Eine Kleine Anthologie
für Ö.
Eisenbahnfahren, ein Abenteuer.
Ich habe mehrere sagen hören, daß durch die Eisenbahnen alle Reisepoesie verschwunden sei und man an dem Schönen und Interessanten vorbeijage. Was letzteres betrifft, so steht es ja jedem frei, auf jeder beliebigen Station zu bleiben und sich da umzusehen, bis der nächste Wagenzug anlangt; und in betreff der Behauptung, daß alle Reisepoesie verschwindet, bin ich völlig entgegengesetzter Meinung. Gerade in den engen, vollgepackten Reisewagen ist es, wo die Poesie verschwindet, man wird hier träge. In der besten Jahreszeit wird man von Staub und Hitze geplagt und im Winter durch schlechte Wege; die Natur selbst erhält man nicht in größeren Portionen, aber wohl in längeren Zügen als im Dampfwagen. Oh, welches große Werk des Geistes ist doch diese Erfindung! Man fühlt sich ja mächtig wie ein Zauberer der Vorzeit! Wir spannen unser magisches Pferd vor den Wagen und der Raum verschwindet; wir fliegen wie die Wolken im Sturm, wie der Zugvogel fliegt; unser wildes Pferd wiehert und schnaubt, der Dampf entsteigt seinen Nüstern. Schneller konnte Mephistopheles nicht mit Faust auf seinem Käppchen fliegen! Wir sind durch natürliche Mittel in unserer Zeit ebenso stark, als man im Mittelalter nur durch die Hilfe des Teufels sein konnte! Wir sind ihm durch unseren Verstand an die Seite gekommen, und ehe er es selber weiß, sind wir an ihm vorbei.
Hans Christian Andersen
Jetzt pfeift der Dampf und läßt im Sturm uns reisen;
Verwandelt ward die Zeit und wir mit ihr.
Emanuel Geibel
Wir fahren mit der Eisenbahn,
und wer fährt mit, und wer fährt mit?
Wir fahren mit der Eisenbahn,
und du fährst mit.
Scherl: Der Lehrter Bahnhof nach seiner Renovierung Berlin 1929
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Wenn einer fortgeht
Wenn einer fortgeht, gibt man sich die Hände,
Am Bahnhof lächelt man, so gut es geht.
Wie oft sind unsrer Sehnsucht Außenstände
Mit einem D-Zug schon davon geweht...
Wenn einer fortfährt, steht man zwischen Zügen,
Und drin sitzt der, um den sich alles dreht.
Man könnte dieses "alles" anders fügen.
Durch einen Blick, ein Wort vielleicht. – Zu spät.
Wenn einer fortfährt geht das Herz auf Reisen
Und treibt sich irgendwo allein herum
Es ist schon manchmal schwer, nicht zu entgleisen.
Die klügste Art zu reden bleibt doch: stumm.
Wenn einer fortgeht, kann man nichts vergessen.
Und jeder Tag ist ein Erinnerungsblatt.
Wenn einer fortgeht, braucht man nichts zu essen.
Man wird so leicht vom Tränenschlucken satt.
Wenn einer fort ist, gibt es Ansichtskarten
Und ab und zu mal einen dicken Brief.
Ein schweres Verbum ist das Wörtchen "warten"
Und "lebe wohl" ein Schluss – Imperativ...
Mascha Kaleko
Der Hauptbahnhof Berlin die Südseite
Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht
Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.
Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang,
Darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis
Von Kugellampen, Dächern, Schloten, dampfend, strömend ... nur sekundenweis
Und wieder alles schwarz. Als führen wir ins Eingeweid der
Nacht zur Schicht.
Nun taumeln Lichter her.. verirrt, trostlos vereinsamt..
mehr .. und sammeln sich.. und werden dicht.
Gerippe grauer Häuserfronten liegen bloß, im Zwielicht
bleichend, tot - etwas muß kommen.. o, ich fühl es
schwer
Im Hirn. Eine Beklemmung singt im Blut. Dann dröhnt der
Boden plötzlich wie ein Meer:
Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne
Luft, hoch übern Strom. O Biegung der Millionen
Lichter, stumme Wacht,
Vor deren blitzender Parade schwer die Wasser abwärts
rollen. Endloses Spalier, zum Gruß gestellt bei Nacht!
Wie Fackeln stürmend! Freudiges! Salut von Schiffen über
blauer See! Bestirntes Fest!
Wimmelnd, mit hellen Augen hingedrängt! Bis wo die Stadt
mit letzten Häusern ihren Gast entläßt.
Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille.
Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut
und Drang
Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust.
Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.
Ernst Stadler
Anders Reisen
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D-Zug
Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun.
Malaiengelb.
D-Zug Berlin-Trelleborg und die Ostseebäder.
Fleisch, das nackt ging.
Bis in den Mund gebräunt vom Meer.
Reif gesenkt, zu griechischem Glück.
In Sichel-Sehnsucht: wie weit der Sommer ist!
Vorletzter Tag des neunten Monats schon!
Stoppel und letzte Mandel lechzt in uns.
Entfaltungen, das Blut, die Müdigkeiten,
die Georginennähe macht uns wirr.
Männerbraun stürzt sich auf Frauenbraun:
Eine Frau ist etwas für eine Nacht.
Und wenn es schön war, noch für die nächste!
Oh! Und dann wieder dies Bei-sich-selbst-Sein!
Diese Stummheiten! Dies Getriebenwerden!
Eine Frau ist etwas mit Geruch.
Unsägliches! Stirb hin! Resede.
Darin ist Süden, Hirt und Meer.
An jedem Abhang lehnt ein Glück.
Frauenhellbraun taumelt an Männerdunkelbraun:
Halte mich! Du, ich falle!
Ich bin im Nacken so müde.
Oh, dieser fiebernde süße
letzte Geruch aus den Gärten.
Gottfried Benn
Das Eisenbahngleichnis
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.
Ein Nachbar schläft, ein anderer klagt,
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.
Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.
Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.
Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und niemand weiß, warum.
Die 1. Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.
Die Mehrheit sitzt auf Holz.
Wir reisen alle im gleichen Zug
zu Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.
Erich Kästner
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Für den Fall eines Streiks:
Ein Eisenbahner
Ich kann Eisenbahn-Zugführer werden;
nein, Lokomotivführer lieber!
Dann bin ich kleiner Menschenknirps
der größten Maschine über,
die tausend Pferdekraft stark ist.
Und tausend andre Menschen
regiert Ein Griff meiner Hand,
tagein tagaus, bei Nacht, bei Nebel,
im Sturm von Land zu Land;
Bahn frei! schreit meine Maschine.
Bahn frei - was schreit da wider?
im Dunkeln welch Gestampf?
Woher, wohin? Vorwärts, zurück?
Halt! bremsen! Gegendampf!
jetzt gilt's, Mensch: Einer für Alle!
Und fliegt der Kopf vom Kragen,
so stirbt sich's ohne Grämen;
dann braucht man sich doch wenigstens
des Lebens nicht zu schämen!
So denkt ein kleiner Held.
Richard Dehmel