und flirrend und trocken und gurrend und hart und zärtlich und und und ... Sie ist immer, immer direkt im Ton, nie tönend, nie salbadernd, nie vage, sondern genau ins Ziel.

Eine gefährliche Elfe, eine klarsehende Träumerin, eine Unschuld mit Wissen und Sexappeal, ein Mysterium, selbst wenn sie scheinbar einfach wirkt. 

Und wie macht sie das, dass es jedesmal wirkt, als sei es frisch, gerade passiert, neu gedacht? 

Torquato Tasso, Zwei Krawatten, Miss Sara Sampson, Stella, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Sugardollies, die Aufzählung könnte Seiten füllen. 

Ich gucke ihr so gern zu, so gern. 

Und ihr unerreichtes "Was?" in Proben, superlaut und gänzlich plötzlich, wenn sie die Souffleuse nicht verstand. Das nahm der Probe die Heiligkeit und gab ihr Leben.

In einer Produktion, in der der Regisseur gelegentlich zu terroristischen Methoden gegen einzelne Spieler, öfter gegen mich, griff, rettete mich ihr gut gesetztes Rülpsen, nach hinten, unhörbar fürs Publikum, aber mir die Angst nehmend, in einer anderen, nicht ganz gelungenen Inszenierung hat sie mich an einer schwer erträglichen Stelle lustvoll, heftig in die Wade gekniffen. Dafür bin ich ihr ewig dankbar.

Heute wurde sie mit dem Götz-George-Preis der gleichnamigen Stiftung in einer liebevoll vorbereiteten und durchdachten Veranstaltung, ausgezeichnet. Der Abend war 2G plus und trotzdem habe ich Angsthase meist mit Maske dagesessen, so viele Leute.

Und plötzlich saß da eine kleine Runde von DT Veteranen, Tine Schorn, Bernd Stempel, Dagmar Manzel - uff, so viele Erinnerungen. Ich hab an diesem Haus 15 Jahre verbracht, gute Jahre, mit harschen Phasen. Es waren meine prägende Jahre und ich habe dort Menschen getroffen, die mir die wirklich wichtigen Dinge für mein Theaterleben beigebracht haben, obwohl sie sich nie als "Lehrer" verstanden habe. Und dafür liebe ich sie. Manche, wie Tine und Gudrun sind putzmunter und aktiv, andere sind krank oder von uns fortgegangen, alle waren Spielmäuse.

Besser als Gudrun es heute Abend gesagt hat, kann ich es nicht formulieren: "Wenn ich könnte, ich würde nochmal von vorn anfangen."

Freitag, 19. November 2021

Juhu, die Welt geht unter und ich sitze im Atomschutzbunker

Bin ich hysterisch oder macht euch die augenblickliche Situation auch nervös? 

Die Nachrichten klingen, als wären sie wirre Schnittschnipsel aus irgendwelchen Hollywood-Weltuntergangsfilmen. Österreich im Lockdown, Bayern auch, Sachsen, Thüringen auf dem Weg dorthin. 

Eigentlich bin ich ein nervender Optimist, Glas halb voll, gelegentlich sogar überlaufend.

Aber: Verzweifelte Schausteller packen ihre Waren, gekauft oder produziert fürs Weihnachtsgeschäft wieder ein. Erschöpfte Clubbesitzer schalten die Musik aus, obwohl sie brav 2G plus eingehalten haben. Teenager verabschieden sich vom Feiern. Erste Theater schließen.

Die Lage tendiert ins Apokalyptische, aber wir unternehmen erst nächste Woche was?

Wir müssen die Ängste der Nichtimpfer verstehen. Muß ich? Will ich? Sicher, ihre Gründe sind sehr unterschiedlich. Aber bis auf die, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden dürfen, klingen viele ihrer Begründungen für meine Ohren übelst vage oder geradezu dämlich. Allgemeine Bauchgefühle, irgendwelche möglichen DNA-Veränderungen, unbewiesene Spätfolgen, Bill-Gates-Chipping, Wissenschaftsskeptizismus ohne größeres eigenes Wissen, Big-Pharma ganz allgemein und durch keine genauen Fakten begründetes überhebliches Besserwissen. Und ich weiß, dass ich vereinfache, aber 400 Tote am Tag und mehr in in der Zukunft gestatten mir das das vielleicht.

Wenn meine Waschmaschine aufgibt, frage ich einen Waschmaschinenreparateur um Hilfe. Wenn mein Blinddarm entzündet ist, lege ich meine Gesundheit in die Hände eines Chirurgen. Bei Zahnschmerzen hilft ein Zahnarzt, bei Unwissen hilft lernen. Zweitmeinungen sind möglich und manchmal nötig, aber letzten Endes hilft ein Spezialist. Übrigens würde ich in meinem Job auch nicht auf die Meinung jedes Laien hören, der meint, es besser zu wissen, weil er er das so fühlt oder auf Telegram gelesen hat, wie es anders geht.

Widerständig zu sein ist eine hohe Qualität. aber ist es eine Qualität an sich oder muß es seinen Feind genau definieren und nicht nur das Gegenhalten-An-Sich zur Qualität erklären? Bin ich ein Schlafschaf, wenn ich die Hygienemaßnahmen für richtig halte und sie, um gesund zu bleiben, einhalte?

Und die Impfdurchbrüche? Müssen die alten Leute aber auch alle irgendwelche Vorerkrankungen haben?  Mathematik ist auch zu verwirrend. Wenig Trauer um die Toten, viel Rechthaberei. Sie sind ja eh alt. Früher oder später. Begrüßt den Tod, er ist Teil unserer Existenz. Ich glaube, zu sterben, wenn man lieber leben will, ist schlimm, sehr schlimm. Weil wir nur ein Leben haben. Und dann sind da noch die, die uns lieben und vermissen werden.

Wie sind wir hier her geraten? Erst war Wahlkampf, da wollten sie keinen verschrecken und jetzt ampeln sie wie wild.

Ist die Lage so schlimm, wie sie mir scheint oder soll ich mich abregen und auf meine Booster-Impfung warten?

Corona ist wie Tinitus, ein dauernder stressiger Ton in meinem Innenohr. Ja, ich weiß, ich jammere auf hohem Niveau, aber so what.

Ich will, dass es besser wird. Bald. Balder. Am baldesten. 
 
Letztendlich bin ich fassungslos, wie viele meiner Mitbürger wirklich dumm sind, oder nicht einmal dumm, aber unwillig zu denken, mitzufühlen, weil wütend zu sein, so viel einfacher ist. Die Juden sind schuld, die Muslime, die Regierung, Bill Gates, wer auch immer, nur ich, armes, immer geplagtes Ich habe nie keinerlei Verantwortung zu tragen.

Montag, 8. November 2021

Beelitz - Heilstätten - Eine Kapitalismus Studie

Eine Führung durch die alte Chirugie - es ist kalt, es regnet, es weht, wir fahren nach Beelitz. Das Gelände ist riesig, Ruinen auf der einen Seite der Landstrasse, in Sanierung befindliche Gebäude und funktionierende Kliniken auf der anderen. 

Hier wurde zwischen 1898 und 1930 die größte Lungenheilstätte Europas errichtet. Eine kuriose und politische Geschichte. Arbeiter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts lebten unter grauenhaften Bedingungen, lange Arbeitstage, wenig Sonne, enge Wohnungen mit Nässe, Überbelegung, grässlichen hygienischen Bedingungen. 

Ergo, Sie erkrankten, oft schon in der Kindheit, an Tuberkolose. Was sie als Arbeiter früher oder später unverwendbar machte. Bismarck hatte zur Befriedung der Arbeiter Sozial- und Gesundheitsversicherung eingeführt, keine Rentenversicherung, aber eine für Veteranen, also für die, die nicht mehr arbeiten konnten. 

Ergo. Es entstand ein Problem: für die "Arbeitgeber", die befürchteten, einen großen Teil ihrer "Arbeitnehmer" an die Tuberkolose zu verlieren, diese Sorge wurde noch größer, als 1914 Soldaten für den geplanten großen Krieg gebraucht wurden, und auch ein Problem für die Versicherung, die immer mehr arbeitsunfähige, aber noch nicht tote, "nur" zunehmend kränkere Versicherte "durchschleppen" musste.

Eine Heilungsmethode gab es nicht, auch wenn Robert Koch schon das Tuberkel, die Ursache des Übels entdeckt hatte. Man wusste, Sonne half, gute Ernährung und Ruhe, keine Heilung, aber Aufschub. Wirkliche wirksame Antibiotika gab es erst nach 1945.

Ergo. Es mußte eine Lösung gefunden werden. Die Arbeits-, Soldatenkraft mußte geschützt werden.

Ergo. Es  wurden von den Versicherungen Kliniken gebaut, erst in bergigen, luftigen Gegenden für die reichen Kranken, dann nahe der Großstädte für die weit mehr betroffenen Armen. Gute Luft, gutes Essen, viel Ruhe. Man stelle sich vor, ein Mensch aus dem vierten Hinterhof, dritte Etage, große Familie, ein Waschbecken für viele, Klo ebenfalls, wenn nicht im Hof, Schwamm in der Wand, keine Sonne, keine Ferien, unterernährt, trifft am Bahnhof Beelitz ein, wird entkleidet, transportiert und behandelt. Vom Elend ins Paradies? Allerdings ein ödes Paradies, ruhen, nicht lesen, nicht stricken, nichts tun. Es soll aber im Geheimen einiges gelaufen sein, der Pförtner hat sich bestechen lassen und es gab Feiern in den weitläufigen Kabeltunneln.

Wie Masttiere wurden die Kranken wieder erwerbsfähig gemacht und nach zwei oder drei Monaten wieder in die Armut, die harte Arbeit und den Dreck entlassen.

Eine Nebengeschichte, um die Lunge, durch die Krankheit, wie von Motten zerfressen, zu operieren, musste auf einer Seite eine Rippe entfernt werden, ohne Narkose, nur mit örtlicher Betäubung, was später zur Buckelhaltung führte.

Ergo, Einzelzimmer für die meisten, weil sie nach der Operation oft Schmerzen erlitten und stöhnten, dicke Wände zur Schallisolierung, hohe Decken, um den Lungenkranken genug Sauerstoff zu bieten, alle Zimmerecken rund, damit sich in den Ecken keine Keime absetzen konnten.

Von 1945 bis 1989 haben die Russen hier das grösste Militärhospital außerhalb der Sowjetunion betrieben. Die Bodenkacheln der ersten Bauphase sind unverwüstbar, die Wandkacheln, produziert in der DDR, nicht ganz so.

Ein Ein verwunschener Ort. Komprimierte Geschichte, deutsches Reich, Nazilazarett, Russenhospital, und der Wandalismus und die Partylaune der Neunziger. 







 





https://sites.google.com/site/beelitzheilstaetten/geschichte 

Zwischen der Eröffnung der Heilstätten 1902 und dem Jahr 1926 waren bereits 66.445 Männer, 43.953 Frauen und 6.559 Kinder als Patienten aufgenommen wurden. Insgesamt gab 1929 es 1.338 Betten, davon 950 für Lungenkranke und 400 Betten für Patienten mit Nervenschwäche, Rheuma, Magen- und Herzleiden. Oberstes Ziel der Behandlung in den Heilstätten war die "Verhütung von Invalidität" und die "Wiederherstellung von Erwerbsfähigkeit" der Kranken.

Sonntag, 7. November 2021

The French Dispatch und Riders Of Justice

Ich habe nur ein einziges Zeitungabonnement. Mehr oder weniger pünktlich, einmal die Woche steckt in meinem Briefkasten mit einem US-Poststempel ein Umschlag mit dem NEW YORKER drin. Die Titelseite ist gezeichnet oder gemalt, die Cartoons reichlich und gut, die viele Artikel richtig lang und enorm fundiert, und, was so sehr besonders ist, großartig geschrieben. 

Herr Wes Anderson hat eine Liebeserklärung an diese Zeitung gefilmt, an ihren Witz, ihre Intelligenz und beharrend traditionelle Ästhetik, letztere macht das Lesen, den optischen Vorgang umso mehr zur Freude.

Alles ist fein, tolle Schauspieler noch für den letzten gemurmelten Halbsatz, frecher Eklektizismus, unverschämter Einsatz jedes erdenklichen visuellen Mittels, Zitate aller Art - alles hoch artifiziell, nie gänzlich ernst, auch der Tod noch ein Bonmot. Benicio del Toro allein erlaubt sich Tiefe ohne die andere Waagschale der Komödie zu überlasten. 

Ein Film zum Dauerlächeln während man ihn sieht, zart, schnell, fein, doch außer einer heiteren Zeit und einigen Bildeinfällen bleibt nicht viel hängen.

Vor Jahren zappte ich durchs Programm und blieb bei einem merkwürdigen Film hängen. Mir erging es, wie es mir, nochmals viele Jahre früher, beim Ansehen von Monty Pythons Flying Circus im Dritten ergangen war, ich fühlte mich verstanden. Das war Humor, der mich lachen machte, immer hart an der Grenze zur Gewalt oder sogar zur Bösartigkeit, aber diese Grenze wie durch ein Wunder nie überschreitend. 

Der merkwürdige Film war "Adams Äpfel" von Anders Thomas Jensen und ich habe ihn mittlerweile wohl zehnmal gesehen.  Mein allererstes Mal mit Mads Mikkelsen! 

"Wilbur Wants To Kill Himself" (Mads als Doktor), Men and Chicken" (Mads als charmante Folge von Inzest), "Dänische Delikatessen" (Mads als Fleischergeselle) und heute abend: "Riders of Justice", Gerechtigkeitsreiter oder, wie es der deutsche Verleih entschied "Helden der Wahrscheinlichkeit" (Gott hilf bei verdeutschten Titeln, ich dachte erst, es handele sich um eine Dokumentation über Statistiker.) 

Kurze Abschweifung, Mads Mikkelsen: wo Hollywood erwartbare Varianten von Bösewichtern sieht, es sei ihm sehr gegönnt, sehen seine skandinavischen, meist dänischen Regisseure, alles mögliche, Lehrer, Ehemänner, Pfarrer, Ärzte, einen Soldaten, was weiß ich, und er verwandelt sich. (Und mit seinem prägnanten und unüblich schönen Gesicht ist das noch einen Zacken toller.) Ich vermute er amüsiert sich prächtig in seinem Zwitter-Dasein.

"Helden der Wahrscheinlichkeit", der Film macht Sprünge zwischen Rachedrama, Komödie, Klamotte, philosophischem Diskurs und psychologischem Drama, die nicht funktionieren können und es doch tun. Er ist ernst und albern, tieftraurig und bedient gleichzeitig die erwarteten Klischees, er ist weise und zutiefst unsicher, ob seiner "Weisheit".

Die Frage nach dem Sinn des Lebens fand ich immer schon blöd, der Sinn des Lebens muß das Leben sein. Aber trotzdem kann ich nicht verhindern, dass, wenn mir Unglück geschieht, die Frage nach dem WARUM? im Hirn tobt. Gibt es Schuldige an diesem, meinem Unglück? Wäre dieses, mein Unglück verhinderbar gewesen? Habe ich mein Unglück verdient? 

Ein Ver-Zweifler erzählt eine Geschichte, weil er die Willkür des Lebens und des Todes etwas entgegensetzen will. Und was kann er entgegensetzen? Eine Geschichte.

Troja wird erobert, seine Bewohner versklavt, wir erzählen uns ihre Geschichte. Ein dreissigjähriger Jude in Galiläa predigt gewaltlosen Widerstand und wird gekreuzigt, wir erzählen uns seine Geschichte. Die Toten der Pest, der Kriege, der Unmenschlichkeit, sie sind tot und nichts bleibt von ihnen, als ihre  Geschichten.

Samstag, 16. Oktober 2021

ICH HABE EINE MEINUNG. ODER ZWEI. ODER ...

William Shatner aka Captain Kirk der USS Enterprise fliegt im stolzen Alter von neunzig Jahren für zehn Minuten, oder waren es elf und eine Unsumme in den Weltraum, Prinz William, 39, Herzog von Cambridge, ohne Beruf, meint, "es gäbe „fundamentale Fragen“ hinsichtlich des CO2-Ausstoßes von Flügen in den Weltraum. Wichtiger als nach bewohnbaren Planeten im Weltall zu suchen, sei die Suche nach Lösungen für den Klimawandel."  (Zitat: Merkur.de)

Ein Professor an der Universität von Michigan zeigt Studenten und Studentinnen seines Kurses für Komposition, um ihnen den Weg vom Stück "Othello" zu Verdis Oper gleichen Namens zu veranschaulichen, eine Aufzeichnung des einer Inszenierung mit Lawrence Olivier in Blackface von 1965 ohne vorherige Triggerwarnung. Schock, Erschütterung, Briefe, Entschuldigungen, mehr Briefe, der Professor muss den Kurs verlassen. (NYT)

Frau Heidenreich redet im Fernsehen Dinge, die ziemlich platt und auf fade Pointen aus wirken und wird dafür verurteilt, als hätten sie das Vierte Reich ausgerufen. (Markus Lanz)

Herr Nuhr ist ein mittelguter Kabarettist, David Chappelle ein großartiger mit sehr eigenen Meinungen zu Rassismus und Transphobie, Mrs. Rawling äußert diskutierbare Ideen, gegen alle drei wird mit Wortkanonen geschossen, als wären sie gewissenslose Kannibalen, die unschuldige Babies zum Frühstück vernaschen. (verschiedene Quellen)                                               

Habt Meinungen. Habt zwei oder drei, so viele ihr wollt. Verteidigt sie. Stellt sie zur Diskussion. Kämpft um sie. Aber vergesst nicht, dass es (nur) eure Meinungen sind.

Es gibt wissenschaftliche Fakten und Meinungen und die sind nicht das gleiche. Faktisch, statistisch, wissenschaftlich beweisbar die einen und offen für Befragung, Zweifel, Ambivalenzen die anderen.

meinen: ‘eine bestimmte Ansicht haben, annehmen, denken’, althochdeutsch meinen (8. Jh.), mittelhochdeutsch meinen ‘sinnen, (nach)denken, seine Gedanken auf etw. richten, (feindlich oder freundlich) gesinnt sein, einem etw. angenehm machen.                                                            (DWDS)

Meine Meinungen sind meine Ansichten, sind, wie ich auf etwas schaue, es einordne, damit es zu mir und meinen anderen Meinungen passt. Andere haben andere Meinungen und noch andere reden einfach nur Müll. Ja, die gibt es auch, sie verweigern sich aus Denkfaulheit oder Ignoranz oder anderen traurigen Gründen wissenschaftlichen Fakten und meinen, dass wäre trotzdem ok. Nein, die Erde ist nicht flach, nein, Covid ist keine Erfindung einer Geheimen Weltregierung, um uns auszurotten, zu chippen, zu dezimieren. Viren sind fucking real. 

Wenn Du Dir nicht 100 prozentig sicher bist, informiere Dich, höre zu, denke nach und 

HALT DEN MUND, AUCH WENN ES DIR MÜHE MACHT,

bis du mehr weißt, und dann bleib dabei oder ändere deine Meinung und das ist auch ok, denn gute, schlaue Leute ändern ihre Meinung, wenn sie dazulernen, wenn sie Gründe finden, neu und anders zu denken. 

Dienstag, 12. Oktober 2021

Verwickelte Zustände

2021 Deutschland. Die Wahl in Berlin ist so chaotisch und regelwidrig abgelaufen, dass, wäre dies ebenso in Weissrussland abgelaufen, weltweit alle anständigen Demokraten mit gutem Recht nach Wahlwiederholung geschrien hätten.

2021 Deutschland. Wir streiten miteinander über die rechte Art zu gendern, Diskrimination zu verhindern, Minoritäten zu ihren Rechten zu verhelfen. Wir schreien einander nieder, beschuldigen einander, setzen zunehmend engere Grenzen. Wer hat die moralische Oberhoheit? Und was macht er dann damit? Interessiert uns die Meinung der "schweigenden Mehrheit" überhaupt noch? Und wenn nicht, warum nicht? Weil wir schlauer sind? Weil die blöd, reaktionär und unbelehrbar sind?

2021 Deutschland. Insgesamt hat die AfD an Zustimmung verloren. Aber in zwei östlichen Bundesländern hat sie mehr als 30 Prozent der Stimmen gewonnen. In Thüringen und in Sachsen. Warum? In Dresden wird jedes Jahr eine Minute in Erinnerung an die Bombardierung geschwiegen, in Erinnerung an die Bombardierung Dresdens, nicht der von Coventry oder Londons. Menschen, die jahrzehntelang in einer wirklichen Diktatur gelebt haben, mit allem was dazu gehört, Geheimdienst, Verhaftungen, Folter, Wahlfälschung und realer Lügenpresse schreien wutenbrannt über Impfdiktatur und Fake-News. Haben wir nichts gelernt? Über unsere Feigheit, über unsere Geschichtsvergessenheit, über unseren Unwillen endlich uns selber auch in die Verantwortung zu nehmen?

2021 Deutschland. Ein Covid-Test kostet jetzt 19,90 €, nur Menschen, die nach medizinischer Indikation nicht geimpft werden dürfen, Kinder und Hartz IV Empfänger sind ausgenommen, soweit ich weiß. Was heißt das? Ich will nicht geimpft werden, aber will ins Kino, in eine Gaststätte oder vergleichbares und zahle jetzt fast 20 € Eintritt, den Genesene und Geimpfte nicht bezahlen müssen. Als Impfgegner, Impfzweifler fühle ich mich sowieso schon als Teil einer mißachteten Minderheit (Die Impfquote soll deutschlandweit bei ca. 75 Prozent liegen. Jepee!) Und jetzt wird auch noch mein Portemonnaie angegriffen. Ich bin ein Opfer!

2021 Deutschland. Mein Kollege Jan Josef Liefers verbringt eine Schicht auf einer Intensivstation, zwei Schwangere sterben in dieser Zeit an Covid, ihre Babies werden gerettet. Er ist erschüttert, aber zum impfen mag er nicht auffordern.

Aber auch: ich gehe als Geimpfte in ein Restaurant, auf dem Weg zum Tisch mit Maske, am Tisch, Maske runter, zum Klo, Maske rauf, macht das wirklich Sinn? 

2021 Deutschland. Habt ihr auch manchmal Angst, dass sich ein Freund oder Bekannter überraschend als Querdenker outen wird? Was dann? Vernünftig diskutieren? Ignorieren und auf bessere Zeiten hoffen? Abhaken und trauern? Verzweifeln?

Paul Alexander, Jahrgang 1946, ist einer der letzten Menschen, der in einer eisernen Lunge lebt. 1952 erkrankte er im Alter von sechs Jahren an Polio / Kinderlähmung. Die Krankheit zerstörte seine Muskeln einschließlich seines Zwerchfells, lähmt ihn vom Hals abwärts und lässt ihn nicht mehr atmen. https://www.immerda-intensivpflege.de/lebensmut-trotz-schwerer-krankheit/

2021 Deutschland. Und von der uns allen drohenden menschheitseiten tödlichen Klimakatastrophe mag ich gar nicht reden.

 



 

Samstag, 9. Oktober 2021

Ordnung ist mein halbes Leben

Ordnung ist mein halbes Leben. Naja, nicht das halbe, aber ich bin schon ganz schön ordentlich, aber eigentlich nur, weil ich völlig chaotisch bin. 

Und ich war einst ein fröhlicher Chaot, Klamotten, wo sie fielen, zu spät, zu früh, wo ist mein Ausweis, schon wieder zu spät - und dann kam das wirkliche Leben und um 6 Uhr begann die Frühschicht im Krankenhaus und später dann um 10 die Probe im Theater und aus mir wurde, als Rettung in der Not, eine Preussin, die ihr Chaotentum in den Griff bekam, indem sie seitdem immer überall zu früh eintraf.

Also kurz gesagt, ich war unordentlich, schlampig und desorganisiert, aber dann geschahen zwei entscheidende Dinge. Erstens wurde ich Untermieterin einer zauberhaften Frau, die noch konfuser war als ich, und ich mußte, aus Gründen des Überlebens und um nicht völlig zu verwahrlosen, anfangen mich und mein Chaos in den Griff zu bekommen. Und zweitens begannen die Gene, die meine Eltern mir schenkten, ihre zeitlich verzögerte Wirkung zu zeigen. 

Ein Beispiel, mein Vater sortierte seine Bücher nach Kategorien und alphabetisch. Und wo stand die Bibel? Unter "Große Philosophen", das machte Sinn, aber auch unter "G", wie Gott, Autor. 

Mit solchen Vorbedingungen, wie konnte ich der Lust zur Ordnung entkommen? 

Meine Bücher sind nur nach Kategorien geordnet. Nein, alphabetisch, nie. 

 

 
Aber mein Geschirr ist nach Farben sortiert, meine Kleider ebenfalls, ich schreibe viele Listen und bin mehr als überpünktlich. Mazel, Schicksal oder Genetik. Wer weiß. Hätte schlimmer kommen können. Meine Eltern waren wenigstens keine Nazis oder ähnliches Gesocks. Ordung ist mein halbes Leben, aber die andere Hälfte ist immer noch ein einziges Chaos.

HUMANS IM CHAMÄLEON

Elf Akrobaten aus Australien erzählen Geschichten über unseren Körper, mit Können, Eleganz, Zärtlichkeit und Muskeln. Ich habe eine Stunde und zehn Minuten lang nicht mein Sodawasser getrunken, nicht weggeguckt, nicht aufgehört zu staunen.

Zu was menschliche Körper in der Lage sind, wenn sie so phantastisch gut trainiert, so aufeinander konzentriert, so intelligent choreographiert sind. (Regie: Yaron Lifschitz)

Es beginnt mit zwanzig Minuten, in denen sich die Elf zu wilden Streichern mit wunderbarer Musikalität die Bühne erobern mit Salti aller Arten, Flick Flacks, Sprüngen übereinander, Gleitern untereinander durch, Hebungen, Würfen, Falltricks, präzise, überraschend, schnell und gedehnt und rasend. 

Ich habe dauernd die Schulter meiner Freundin gepackt, das mache ich immer, wenn mein Herz doppelt schlägt. Ich entschuldige mich hiermit bei ihr.

Dann folgen mit fließenden Übergängen thematische Soli, Pas de deux und Gruppentänze, eine Szene über die Verzweiflung, darüber, dass wir unseren Ellenbogen niemals mit unserer Zunge berühren werden können, musikalisch begleitet von "To dream the impossible dream", eine über die Wunder, die Arme vollbringen, wenn die Beine sich verweigern, eine ungewöhnlich erotische Liebeswerbung zu "Please, please, please" von James Brown, bei der die Begehrenden mal kopfüber tanzen, oder auf dem Gesicht des anderen stehend, oder zum Päckchen verstrickt in des Partners Armen hängend. Kleine, zarte Mädchen heben große Kerle, ein sehr großer Mann trägt sechs Menschen auf seinen Schultern, die Varianten der Verschlingungen menschlicher Wesen scheint endlos, Kamasutra, Escher, Palucca, La la la Human steps, Zirkus und Clownerie, was es gibt, wird genutzt.

Und wie sorgsam sie miteinander umgehen, während sie ihre Körper schinden und doch so wirken, als wären sie noch nicht am Limit, es wäre noch mehr möglich. Sie geben alles und bewahren sich einen Rest. 

In letzter Zeit hatte ich im Theater des öfteren das Gefühl, ich schulde dem Regisseur, den Darstellern meine Aufmerksamkeit und genüge ihren Anforderungen nicht wirklich, heute abend haben mir elf Artisten einen Genuss geschenkt.

https://chamaeleonberlin.com/de/shows/humans/#a_company_in_residence

Sonntag, 29. August 2021

EIN THEATERABEND

Ein Theaterabend.

Er ist lang. Ich darf nicht in Gemütlichkeit verfallen.

Die Ästhetik ist karg & makellos, der für das Licht notwendige Theaternebel pufft allerdings immer noch deutlich sichtbar von dem Ort, an dem die ihn produzierende Maschine steht, bevor er sich elegant verteilt. Das Licht ist präzise, die Übergänge weich, unmerklich, das zusätzliche Neon des Bühnenbildes sichert ab, dass es nicht schön aussehen darf und ist immer leicht zu grell.

Die Musik erklingt ohne Unterlaß und begleitet oder führt die emotionalen Bögen der Inszenierung, Bassteppiche, wechselnde Rhythmen, langsam anwachsende Intensität auf ein Crescendo hin, langer Nachklang. Emotionale, dramaturgische Wendungen, Spannungsmomente, auch das, was man gemeinhin Ausbrüche nennt, selbst die wortlosen Phasen sind durchkomponiert. Ich werde akustisch beim Ohr genommen und geleitet. Dabei ist es wichtig, dass die Lautstärke über weite Strecken leicht über dem mir angenehmen Level liegt. Das trifft auch für die Mikroports der Schauspieler zu.

Die Schauspieler. Tolle Leute dabei.

Sprechduktus, Bewegungstempo, Blickrichtung sind mit leichten Abweichungen, für alle Darsteller gleichermaßen festgelegt. Ein Wort, zwei Worte, drei sind die Ausnahme, Pause, ein Wort, zwei Worte, die Ausnahme. Die körperliche und geatmete Anspannung ist konstant hoch, Momente der Entspannung, Unterspannung, Abwesenheit werden vermieden. Stille und Stillstehen kommen nicht vor. Brüche sind unerwünscht. 

Kann mich ein Schauspieler aus sich heraus ohne akustische Beihilfe beim Kragen nehmen und hinreißen?

Hier sind Strenge gegen die Spieler und Strenge gegenüber dem Publikum angestrebt.

Nicht mein Interesse, mein Vergnügen, mein Zorn sollen angesprochen werden, ich werde zum Teil einer Gemeinde bestimmt, zum Teilnehmer eines Gottesdienstes, eines vermuteten antiken Rituals.

Vielleicht ist es Teil meines Erbes als Bewohner der DDR, dass ich konstanter Erregung gegenüber, sei es Begeisterung oder, wie an diesem Theaterabend, Ergriffenheit, eine mißtrauische, widerborstige Ablehnung zeige.

Der Wettkampf des Intensiven mit dem Noch-Intensiveren ermöglicht keinen Gewinner.

Ungebrochenes Leiden, unbefragte, weil nur ertragene Tragödien, ohne den notwendigen Zweifel, der lebensrettenden Irritation: warum ist es geschehen und wie hätte es vermieden werden können, entlassen mich ärgerlich, hilflos und erschöpft.