Freitag, 18. Mai 2012

Dummheit


Zwei Dinge sind unendlich, 
das Universum und die menschliche Dummheit, 
aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher. 
Albert Einstein

William Hogarth. The Bench. Die Richter. c.1758

HYMNUS AN DIE DUMMHEIT
Dummheit, erhabene Göttin,
Unsere Patronin,
Die du auf goldenem Throne,
Auf niedriger Stirne die blitzende Krone,
Stumpfsinnig erhabenes Lächeln
Auf breitem, nichtssagendem Antlitz –
Königlich sitzest:
Siehe herab mit der Milde Miene
Auf deine treuen, dir nach-
Dummenden Kinder,
Verjage aus dem Land
Die Dichter und Künstler und Denker,
Unsere Verächter,
Vernichte die Bücher – Traumbuch und Rechenknecht,
Briefsteller und Lacherbsen verschonend,
Und wir bringen ein Eselchen dir,
Dein Lieblingstier,
Dein mildes, sanftes, ohrenaufsteigendes Lieblingstier.
Eine goldene Krippe dafür
Und ein purpurnes Laken von Disteln.

Peter Hille in "Peter Hille – der Bohemien von Schlachtensee"


DER DARWIN AWARD

   Im Geiste von Charles Darwin ehren die Darwin Awards Individuen, die unseren 
Gen-Pool schützen, indem sie das ultimate Opfer bringen, ihr eigenes Leben. Die Gewinner des Darwin Awards beseitigen sich selbst auf besonders 
 idiotische Art und Weise, und verbessern dadurch die Langzeit-Überlebenschance 
unserer Spezies.

Regeln:
Der Preisträger muss aus dem Genpool ausscheiden, also sterben oder unfruchtbar werden. Es muss eine außergewöhnlich dumme Fehleinschätzung der Situation
 vorliegen. Der Preisträger muss sein Ausscheiden selbst verschuldet haben.
Der Preisträger muss zurechnungsfähig sein, Jugendliche unter 16 Jahren sind ausgeschlossen. Das Ereignis muss nachweislich stattgefunden haben. 
Notwendigerweise muß der Preis posthum verliehen werden.
Eine kleine Auswahl, zitiert aus dem Spiegel:

Der Fall
  # des Ballaststoff-Fundamentalisten im Sinai, der aufgrund einer Dauer-Diät aus Bohnen, Zwiebeln und Kraut derart viel Darmgas emittierte, daß der Sauerstoffgehalt in seiner röhrenartigen Wohnhöhle unter die Lebensgrenze sank - "mors per flatum", Tod durch Abwind, konstatiert der Obduktionsbericht;

# des Hot-dog-Diebes in St. Louis, der sein Beutegut zu sichern suchte, indem er es in einem Stück hinunterschlang - er starb den Bolustod, wie Mediziner es nennen, wenn einer an seinem letzten Bissen erstickt;

# des Opernsängers im Halbschlaf, der sich statt des frühmorgens klingelnden
   Telefons seinen daneben liegenden Revolver vom Nachttisch griff - zu dem Knall
        hörten die Nachbarn einen Wehlaut, der an Cavaradossis Schmerzensschreie
 (Tosca 2. Akt) erinnerte, doch bis die Sanitäter kamen, war er schon verblutet;

  # des Freiers, dem im Bordell die Manneskraft versagte, woraufhin er sich an den wirklich scharfen Miezen von Philadelphia versuchte - dies zumindest vermutet
 die Polizei, da sich der Mann vor seinem Tod im Löwengehege des örtlichen Zoos vollständig entkleidet hatte.

# Sie und viele Hundert andere, die das Mißgeschick entseelte, sind Titelanwärter in einem Wettbewerb, an dem allenfalls pietätlose Gemüter mit einem Hang zum Makaberwitz Gefallen finden - wer sonst könnte sich über Schicksale wie das jenes diarrhöisch geplagten Botanikers amüsieren, der sich über ein kalifornisches Naturschutz-Kliff ökosauber ins Meer zu lösen versuchte und dabei seiner Notdurft hinterherfiel?

Gesonderte Erwähnung im Bereich der urinalen Elektrokution verdient der polnische Wilddieb, der einen Fischteich unter Strom gesetzt hatte und sodann Wasserdrang verspürte; man fand ihn neben seinem Bruder dümpelnd, der offenbar in den Teich  gelaufen war, um ihn zu retten - auch er ein, wenngleich nicht unbedingt
zwingender Kandidat für den Award, der naturgemäß postum vergeben wird.

    Einzige Ausnahme sind die - nicht mehr zur Weitergabe ihrer Gene befähigten und damit reglementgemäß zur Award-Teilnahme berechtigten - Opfer einer Auto- Emaskulation, wie der Mediziner die Selbstkastration beim Manne nennt.

Nominiert hatte ihn der operierende Arzt, dem der Patient mit einem
    ballonartig angeschwollenen Hodensack ohne Testikel überstellt worden war.
  Dafür steckten in dem Skrotum, wie das Röntgenbild deutlich zeigte, 80 Metallklammern. Erklärung: Bei der Autoerotik am Treibriemen einer Bandsäge
hatte sich der Mann den Hodensack aufgerissen und das nach Verlust seiner Hoden entleerte Skrotum mit einem Bürohefter zugetackert.

Absolute Favoriten auf den ersten Platz des Darwin Awards 1997 aber sind
   die beiden Heavy-Metal-Fans, die via Ladefläche ihres Pickup-Trucks über den 2,70 Meter hohen Zaun um das Open-air-Konzert der Band "Metallica" steigen wollten.

  Ohne zu bemerken, daß es auf der anderen Seite zwölf Meter hinunterging, stieg der erste des derbe angesoffenen Duos über den Zaun; daß er auf halbem Wege
 mit seiner Jacke in einem Baum hängenblieb, empfand er aber keineswegs als Glücksfügung, weshalb er sich mit seinem Messer freischnitt - so fiel er auch die restlichen acht Meter, mitten hinein in spitzes Astwerk, das ihn schwer verletzte.

Den Tod fanden schließlich beide - der eine im, der andere unter dem Truck,
  der durch den Zaun geflogen kam: Der Freund, der den Verletzten mit einem am Pickup befestigten Seil emporziehen wollte, hatte den Rückwärtsgang eingelegt.
 


 

Stoppt den Weißen Wumbaba?


Der unten folgende Text ist auf GoPetition / Change The World veröffentlicht worden und wird auch über facebook verbreitet und auch wenn dies politisch unkorrekt ist, ich begreife ihn nicht und will ihn auch nicht begreifen.
Worüber sprechen wir, wenn wir über Rassismus sprechen? Wo endet Humor, Witz und wo beginnt Verächtlichmachung? Ist Sprache noch möglich bei Ausschließung jeder möglichen oder imaginierten Verletzung?
Ich, als Jude, würde gern in einem Land leben, in dem ich auch einen Juden in aller Ruhe ein Arschloch nennen kann, wenn er denn einer ist. Und ich täte es nur, weil er ein Arschloch ist und nicht wegen seiner Herkunft.
Wenn Frauen für die gleiche Arbeit gleich bezahlt werden, lache ich noch lauter über gute Blondinenwitze, ich bin blond, wenn auch gefärbt.
Ich denke, wir beenden Unterdrückung nicht, indem wir Humor unterdrücken, oder Kunst Regeln auferlegen, sondern indem wir die gesellschaftlichen und ökonomischen Umstände verändern, die Unterdrückung ermöglichen.


Der Titel bezieht sich auf einen "Verhörer" beim Anhören des Gedichtes "Abendlied" von Matthias Claudius:
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Stoppt den Weißen Wumbaba
2004 veröffentlichte der Kunstmann Verlag das erste „Handbuch des Verhörens“ (Autor: Axel Hacke, Illustration: Michael Sowa) unter dem Titel "Der Weisse Neger Wumbaba". 2007 kam trotz der Proteste Schwarzer und Weißer Menschen gegen die unreflektierte Verwendung des N-Wortes und die Reproduktion rassistischer Stereotype der zweite Band  "Der Weisse Neger Wumbaba kehrt zurück" heraus.


Auf beiden Covern ist unter dem Titel das rassistische Bild eines „N’s“ zu sehen (inklusive Wulstlippen, Fettleibigkeit, Baströckchen, Knochen im Haar). Dieses basiert auf den kolonialistischen „Rassen“-Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt des Dritten Reiches. Das Stereotyp ist hier allerdings mit einer hellen Haut versehen worden. Die „witzige“ Text-Bild-Kombination beruht also auf der angeblichen Unvereinbarkeit von weißer Hautfarbe und den vermeintlichen physischen Attributen und Symbolen eines „typischen N’s“.


Die Bücher bestehen aus einer Sammlung von „Verhörern“. Unklar bleibt, warum ausgerechnet „Der Weiße Neger Wumbaba“ (ursprünglich „der weiße Nebel wunderbar“ aus „Der Mond ist aufgegangen“von Matthias Claudius als Coverbild und Titel herhalten muss, daher muss davon ausgegangen werden, dass es hierbei ausschließlich um einen reißerischen Aufhänger geht.


Das N-Wort ist eine Beleidigung, die für die Entmenschlichung, Misshandlung, Herabwürdigung und Diskriminierung Schwarzer Menschen steht. Es kann daher nicht zur Unterhaltung und Belustigung Weißer Menschen benutzt werden, egal ob damit Einzelne direkt, oder eine Gruppe indirekt benannt werden (wie im Falle des weißen N`s).


Rassismus ist ein Problem, mit dem sich viele people of color auf unterschiedlichen Ebenen täglich konfrontiert sehen. Das Aufbauen einer rassistischen Marke (Die „Wumbaba“-Figur ist inzwischen auch völlig kontextfrei als Schlüsselanhänger erhältlich) kann und darf nicht mit dem Hinweis auf den „harmlosen Inhalt“ des Buches oder gar künstlerische Freiheit gerechtfertigt werden. Rassismus ist niemals harmlos. Künstlerische Freiheit gilt es verantwortungsbewusst einzusetzen, sie endet da, wo sie andere Freiheiten einschränkt – in diesem Falle die Freiheit, in Öffentlichkeit und Unterhaltungsliteratur nicht mit rassistischer Sprache und entsprechendn Bildern konfrontiert zu werden. Rassistische, gewalttätige Begriffe gilt es zu kritisieren, nicht zu Marketingzwecken zu instrumentalisieren. Die mit Rassismus verbundene Entmenschlichung gilt es zu beenden, nicht zu reproduzieren.


Für 2008 ist nun auch noch ein dritter Band geplant: "Das Vermächtnis des Weißen Negers Wumbaba"...
Wir, die Unterzeichner, fordern den Kunstmann-Verlag daher auf, das dritte Buch mit einem Titel und einem Bild zu versehen, die ohne Rassismus auskommen. Wir fordern überdies eine öffentliche Stellungnahme und Entschuldigung für die Aufmachung der bereits erschienenen „Wumbaba“-Bände und die Einstellung der kommerziellen Nutzung und Vermarktung von rassistischen Bildern durch die Reproduktion der „Wumbaba-Figur.


Diese Petition wird unterstützt von:


der braune mob e.V.
media-watch - Schwarze Deutsche in Medien und
Öffentlichkeit
http://www.derbraunemob.de


ISD-Bund e.V. - Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
http://www.isdonline.de/


ADEFRA e.V. - Schwarze deutsche Frauen und Schwarze Frauen in Deutschland
http://www.adefra.de/


Brothers Keepers e.V.
http://www.brotherskeepers.de/

Art 5  Absatz 3 des Grundgesetzes

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Wiki sagt: Karikaturen von lateinisch carrus ‚Karren‘, also: Überladung, und italienisch caricare ‚überladen‘, ‚übertreiben‘, bedeutet die komisch überzeichnete Darstellung von Menschen oder gesellschaftlichen Zuständen, auch mit politischem bzw. propagandistischem Hintergrund.
Wiki sagt auch: Zensur (censura) ist ein restriktives Verfahren, um durch Massenmedien oder im persönlichen Informationsverkehr (etwa per Briefpost) vermittelte Inhalte zu kontrollieren, unerwünschte beziehungsweise Gesetzen zuwiderlaufende Inhalte zu unterdrücken und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass nur erwünschte Inhalte veröffentlicht oder ausgetauscht werden.

Donnerstag, 17. Mai 2012

Christi Himmelfahrt - Weg ist er!


Und da er solches gesagt, ward er aufgehoben zusehends, und eine Wolke nahm ihn auf vor 
ihren Augen weg. Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen 
bei ihnen zwei Männer in weißen Kleidern, welche auch sagten: Ihr Männer von Galiläa, 
was stehet ihr und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen 
gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.
Apostelgeschichte Kapitel 1


Hans Suess von Kulmbach, Himmelfahrt, circa 1513

Himmelfahrt, Bamberger Apokalypse (Ausschnitt)

Albrecht Dürer, Nürnberg, 1511, Holzschnitt

Antwerpener Schnitzaltar

Fußabdruck Christi nach Himmelfahrt

Himmelfahrts Füße "Statue" 
at Our Lady of Walsingham, England

Mittwoch, 16. Mai 2012

Nocheinmal Boris Mikhailov


Eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie

Boris Mikhailov
Time is out of joint - Photographien 1966 - 2011

Boris Mikhailov Rote Serie, 1968-75 © Boris Mikhailov
 
Zum Tode J.W. Stalins
Johannes R. Becher
Danksagung

Auszug: 

Neigt euch vor ihm in ewigem Gedenken!
O sag auch du, mein Deutschland, Stalin Dank.
Er kam, ein neues Leben dir zu schenken,
Als schon dein Land in blutgem Schutt versank.

Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken.
In jeder Stadt steht Stalins Monument.
Dort wird er sein, wo sich die Reben ranken,
Und dort in Kiel erkennt ihn ein Student.

Dort wird er sein, wo sich von ihm die Fluten
Des Rheins erzählen und der Kölner Dom.
Dort wird er sein in allem Schönen, Guten,
Auf jedem Berg, an jedem deutschen Strom,

Allüberall, wo wir zu denken lernen
Und wo man einen Lehrsatz streng beweist.
Vergleichen wir die Genien mit den Sternen,
So glänzt als hellster der, der Stalin heißt.

Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
Und winkt zu sich heran ein scheues Reh.

(Bitte nicht auf den Computer kotzen!) 

Boris Mikhailov Ohne Titel (51), aus der Serie Die Daemmerung, 1993, © Boris Mikhailov

Die zwei folgenden Bilder sind aus der, für mich, schönsten Serie, Salt Lake oder Salzsee. Mikhailov reiste 1986 zu einem See im Süden der Ukraine, der in den Zwanziger Jahren für die heilende Wirkung seines warmen, salzigen Wassers bekannt war. Nun war er umgeben von Fabriken und Lagerhäusern, riesige Abflußrohre leiten das Dreckwasser direkt in den See. Aber immer noch kommen die Menschen aus der Umgebung hierher zum Sonnenbaden, Schwimmen und Tratschen. Sie scheinen den Schmutz und die Häßlichkeit nicht zu bemerken, oder sind daran gewöhnt. Viele der Leute sind unglaublich dick.
Ich habe einen ähnlichen Ort, mit auch solch fetten Badenden, mal in den Südstaaten der USA erlebt. Ich bin auch rein ins Wasser, schlimmer als die Spree, in der ich als Kind heimlich geschwommen bin, am Mombijoupark mit wachem Blick für Grenzpatroullien, kann es nicht gewesen sein.

Aus der Serie Salzsee 1986 © Boris Mikhailov

Aus der Serie Salzsee 1986 © Boris Mikhailov

Tom Waits
Seeds on Hard Ground - Samen auf Hartem Grund
Auszug:

When I was born
 My folks wept at my beauty
I was the package that all
 Their good luck came in
 I was bright and shining, magnetic
And flaming
 Am I just something that got eaten
By the gods.

Als ich geboren wurde, 
Beweinten meine Leute meine Schönheit. 
Ich war das Päckchen, in dem all 
Ihr Glück steckte. 
Ich war hell und leuchtend, magnetisch 
Und flammend. 
Ich bin nur etwas, das gegessen wurde 
Von den Göttern.

wahrscheinlich aus der Serie "Case History" 1998/99 © Boris Mikhailov
(nicht Teil der Ausstellung)

noch ein Auszug:

Home is a place
to get a letter
if they can find you
I have heard
because you can't
send a letter
to a bird 



Dienstag, 15. Mai 2012

Oper im Kino - Romeo et Juliette


"Romeo et Juliette" von Hector Berlioz ist eine, wie der Komponist es nannte, dramatische Sinfonie, oder schöner klingend Symphonie, 1839 uraufgeführt, das Libretto schrieb Émile Deschamps. Die Komposition wurde durch ein Geldgeschenk von Paganini ermöglicht, 20.000 Franc für den Mann vor dem er niederkniete und ihn Beethovens Erben nannte.

Doch genug davon, das eigentlich Umwerfende des heutigen Abends war, dass ich im Kino "International" in Berlin die Liveübertragung einer Vorstellung der Pariser Nationaloper sehen konnte, dass heißt ich und die Besucher in noch 230 anderen Kinos weltweit. 
Der Kinovorhang öffnet sich und man sieht den Zuschauerraum des Opernhauses und genau wie hier im Kino füllen sich langsam die Reihen, ein bisschen Vorinformation, ein offensichtlich vorab aufgenommenes Interview mit Sasha Waltz, denn sie sitzt jetzt auch hier im Kino, und dann beginnt die Vorstellung. Im übrigen wurde in der Oper mehr gehustet, als bei mir im Kino.
Aber der technische Vorgang selbst hat mich sehr beeindruckt. Ist das toll, oder was? Zweimal gab es kleine technische Pannen, aber das hat nur die Spannung erhöht. Sicher manchmal hätte ich mir mehr Totalen gewünscht und du kannst halt nicht selbst den Blickkonzentrationspunkt wählen, aber das Livegefühl ist trotzdem da.
Die New Yorker Metropolitan Opera hat sich das wohl als erste ausgedacht, und so können Leute in Städten ohne Oper oder einfach weit weg für bezahlbare Kartenpreise große Inszenierungen sehen. Ich finde das großartig.
Applaudieren fühlt sich allerdings merkwürdig an, da die, für die man klatscht, einen ja nicht hören können, aber wir hatten ja Frau Waltz.

 Das ist der "echte" Balkon in Verona

 Und das die "echte" Julia ebenda

Zum Abend selbst: schön, für mich, ein wenig zu schön. Der Bürgerkrieg, der wie ein Schatten über oder unter dem Stück liegt, war kaum zu spüren, so wie auch die Extreme der Verzweiflung. Da blieb es halt ein bisschen kühl.
Viele Tänzer, ein riesiger Opernchor und drei Sänger in sehr formalen Kostümen in Schwarz und Weiß, die Bühne ebenso streng.
Über Romeo und Julia gibt es wohl nichts mehr Neues zu sagen, Liebe ist schön, Sterben ist traurig und wäre die Welt doch besser; aber das Pas de Deux der beiden Liebenden war hinreißend. Ein Tänzer ist hingefallen und die Synchronität des Corps de Ballet war nicht berauschend. Ein paar vom Chor haben in die Kamera geguckt.

Ein kleiner Ausschnitt mit Aurelie Dupont und Hervé Moreau
http://www.youtube.com/watch?v=g7sOPvILpuU

Ich ♥ Sprache - wendig und wendisch


Gestern habe ich Hausaufgaben gemacht mit meiner einzigen und Lieblingsnichte. Sie ist acht, geht in die zweite Klasse und sie ist schlau. 
Zuerst das kleine und große Einmaleins und Division oder Teilen. Kann ich noch, Gott sei Dank. Aber es wird nicht mehr lange gut gehen, sobald Integral- und Differentialrechnung auftauchen, wird sich das allwissende, alles könnende Lügenbild in armseligen Rauch auflösen.
Dann Deutsch. Das Substantiv heißt Dingwort, das Verb Tunwort (Und auch wenn es den Sinn treffen mag, nenne ich Tunwort ein Unwort.) und das gute alte Eigenschaftswort. Lieben ist demnach ein Tunwort, die Liebe ein Dingwort, liebevoll eine Eigenschaft.
Und auch wenn ich begreife, dass man Kindern die Unwägbarkeit und Grenzenlosigkeit von Sprache in verdaubaren Häppchen anbieten muß, tut mir solch pragmatischer Würgegriff doch weh. 
Als Nelly, die eben erwähnte Nichte, sprechen lernte, schmeckte sie Wörter wie unbekannte Nahrungsmittel. Dieses Wort probiere ich aus, wo und wie könnte es passen? Es 'helfte', es helfte sehr, wenn der Klang stimmte.

Zum Beispiel

Ein kleines Wort: wenden, von althochdeutsch wendten < anrühren, betasten, umwenden, umkehren, abwenden >, dies kleine Wort wendet sich wendig hier- und dorthin und wandelt, verwandelt sich. Die Wende, Wendeltreppe, Aufwand, Aufwendung, Wandel, aufwendig, gewandt, verwenden, wendig und auch wetterwendisch, was unbeständig, wankelmütig heißt. Oder stammt letzteres von wetterwindisch, wie sich die Wetterfahne nach den wechselnden Winden wendet?
Aufwendig, darf man jetzt übrigens auch als aufwändig schreiben, hergeleitet von Aufwand. Dann wäre belägt von Belag, frässen von Fraß, Kräbs von krabbeln doch auch möglich? Dänken von Gedanken oder denken von Gedenken, na Dankeschön. Ob das die alten Ältern noch begreifen? 'Wendungsfähigkeit' habe ich in einem Wörterbuch gefunden, die Fähigkeit, sich nach den jeweiligen Erfordernissen umzustellen.

Vorne, hinten, vorne, vorne © Lena Bindrum
Zweifel


Am Scheideweg der Worte muß man schwanken,
ob dies da besser oder jenes dort.
Denn der Gedanke hält nicht immer Wort,
jedoch das Wort hält mancherlei Gedanken.

Karl Kraus

ADELUNG

Wênden, verb. irregul. & regul. folglich sowohl Imperf. wandte als wendete, Particip. gewandt als gewendet. 

Es ist:
Ein Activum, und bedeutet, die horizontale Richtung eines Dinges ändern, besonders, wenn es durch Bewegung um einen gewissen Punct geschiehet.

   1. Überhaupt und eigentlich. Den Wagen wenden, seine horizontale Richtung verändern. Das Schiff wenden. Die Augen auf etwas wenden, sie von etwas wenden. Ingleichen als ein Reciprocum. Der Wind hat sich gewandt oder gewendet, hat seine Richtung verändert. Das Glück hat sich gewendet, verändert, begünstiget nunmehr einen andern. Der Elephant kann sich nicht wenden, ohne einen großen Umfang zu nehmen. Sich zu jemand wenden, eigentlich, seinen Körper gerade auf ihn zu richten, wenn man ihn z. B. anredet. Das Blatt wendet sich, figürlich, die Sache gewinnet eine andere Gestalt. Gott wende es zum Besten! er gebe der Sache einen guten Ausgang.
   2. In einigen engern und figürlichen Bedeutungen. (1) Für umwenden, nur in einigen Fällen. Das Getreide wenden, es umstechen. Den Braten wenden, ihn am Spieße umdrehen. (2) * Für abwenden; im Hochdeutschen veraltet. Ein Unglück wenden, abwenden. Gott wende es! verhüte es. Des Reichs Schaden wenden, in den Oberdeutschen Kanzelleyen. Wende Schaden und Verdruß, Canitz. (3) Ein Kleid wenden, die inwendige Seite des Oberzeuges auswärts bringen. Handschuhe, welche sich wenden lassen. (4) Den Rücken wenden, sich entfernen, gemeiniglich nur von kleinen Entfernungen. Kaum wandte ich den Rücken, so ging der Streit an. (5) Sein Gemüth auf etwas wenden, richten. Sein Herz zu jemand wenden, seine Neigung auf ihn richten. Sein Herz hat sich von mir gewandt, er ist mir abgeneigt geworden. (6) Sich an jemand wenden, etwas von ihm verlangen. Sich mit seiner Klage an den Richter, mit einer Bitte an seinen Freund wenden. (7) Eine Unterredung wenden, die Gegenstände derselben unvermerkt bestimmen. Sie hatte völlige Freyheit, die Unterredung so zu wenden, wie es ihr am besten gefiel. (8) Mit dem Nebenbegriffe der fortgesetzten Bewegung. Sich zur Rechten, zur Linken wenden, seine Richtung ändern, und rechts oder links gehen. Er weiß nicht, wohin er sich wenden soll, wohin er seinen Weg nehmen soll. (9) Fleiß auf etwas wenden, es zum Gegenstande seines Fleißes machen. Seine Zeit, seine Kräfte auf eine Sache wenden. Viel Geld auf etwas wenden. Er will nichts darauf wenden. Ist aber der Gegenstand des Aufwandes eine Person, so bekommt sie die Präposition an. Viel Geld an jemand wenden. Ich habe viel an dich gewandt, viel Geld. (10) Den Acker wenden, ein Feld wenden, in der Landwirthschaft, einen Acker zum zweyten Mahle pflügen, vermuthlich, weil alsdann die Oberfläche eigentlich umgewandt wird; zum Unterschiede von dem Brachen oder Stürzen, dem ersten Pflügen, und von dem Rühren, dem dritten Pflügen. In einigen Provinzen wird dieses zweyte Pflügen die Wendefahre, oder Wendefahrt genannt. (11) In Franken hat das Wort wenden noch eine andere Bedeutung, nähmlich einen Weinberg anlegen; vermuthlich auch, weil der Boden vorher umgewandt oder bearbeitet wird. Am Rheine heißt solches anrotten. Endlich (12) wird noch das Mittelwort gewandt in einer besondern Bedeutung gebraucht, indem es so viel ist, als erfahren, fähig, sich in alle Fälle zu schicken, eigentlich, fähig, sich nach Maßgebung der Umstände zu wenden. Ein gewandter Mann, ein erfahrner, geschickter Mann.

Sonntag, 13. Mai 2012

Marie Chouinard



Samstag, Marie Chouinards Company aus Kanada in Heilbronn zum Tanzfestival, bODY rEMIX/ gOLDBERG vARIATIONS. 
Perfekte Technik, unperfekte Körper, zu groß, zu dick, zu stämmig, tolle Bilder und fast, aber nur fast, der Absturz ins Kunstgewerbe. Verbiegungen, Verkrampfungen, Verstümmelungen auf der vergeblichen Suche nach der freien Bewegung im Raum. Je mehr Beschränkungen den Tänzern auferlegt werden, desto intensiver wird die Sehnsucht nach dem eigenen freien Atem. Der Hass des Tänzers auf den Spitzenschuh, hier trägt er diesen gelegentlich sogar an den Händen, stille zu stehen auf der Spitze ist unmöglich, also ist dauernde Anstrengung unvermeidlich. Nur so lange ich tanze, scheine ich zu fliegen, der Moment der Erschöpfung ist auch der Moment des Absturzes.
Ruckediguh, Blut ist im Schuh.



Wiki Sagt: Mit dem Spitzentanz wurde das scheinbare Überwinden der Schwerkraft dominierend in der europäischen Ballettgeschichte. Technische Schwierigkeiten sollten durch Beherrschung unsichtbar werden.

Die höchste, schmerzhafteste Anstrengung, um den Anschein von größter Leichtigkeit zu erwecken. Die Qual muß unbemerkt bleiben, unbedingt.

Lied der Rosetta

O meine müden Füße, ihr müßt tanzen,
In bunten Schuhen,
Und möchtet lieber tief
Im Boden ruhen.

O meine heißen Wangen, ihr müßt glühn,

In milden Kosen,
Und möchtet lieber blühn-
Zwei weiße Rosen.

O meine armen Augen, ihr müßt blitzen

Im Strahl der Kerzen,
Und schlieft im Dunkel lieber aus,
Von euren Schmerzen.

Georg Büchner

Vertonung von FM Einheit (Einstürzende Neubauten) für eine Inszenierung von Büchners "Leonce und Lena"


SCHREISSE! - König Ubu



»Die Antialkoholiker sind Kranke in den Klauen jenes Gifts, des Wassers, das derart ätzend und zersetzend ist, dass ein Tropfen genügt, um eine reine Flüssigkeit, wie den Absinth zum Beispiel, zu trüben.« Alfred Jarry


Joan Miro, Drawing for “Ubu Roi” 1953

Freitag in Ingolstadt "Ubu Roi" von Alfred Jarry und Simon Stephens, eine Koproduktion zwischen der freien Budapester Theatergruppe "KoMa" und den Ingolstädter Stadttheater. Als Ubu Roi 1896 Premiere hatte, begann das Gebrüll im Publikum schon nach dem ersten gesprochenen Wort: "Merdre!" oder "Schreiße!", an diesem Abend "Pscheiße!", knapp 120 Jahre später folgt ein leises fast zärtliches Kichern: Ja, damals, als das Wort noch ein schlimmes war! 
Die Ausstattung dieser ersten, und zu Jarrys Lebzeiten einzigen Aufführung mit menschlichen Spielern, alle anderen waren mit Marionetten, wurde übrigens von Toulouse-Lautrec und Pierre Bonnard gestaltet.
2012: Eine Stunde bis zur Pause: Clowns in Hochform, böse Clowns, clevere Clowns, brutale Clowns. Hier wird nicht begründet, hier wird gegiert, gehirnspinst und geschlachtet. Die Scham- und Gewissenslosigkeit mit der Ubu & Co ihre Gelüste ausleben, läßt unser Lachen etwas atemlos klingen. Ist da auch Neid, ob der eigenen Unfähigkeit sich einfach zu greifen, was man haben will. Ich meine, gut, dass es sie gibt, aber manchmal, nur manchmal...

Nach der Pause, die überdimensionalen Möbel des ersten Teils sind nun ganz klein geworden, die Kostüme ergraut, die Haare gekämmt, steht Papa Ubu vor dem Internationalen Gerichtshof, angeklagt vielfacher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seine ehemalige rechte Hand beruft sich auf Befehlsnotstand, Mama Ubu hat sich alles Geld unter den Nagel gerissen und will immer nur gewarnt haben, einzig der Handlanger, ein exzellenter Killer, benennt sachlich die ungeheuerlichen Untaten. Ubu selbst besteht auf Nichtanklagbarkeit, weil er König sei. Das würde schultheaterpädagogisch wirken, hätte man nicht die ganze Zeit die grellen, geilen Bilder des ersten Teiles vor Augen, auf die sich ja bezogen wird. Eine schlaue Kombination. Die ungarischen und deutschen Spieler radebrechen und sprachspielen sich durch Europas Sprachen und verstehen tut man alles.



Joan Miro, Drawing for “Ubu Roi” 1953 

"Du bist ein Former oder Macher eines Stückes. Stückemacher sollten sich nicht zu sehr um Sprache kümmern; es ist unsere Aufgabe Verhalten zu untersuchen. Du zeichnest das Verhalten der Charaktere, wie sie ihren Weg durchs Leben aushandeln, auf der Jagd nach dem was sie wünschen."
"You are a shaper or maker of a play. Playwrights shouldn’t get too concerned with language; it is our job to consider behaviour. You’re mapping the behaviour of characters as they try to negotiate their way through life, in pursuit of what they want." 
Simon Stephens
Joan Miro, Lithograph, Ubu Roi (King Ubu) from Suites pour Ubu Roi, 1966

Schreibübungen:

Nimm einen Küchenwecker, gib dir 10 Minuten und schreibe eine Liste von 20 Dingen, die Deine Figur haben will.
Schreibe in 10 Minuten eine Liste von 50 Dingen, an die sie sich erinnert.
Schließ deine Augen, gib dir eine Minute und zeichne mit geschlossenen Augen ein Bild deiner Figur. Mit geschlossenen Augen wirst du das Bild nicht sehen, aber die Form wird sich herauskristallisieren.
Gib dir 5 Minuten, um alles aufzulisten, was die Figur über sich weiß, das andere Leute wissen.
Gib dir 5 Minuten, um alles aufzulisten, was andere Leute über die Figur wissen, das die Figur selbst nicht weiß.
Dann gib dir 5 Minuten, um Dinge aufzulisten, die du über die Figur weißt, von denen weder die Figur noch jemand anders etwas weiß.


Get a kitchen timer, give yourself 10 minutes and in that time write a list of 20 things your character wants.
In 10 minutes write a list of 50 things they remember.
Close your eyes, give yourself a minute, and with your eyes closed draw a picture of your character. With your eyes closed, you won’t see the picture but it’ll crystallise the image of your character.
Give yourself five minutes to list everything the character knows about themselves that nobody else knows.
Give yourself five minutes to list everything the character knows about themselves that other people know.
Give yourself five minutes to list everything that other people know about the character but the character doesn’t know.
Then, give yourself five minutes to write a list of things you know about the character that neither the character nor anybody else knows.

Simon Stephens



Freitag, 11. Mai 2012

Spiegel - Ruth Orkin und Rainer Maria Rilke



(III) Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben...

Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben,
was ihr in euerem Wesen seid.
Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben
erfüllten Zwischenräume der Zeit.

Ihr, noch des leeren Saales Verschwender - ,
wenn es dämmert, wie Wälder weit ...
Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender
durch eure Unbetretbarkeit.

Manchmal seid ihr voll Malerei.
Einige scheinen in euch gegangen - ,
andere schicktet ihr scheu vorbei.

Aber die Schönste wird bleiben - , bis
drüben in ihre enthaltenen Wangen
eindrang der klare gelöste Narziß.

Rainer Maria Rilke, Gedichte an Orpheus

©Estate of Ruth Orkin

Dame vor dem Spiegel

Wie in einem Schlaftrunk Spezerein,
löst sie leise in dem flüssigklaren
Spiegel ihr ermüdetes Gebaren;
und sie tut ihr Lächeln ganz hinein.


Und sie wartet, daß die Flüssigkeit
davon steigt; dann gießt sie ihre Haare
in den Spiegel und, die wunderbare
Schulter hebend aus dem Abendkleid,


trinkt sie still aus ihrem Bild. Sie trinkt,
was ein Liebender im Taumel tränke,
prüfend, voller Mißtraun; und sie winkt


erst der Zofe, wenn sie auf dem Grunde
ihres Spiegels Lichter findet, Schränke
und das Trübe einer späten Stunde.


Rainer Maria Rilke, Neue Gedichte

Mittwoch, 9. Mai 2012

Zwei Friedhöfe in Berlin-Mitte


Friedhöfe sind gut zum Spazieren, besonders für Großstädter mit einem unterentwickelten Hang zur Natur. Man muß nirgendwo mit Hilfe des Nahverkehrs hinfahren, keine Badehose oder ähnliches einpacken und auch kein praktisches Schuhwerk anziehen. Das nächste Cafe ist nicht weit und man ist unter Leuten, nur dass die eben tot sind.
In welche Stadt ich auch komme, immer besuche ich auch ihre Friedhöfe. Ich war bei Marx und Jim Morrisson, bei Michail Bulgakow und auf dem herrlich gruseligen St. Louis Friedhof in New Orleans. Ein Freund hat mich vor Jahren auf den riesigen jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee geschleppt, inclusive über die Mauer klettern und von einem zauberhaften gesprächigen Totengräber wieder rausgelassen werden. Der jüdische Friedhof in Prag ist zum Weinen schön und in Neapel war ich in Katakomben voll theatralisch lebendigtoter Mumien. 

„Wenn ein Freund weggeht, muß man die Türe schließen, sonst wird es kalt.“ Bertolt Brecht

Merkwürdigerweise gehe ich selten an die Gräber der Menschen, die ich liebe und verloren habe. An die denke ich lieber ohne Grab.
Jetzt hat mich eine Freundin vor ein paar Tagen zum Besuch zweier sehr persönlicher Friedhöfe verführt, dem Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden und dem I. Französische Friedhof inmitten von Mitte, ganz dicht beieinander, nur durch eine Mauer (aber mit Durchgang) getrennt. Hier liegen einige mir nahe Menschen. Mein Vater. Und meine Großmutter, die ich sehr geliebt habe. Und der Klaus Piontek, ein guter, ein sehr guter Freund.

Ich will sterben, und ich hoffe
daß ich sterbe wie erhofft
nicht verwirrt und nicht besoffen
sterben mehrmals, oft und oft.

Meinetwegen auch mit Schmerzen
meinetwegen auch mit Wut
sterben nicht nur mit dem Herzen
sterben so, als sei es gut.

Ekkehard Schall
 
Und hier liegt eine riesige kunterbunte Gruppe deutscher Denker und Spinner und Künstler. Was muß das für eine geistvolle Geisterparty sein, so zwischen Mitternacht und die Minute danach
Anna Seghers tratscht mit Hermlin über die Situation des Schriftstellerverbandes und was der Hochhuth sich wohl gedacht hat. Da raucht Heiner Müller mit Hegel, Fichte und Marcuse. (Marcuse hat übrigens den guten Spruch: "weitermachen" auf seinem Grabstein!) Mein Mentor und erster Intendant Gerhard Wolfram, Langhoff, Devrient und Eysoldt und der gute alte Trinker Piet Dommisch streiten sich mit Eberhard Esche und Hacks über den Niedergang des Berliner Theaters. Und jetzt kann sich Ivan Nagel dazusetzen und Langhoff auch. Gosch ist ja wohl eher wortkarg. Hans-Peter Minetti muß sehen, wo er bleibt.
Die Bonhoeffers, Brecht, Bronnen und Eisler und Erich Engel und der wilde Geschonneck quatschen über was? - Da möchte ich gern zuhören. 
Oder bleiben die alten Feindseligkeiten bestehen? Bahro und Bohley noch unter Beobachtung von toten Stasileuten? Liest Jürgen Kuczynski noch jede Nacht die Börsenberichte? Bleiben Rauch, Schadow und Schinkel unter sich oder mischen sich alle Zeitalter? Posthume neue Freundschaften könnten entstehen. Und wird hier Theater gespielt? - Ein kleines edles Ensemble bekäme man zusammen. Iffland, Eysoldt, Devrient stoßen auf Schall, Weigel, Piontek und Franke.
Gibt es Bier für die berühmten Geister? Und für die anderen auch?
Denn das ist eines der schönen Dinge auf diesen Friedhöfen - hier liegen berühmt und unberühmt nebeneinander, friderizianisches und wilhelminisches Deutschland, DDR und alles dazwischen und danach auf wenigen hundert Quadratmetern zusammengedrängelt. Bombastische Grabmäler und Findlinge, immer wieder peinliche von Herzen kommende Sprüche und der quadratische kleine Klotz für den quadratisch kleinen Hanns Eisler. Leider hat Herr Litfaß keine seiner Säulen bekommen.



Wirklich und ohne Quatsch, auch ein Herr Piefke fand hier seine letzte Ruhestätte. Berlin lebe hoch!
Ich möchte übrigens verbrannt werden und mir ist schnurzpiepe was danach mit dem Rest passiert.

LVI.

     Ich hab’ im Traum’ geweinet,
Mir träumte du lägest im Grab’.
Ich wachte auf und die Thräne
Floß noch von der Wange herab.
     Ich hab’ im Traum’ geweinet,
Mir träumt’ du verließest mich.
Ich wachte auf, und ich weinte
Noch lange bitterlich.

     Ich hab’ im Traum’ geweinet,
Mir träumte du wärst mir noch gut.
Ich wachte auf, und noch immer
Strömt meine Thränenfluth.

Heinrich Heine
(Nein, der liegt nicht hier, würde aber gut hierher passen, oder?)

Wiki schreibt:
Der Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden (kurz: Dorotheenstädtischer Friedhof) liegt im Berliner Ortsteil Mitte. Er bedeckt eine Fläche von 17.000 Quadratmetern. Der Zugang befindet sich in der Chausseestraße Nr. 126. Zahlreiche bedeutende und prominente Persönlichkeiten haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Durch die Gestaltung ihrer Grabmäler ist der Friedhof auch ein wichtiges Zeugnis für die Berliner Bildhauerkunst, besonders des 19. Jahrhunderts. Die Anlage steht vollständig unter Denkmalschutz.
Der I. Französische Friedhof in der Oranienburger Vorstadt von Berlin ist ein kunsthistorisches Denkmal in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden. Der Französische Friedhof bildet gemeinsam mit dem benachbarten Dorotheenstädtisch-Friedrichswerderschen Friedhof das bedeutendste erhaltene und noch genutzte Friedhofsensemble Berlins aus dem 18. Jahrhundert. Auf dem Friedhof sind Beispiele klassizistischer Grabmalkunst des 19. Jahrhunderts zu finden.