Gestern habe ich Hausaufgaben gemacht mit meiner einzigen und Lieblingsnichte. Sie ist acht, geht in die zweite Klasse und sie ist schlau.
Zuerst das kleine und große Einmaleins und Division oder Teilen. Kann ich noch, Gott sei Dank. Aber es wird nicht mehr lange gut gehen, sobald Integral- und Differentialrechnung auftauchen, wird sich das allwissende, alles könnende Lügenbild in armseligen Rauch auflösen.
Dann Deutsch. Das Substantiv heißt Dingwort, das Verb Tunwort (Und auch wenn es den Sinn treffen mag, nenne ich Tunwort ein Unwort.) und das gute alte Eigenschaftswort. Lieben ist demnach ein Tunwort, die Liebe ein Dingwort, liebevoll eine Eigenschaft.
Und auch wenn ich begreife, dass man Kindern die Unwägbarkeit und Grenzenlosigkeit von Sprache in verdaubaren Häppchen anbieten muß, tut mir solch pragmatischer Würgegriff doch weh.
Als Nelly, die eben erwähnte Nichte, sprechen lernte, schmeckte sie Wörter wie unbekannte Nahrungsmittel. Dieses Wort probiere ich aus, wo und wie könnte es passen? Es 'helfte', es helfte sehr, wenn der Klang stimmte.
Zum Beispiel
Ein kleines Wort: wenden, von althochdeutsch wendten < anrühren, betasten, umwenden, umkehren,
abwenden >, dies kleine Wort wendet sich wendig hier- und dorthin und wandelt, verwandelt sich. Die Wende, Wendeltreppe, Aufwand, Aufwendung, Wandel, aufwendig, gewandt, verwenden, wendig und auch wetterwendisch, was unbeständig, wankelmütig heißt. Oder stammt letzteres von wetterwindisch, wie sich die Wetterfahne nach den wechselnden Winden wendet?
Aufwendig, darf man jetzt übrigens auch als aufwändig schreiben, hergeleitet von Aufwand. Dann wäre belägt von Belag, frässen von Fraß, Kräbs von krabbeln doch auch möglich? Dänken von Gedanken oder denken von Gedenken, na Dankeschön. Ob das die alten Ältern noch begreifen? 'Wendungsfähigkeit' habe ich in einem Wörterbuch gefunden, die Fähigkeit, sich nach den jeweiligen Erfordernissen umzustellen.
Vorne, hinten, vorne, vorne © Lena Bindrum |
Zweifel
Am Scheideweg der Worte muß man schwanken,
ob dies da besser oder jenes dort.
Denn der Gedanke hält nicht immer Wort,
jedoch das Wort hält mancherlei Gedanken.
Am Scheideweg der Worte muß man schwanken,
ob dies da besser oder jenes dort.
Denn der Gedanke hält nicht immer Wort,
jedoch das Wort hält mancherlei Gedanken.
Karl Kraus
ADELUNG
Wênden, verb. irregul. & regul. folglich sowohl Imperf. wandte als wendete, Particip. gewandt als gewendet.
Es ist:
Ein Activum, und bedeutet, die horizontale Richtung eines Dinges
ändern, besonders, wenn es durch Bewegung um einen gewissen Punct
geschiehet.
1.
Überhaupt und eigentlich. Den Wagen wenden, seine horizontale Richtung
verändern. Das Schiff wenden. Die Augen auf etwas wenden, sie von etwas
wenden. Ingleichen als ein Reciprocum. Der Wind hat sich gewandt oder
gewendet, hat seine Richtung verändert. Das Glück hat sich gewendet,
verändert, begünstiget nunmehr einen andern. Der Elephant kann sich
nicht wenden, ohne einen großen Umfang zu nehmen. Sich zu jemand wenden,
eigentlich, seinen Körper gerade auf ihn zu richten, wenn man ihn z. B.
anredet. Das Blatt wendet sich, figürlich, die Sache gewinnet eine
andere Gestalt. Gott wende es zum Besten! er gebe der Sache einen guten
Ausgang.
2.
In einigen engern und figürlichen Bedeutungen. (1) Für umwenden, nur in
einigen Fällen. Das Getreide wenden, es umstechen. Den Braten wenden,
ihn am Spieße umdrehen. (2) * Für abwenden; im Hochdeutschen veraltet.
Ein Unglück wenden, abwenden. Gott wende es! verhüte es. Des Reichs
Schaden wenden, in den Oberdeutschen Kanzelleyen. Wende Schaden und
Verdruß, Canitz. (3) Ein Kleid wenden, die inwendige Seite des
Oberzeuges auswärts bringen. Handschuhe, welche sich wenden lassen. (4)
Den Rücken wenden, sich entfernen, gemeiniglich nur von kleinen
Entfernungen. Kaum wandte ich den Rücken, so ging der Streit an. (5)
Sein Gemüth auf etwas wenden, richten. Sein Herz zu jemand wenden, seine
Neigung auf ihn richten. Sein Herz hat sich von mir gewandt, er ist mir
abgeneigt geworden. (6) Sich an jemand wenden, etwas von ihm verlangen.
Sich mit seiner Klage an den Richter, mit einer Bitte an seinen Freund
wenden. (7) Eine Unterredung wenden, die Gegenstände derselben
unvermerkt bestimmen. Sie hatte völlige Freyheit, die Unterredung so zu
wenden, wie es ihr am besten gefiel. (8) Mit dem Nebenbegriffe der
fortgesetzten Bewegung. Sich zur Rechten, zur Linken wenden, seine
Richtung ändern, und rechts oder links gehen. Er weiß nicht, wohin er
sich wenden soll, wohin er seinen Weg nehmen soll. (9) Fleiß auf etwas
wenden, es zum Gegenstande seines Fleißes machen. Seine Zeit, seine
Kräfte auf eine Sache wenden. Viel Geld auf etwas wenden. Er will nichts
darauf wenden. Ist aber der Gegenstand des Aufwandes eine Person, so
bekommt sie die Präposition an. Viel Geld an jemand wenden. Ich habe
viel an dich gewandt, viel Geld. (10) Den Acker wenden, ein Feld wenden,
in der Landwirthschaft, einen Acker zum zweyten Mahle pflügen,
vermuthlich, weil alsdann die Oberfläche eigentlich umgewandt wird; zum
Unterschiede von dem Brachen oder Stürzen, dem ersten Pflügen, und von
dem Rühren, dem dritten Pflügen. In einigen Provinzen wird dieses zweyte
Pflügen die Wendefahre, oder Wendefahrt genannt. (11) In Franken hat
das Wort wenden noch eine andere Bedeutung, nähmlich einen Weinberg
anlegen; vermuthlich auch, weil der Boden vorher umgewandt oder
bearbeitet wird. Am Rheine heißt solches anrotten. Endlich (12) wird
noch das Mittelwort gewandt in einer besondern Bedeutung gebraucht,
indem es so viel ist, als erfahren, fähig, sich in alle Fälle zu schicken, eigentlich, fähig, sich nach Maßgebung der Umstände zu
wenden. Ein gewandter Mann, ein erfahrner, geschickter Mann.
Dass habe ich jetzt in- und auswendig gelernt!
AntwortenLöschenDas Heimtückische, oder auch Spannende, ist aber, dass Herleitungen häufig nur scheibar zutreffen. Dann wird an so einem armen Wörtlein herumgedrechselt, bis es sich selbst nicht mehr erkennt.
AntwortenLöschenKindersprache ist schlüssig. Geaufte Schranke und geabte, sagte meiner. Oder von schöner naiver direkter Poesie. Als er das Eigelb vom Spiegelei mit der Gabel perforiert hatte: Jetzt ist das Ei geschmolzen.
Dann braucht es zwanzig Jahre, bis in Liebesgedichten die Wörter schmelzen, zerfließen, zerlaufen, verrinnen als Synonyme neuententdeckt werden. Dabei war alles schon mal da, mit vier Jahren.
Grammatik ist eine Pest... ich kann zwei Sprachen... die eine ist meine Muttersprache, die andere habe ich mit Hilfe von Countrymusik und den nicht synchronisierten amerikanischen TV-Serien im niederländischen Fernsehen gelernt... beide beherrsche ich gar nicht mal so übel, aber von keiner kann ich erklären wieso ich sie benutze, wie ich es tue. Englisch hätte mich fast mal ein Schuljahr gekostet... eben weil ich nicht erklären kann wie es funktioniert und es auch gar nicht will.
AntwortenLöschenDas Wort "Sprachgefühl" gibt es doch nicht grundlos. Meine Mutter hat Spanisch im Land gelernt, vorher konnte sie keine zwei Sätze... das ist rund 45 Jahre her und sie kann es immer noch muttersprachlich... ohne jemals ein Grammatikbuch dafür gehabt zu haben. Sprache ist wie arbeiten mit Ton, ein Töpferkurs. Erst manscht man ein bißchen damit rum, spielerisch und eigenartig, dann formt man kleine Rollen und macht seltsam schiefe Becher draus, irgendwann läuft's dann rund, dann hat man eine Töpferscheibe - und schließlich kann man ein Kaffeegedeck herstellen, schneller als man Kaffee kochen könnte... brauch' ich dafür ein Bastelbuch?
Grammatik ist das, was man irgendwann richtig macht weil es sich richtig anhört... meiner Meinung beharren Schulen darauf, weil sie nicht die Freiheit und das Volumen anbieten wollen mit Sprache rumzumanschen bis man Spaß an ihrem Gebrauch hat.
Widerspruch: ich liebe Grammatik, man kann sie benutzen wie Bauklötze, Türme bauen oder Brücken. Man begreift durch sie Muster und Verwandtschaften zwischen Sprachen oder auch Fremdheiten.
AntwortenLöschenDas muß ja nicht am Rummanschen hindern, aber Bauanleitungen können auch sexy sein.
Grammatik ist die Gräte, die Gräten, in schönen Fischen.
AntwortenLöschenOhne unser Knochensystem wären wir ein weicher Klumpen. Unfähig. Genau wie ohne Muskeln (und Fett, Hirn usw.). Zu spüren, aber auch aufzuspüren und auch zu wissen, wie die Systeme verwoben sind, kann die physischen Möglichkeiten und auch den Genuss an seinem Funktionieren erweitern. Und auch mündiger machen, sich mit dem Körper schauspielerisch auszudrücken.