Montag, 20. Februar 2012

Am Ende der Vorstellung


Margarita Broich photographierte Schauspieler direkt nach dem Ende der Vorstellung.

Ben Becker, Jedermann, Salzburger Festspiele, 17.8.2010
© Margarita Broich
Kate Winslet © Margarita Broich

Klaus Maria Brandauer © Margarita Broich
Sophie von Kessel © Margarita Broich
 Im Alexander Verlag Berlin erschien der Ausstellungskatalog: "Wenn der Vorhang fällt".

Noch 30 Minuten bis zum Beginn der Vorstellung


Simon Annand hat Schauspieler photographiert - 30 Minuten vor Beginn der Vorstellung, im Englischen  "the half". 

Daniel Craig © Simon Annand

Kristin Scott-Thomas © Simon Annand

Kate Blanchett © Simon Annand

Tilda Swinton © Simon Annand
Die Ausstellung "Simon Annand - The Half" läuft vom 24.2. bis zum 8.4.2012 in der Idea Generation Gallery in London.

Sonntag, 19. Februar 2012

Langhoff, Thomas


Nun ist er gestorben. Im Oktober habe ich ihn noch einmal getroffen, da war er schon ganz zart, ganz schmal. Es war der 75. Geburtstag meiner (zumindest in meinem Herzen) Theatermutter, Gudrun Ritter und es waren viele da, die ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte und die mein Theaterwesen in unterschiedlichster Weise geprägt haben. Und viele waren nicht da, oder nur noch in den Erinnerungen der Anwesenden. Jetzt hat dieses Erinnerungsland einen weiteren Bewohner bekommen. Ganz schön voll da, mittlerweile.

Thomas Langhoff

In "Ein Monat auf dem Lande", habe ich das erste Mal bei ihm gespielt, die Rolle war winzig, das Dienstmädchen, d.h. viel hinter der Bühne sitzen und auf die nächste Mini-Szene warten. Ich langweilte mich! Da hab' ich mir merkwürdige  stumme Auftritte ausgedacht und ihn gefragt, ob er einverstanden wäre, wenn ich immer mal zwischendurch käme, eine muß ja arbeiten, während die Herrschaft liebt und leidet. Er war einverstanden und hat mich dann mit charmanter Bestimmtheit verteidigt, wenn Kollegen irritiert reagierten, wenn ich plötzlich durch ihre Szenen wanderte. Es wurde, klein wie sie war, eine meiner Lieblingsrollen. Danke. Auch dafür und für vieles andere! Schalom!

Wenn am Deutschen Theater ein Kollege gestorben war, wurde bei der Trauerfeier oft ein wundersames Lied aus einem der DT Liederabende eingespielt: Dieter Franke singt den "Bauernhimmel".

DER BAUERNHIMMEL

Hopsa, hopsa, rüber und nüber.
Gib mir ein Kuss, ich geb ihn dir wieder. Hopsasa !


Wenn wir in den Himmel kommen,
hat die Plag’ ein End’ genommen. Hopsasa !


Fressen werden wir wie Fürsten, 
Sauerkraut und Leberwürsten. Hopsasa ! 

Wein werden wir wie Wasser schöpfen, 
saufen aus den gold’nen Töpfen. Hopsasa !

Keine Flöhe, keine Wanzen,
werden uns auf dem Rumpfe tanzen. Hopsasa !


Wenn der Dudelsack wird brummen, 
fängt die Menge an zu summen. Hopsasa ! 

Kirmes ist dort alle Tage, 
keiner hat dort was zu sage’. Hopsasa ! 

Alles lebt dort ohne Sorgen,
keine Arbeit früh am Morgen. Hopsasa !


Wir werden alle schreien und singen, 
und mit unseren Füßen springen. Hopsasa !

Äpfel, Birnen, Kirsche, Pflaume 
wachsen dort an jedem Zaune. Hopsasa !

Jacken werden wir neue kriegen 
unter Daunendecken liegen. Hopsasa ! 

Da ist kein Amtsmann und kein Schinder, 
kein Soldat und auch kein Sünder. Hopsasa ! 

Und hier noch eine längere Variante:

Wenn wir werd´n in´n Himmel kommen,
Hat die Plag ein End genommen. Hopsasa!


Da ist kein Amtmann und kein Schinder
Kein Soldate und kein Sünder.


Da ist kein Prügel, Stock noch Klause
Jeder wohnt im goldnen Hause


Vor'm Landrat könn'n wir alles machen
Und ihm ins Gesichte lachen


Von der Robot wird nicht gesprochen
Da käm einer angestochen!


Wir ziehen auch nicht mehr zu Hofe
Jeder lebt dort wie ein Grofe (Graf).

Dort gibt's nicht Steuern noch Abgaben
Wir brauchen nur die Heilgen loben


Für die reichen Pfaffenhände
Hat der Dezem (Zehnte) auch ein Ende.


Und die bösen Kapläne
Fressen die verreckten Hähne.


Die Müller kriegen nichts zu klappern
Müssen selber Wasser schlappern.


Soldaten dürfen auch nicht kommen
Der Säbel ist ihn'n weggenommen.


Um die grämlichen Gendarmen
Dürf wir uns auch gar nicht harmen.


's hat uns niemand zu befahla, 
Vor jedem könn'n wir 'n Hut uf hala (aufbehalten).

Kein Studente darf uns foppen
Kriegen selber Prügelsuppen.


's gibt auch keine hohe Schule
Jeder sitzt aufm grossen Stuhle.


Dort sind alle grossen Herren,
Die sich nach Gefallen sperren (groß tun)


In dem Himmel ist ein Leben,
Nischt zu fressen als Kuchen und Bäben (Napfkuchen).


Da essen wir lauter gelbe Suppe
Aus dem grossen Ofentuppe (-topf)


Lauter Braten wern wir essen
Und das Geld mit Vierteln messen


Leberwürste, Zwiebelfische
Hat man täglich auf dem Tische


Honigschnitten, dass sie klecken (tropfen)
Dass man möcht' die Finger lecken.


Fressen wern wir, bis wir rülpsen,
Nichts von Erbsen, nichts von Pilzen


Fressen wern wir wie die Fürste
Sauerkraut und Leberwürste


Wenn's nun wird zum Saufen kummen
Da da wern die Bäuche brummen!


Wein wern wir wie Wasser schöpfen
Saufen aus den gold'nen Töpfen.


's Doppelbier wird niemals sauer
Denn dort sein die besten Brauer.


Knastertabak könn'n wir rauchen,
Trotz wie hier die Grossen schmauchen


Wie wern unsre Weiber plappern,
Weil's stets Kaffee gibt zu schlappern


Hab'n wir uns nun satt gesoffen,
Gehn wir in die Wolken schloffen


Keine Flöh und keine Wanzen
Wern uns auf dem Rumpfe tanzen


Sonntags trägt man gelbe Hosen
Und im Kretscham (Gasthof) wird geblosen


Und der Pfeifer wird eins machen,
Dass man sich wird schacklich lachen


Wenn der Dudelsack wird brummen
und die grosse Borber (Baßgeige) summen


Alle wem wir schrei'n und singen
Und mit gleichen Füssen springen (tanzen).


Kirmes ist dort alle Tage,
Keiner hat dort was zu sagen.


Alles lebt dort ohne Sorgen
Feierabend ist früh morgen.


Da werd'n wir um die Wette schnarchen
Keiner wird auf den Seiger (Wanduhr) horchen.


Kurz, ich freu mich auf den Himmel
Wie auf's Futter Nachbars Schimmel


Ist das nicht ein hübsches Leben?
Wenns doch Gott bald wollte geben


Drum lasst uns die Gebote hala (halten)
Dass wir's Türchen nicht verfahla (verfehlen)
Hoffmann - Richter,  Schles. Nr. 296 S. 313ff. (hier in Übertragung aus der Mundart).  Hoffmann von Fallersleben hat diese Fassung aus den ihm vorliegenden Aufzeichnungen zusammengestellt und dabei die anklägerischen Strophen, die in fast allen älteren Fassungen unmittelbar auf Strophe eins folgen, nach Str. 23 gerückt. Ich habe es für richtig gehalten, in dieser durch die Übertragung in die Schriftsprache repräsentativen Fassung die echte Anordnung wiederherzustellen. Die Ziffern in Klammern bezeichnen dabei die Strophennummer bei Hoffmann - Richter ( Steinitz S. 71f)   

Samstag, 18. Februar 2012

Irgendwann ist es dann nicht mehr kalt



PRIMAVERA - FRÜHLING

Sandro Botticelli um 1482

... während sie sprach, hauchte sie Frühlingsrosen aus ihrem Munde: Chloris war ich, jetzt werde ich Flora genannt. ..  Es war Frühling, ich irrte umher; Zephyrus erblickte mich, ich zog mich zurück. Er folgte, ich floh, aber er war stärker. Dennoch er leistete Widergutmachung für die Gewalt dadurch, dass er mir den Namen Braut gab, und in meinem Ehebett gibt es keinen Grund zur Klage. Es ist immer Frühling ...
Ovid Fasti/Festkalender 5 

Chloris erobert von Zephyr, dem Westwind, wird zu Flora.

Flora

Im Bild findet man mehr als 500 verschiedene Pflanzen, davon 190 Blumenarten.  
Botticelli (2002)

Chloris

Eine der Grazien

„Das folgende ist die Andeutung einer Deutung: Von rechts naht sich Zephir, der Wind, und verströmt den göttlichen Atem; dabei umarmt er die Nymphe Chloris und erfüllt sie mit Geist im Bild einer Begattungsvorstellung. Chloris verwandelt sich durch die Umarmung und wird zur nächsten Figur: Flora. Diese verweist auf die zentrale Figur, die dem Bild den Namen gegeben hat: Primavera. Das alles ist auch ein Bild der Liebe. Mit Leidenschaft wendet sich der Himmel der Erde zu und verwandelt sie durch den Frühling. Dem gegenüber steht auf der linken Seite des Bildes Merkur, der Mittler zwischen Himmel und Erde, und wendet sich wieder dem Himmel zu. Er repräsentiert den Wiederaufstieg des Geistes. Zwischen ihm und der zentralen Figur der Primavera stehen die drei Grazien, die als Venus, Juno und Athene die Schönheit, Eintracht und Weisheit darstellen. Sie haben ihre Hände so verschränkt, dass sie mal oben über den Köpfen schweben und mal unten auf Schenkelhöhe. Vermittelt werden sie von den mittleren, die genau auf Augenhöhe sind. Zusammen symbolisieren sie damit noch einmal den Weg des Geistes. Das ist der platonische Kreislauf der Ausgießung des Geistes und seiner Rückkehr zum Himmel in Form einer kosmologischen Erotik. Und man sieht, dass die Bilder der Renaissance nur zu verstehen sind, wenn man die griechische Mythologie, die Philosophie und selbstverständlich das Personal der Liebe kennt.“ 
Dietrich Schwanitz Alles was man wissen muß"

Venus oder Der Frühling

Merkur

Frank Zöllner - Sandro Botticelli, Bilder des Frühlings und der Liebe: Die mythologischen Gemälde 

 

Freitag, 17. Februar 2012

Jean-Baptiste Poquelin starb vor 339 Jahren

Vermutlich am 14. Januar 1622 in Paris geboren, starb Herr Poquelin, und das ist gesichert, am 17. Januar 1673 ebenda. Es war kalt am Beginn und am Ende.

In den 51 Jahren dazwischen, hat er mit 10 die Mutter verloren, die Stiefmutter mit 15, ist mit seiner Großmutter oft ins Theater gegangen, hat eine Jesuitenschule besucht, bei seinem Vater eine Tapissierlehre gemacht, Jura studiert, wurde wegen Schulden ins Gefängnis geworfen, wo er sich möglicherweise die Lungen-Tuberkulose holte, die ihn später töten würde, hat ein Theater eröffnet, das nach nur zwei Jahren pleite ging, eine fahrende Truppe gegründet, ist 13 Jahre durch die Provinz getourt, um dann nach Paris zurückzukehren und  Direktor der "Truppe des Königs" zu werden. Ach ja, er hat auch noch jede Menge Stücke geschrieben und fast täglich selbst als Schauspieler auf der Bühne gestanden. Und er hatte Frauengeschichten, wild und kompliziert.


Am 17.2. 1673 in der 4. Vorstellung seines letzten Stückes bricht er hustend und blutwürgend zusammen, spielte aber trotzdem zu Ende, bricht wieder zusammen, wird nach Hause geschafft und stirbt wenige Stunden später, ohne die letzte Ölung erhalten zu haben. Zwei Priester wollten nicht kommen, der dritte kam zu spät. Das Stück hieß "Le Malade Imaginaire" oder "Der Eingebildete Kranke".

Fastfood



Natürlich habe ich guten Geschmack. Jede Menge davon. Ich bin, immerhin, Künstlerin oder zumindest etwas, dass gemeinhin so genannt wird. Ich esse gerne gut, lese gute Bücher, höre gute Musik. Ich sehe sogar gute Filme - solche nahezu ohne Handlung, voller assoziativer Impressionen und auch die mit gemurmelten Dialogen und monumentalen beredten Pausen, am liebsten in Überlänge. 

Fertiggerichte sind mir ein Gräuel, Kunstseide und Lycra ebenso, Blasmusik, Schlager und Michael Buble auch und ich verabscheue Realityshows, Talentwettbewerbe (außer "The Voice") und Hausfrauentausche. Nicht zu vergessen Volksmusik, Karneval, Massenchöre und niedliche Wunderkinder. Blümchentapeten, Urlaubserinnerungsnippes und Makramee-Arbeiten inklusive.

Aber ich bin auch stolzer Besitzer eines phänomenal guten schlechten Geschmackes, der mich auf längeren Autobahnreisen unaufhaltsam gen MacDonalds führt, mich zwingt auch beim zweitausendsten Replay von "I will Survive" wild hüftschwenkend mitzusingen, blutrünstige Thriller und kitschige Musicals verschlingt und hier öffentlich verkündet, dass der OSCAR für den besten Film in diesem Jahr an "Planet der Affen - Revolution" gehen sollte!  

Ich liebe meinen schlechten Geschmack mit der bedingungslosen, urteilsfreien Liebe, mit der eine Mutter ihr misslungenes, nicht hübsches, unbegabtes und wunderbares Kind liebt. Er vervollständigt mich. Er erst ermöglicht meinen guten Geschmack. Erst nach einer Riesentüte Chips, weiß ich wirklich wie herrlich Sushi schmeckt. 3 x "Pretty Woman" machen mich gierig auf Pasolini, Wong Kar Wai und Konsorten. Sechs Serienmörder und Kleist ruft dringlich. Ich weine, wenn Billy Joel "Leningrad" singt (jedesmal) und danke Mozart für sein Requiem.

Menschen mit ausschließlich gutem Geschmack beängstigen mich. Da ist etwas faul. Wenn Genuss eine Leistung wird, etwas beweisen muß, ist Kunst Heiligtum anstatt Lotterpfuhl. 

Es lebe der "schlechte" Geschmack", die heimlichen Vergnügungen, die sündlose Sünde, die Lust am Zuviel!

Ein paar Tipps für Furchtlose:

"Jene Jahre in Hollywood" oder "The Way We Were", Robert Redford und Barbra Streisand als sie noch unschuldig waren. Taschentuch nötig.

Windbeutel mit Schlagsahne und Schokoladensauce, mindestens ein Liter Sahne ist nötig!

Alle Bücher von Nick Hornby und Elizabeth George.

Johnny Depp in jedweder Inkarnation.

Je nach Laune: "The Notebook" ( "Wie ein einziger Tag"); mayonnaisegetränkter Fleischsalat, Grey's Anatomy, die Gala beim Zahnarzt und auch selbstgekauft, Angelina und ihre ungewöhnlich zahlreichen Kinder, Discosongs, alles was rot ist, kleine Hunde.



Mittwoch, 15. Februar 2012

Joseph Brodsky und John Donne




"ES GIBT KEINE LIEBE OHNE ERINNERUNG;

keine Erinnerung ohne Kultur, keine Kultur ohne Liebe. Deshalb ist jedes Gedicht ein Faktum der Kultur wie ein Akt der Liebe und ein Blitzlicht der Erinnerung, und ich würde anfügen – des Glaubens.“  

Joseph Brodsky, "Beyond Consolation" The New York Review of Books,
7. Februar 1974


JOSEPH BRODSKY

GROSSE ELEGIE AN JOHN DONNE

John Donne schlief ein. Alles ringsum schlief ein.
Wand, Boden, Bettzeug, Bilder schliefen ein,
Tisch, Teppich, Riegel, Haken schliefen ein,
die ganze Garderobe, Anrichte, Gardinen, Kerzen.
Alles schlief ein. Glas, Flasche, Schüsseln,
Brot, Brotmesser, Keramik, Porzellan, Geschirr,
Uhr, Schränke, Wäsche, Fensterscheiben, Lampe,
die Treppenstufen, Türe. Überall ist Nacht…
… Wild, Vögel schlafen, tote Welt, das Leben.
Nur weißer Schnee fällt aus dem Nachtgewölbe.
Selbst dort wird jetzt geschlafen, über allen Köpfen.
Die Engel schliefen ein. Die Heiligen vergaßen
die angsterfüllte Welt – zu ihrer heilgen Schande…
… John Donne schlief ein. Es schlafen die Gedichte,
und alle Bilder, Rhythmen, starke, schwache,
sind unauffindbar. Laster, Sehnsucht, Sünden,
sie ruhen lautlos gleich in ihren Silben.
Ein Vers ist zu dem andern wie ein Bruder,
obwohl sie zueinander flüstern: rück ein wenig.
Doch jeder ist so weit vom Himmelstor entfernt,
so arm, so dicht, so rein, daß – Einigkeit sie füllt…
… Doch horch! Du hörst: dort, in dem kalten Finstern,
dort weint ja jemand, jemand flüstert ängstlich.
Jemand ist dort dem Winter ausgeliefert.
Und weint. Dort ist im Dunkel jemand…
… Wer schluchzt denn dort. Bist du’s, mein Engel,
der auf die Rückkehr meiner Liebe wartet, unterm Schnee,
so wie der Lethefluß…
… Nein, das bin ich, John Donne, ich, deine Seele.
Ich trauere verlassen hier in Himmelshöhen,
daß ich mit meiner Arbeit alle die Gefühle
und die Gedanken, schwer wie Ketten, schuf.
Mit dieser Last beherrschtest du den Flug
durch Leidenschaften, Sünden, und noch höher.
Du warst ein Vogel, und du sahst dein Volk,
ganz, überall, über den Dächern segelnd…
… Du hast
selbst Gott umflogen, und du jagtest weiter.
Doch diese Last wird dich nicht aufwärts lassen,
seit diese Welt – nur hundert Türme
und ein paar Flüsse, wo dem Blick nach unten
das schreckliche Gesicht fast gar nicht schrecklich dünkt…
… Doch höre! Während ich dein Nachtquartier mit Weinen
bestürze hier – fällt in das Dunkel, ungeschmelzt,
der Schnee und näht hier unsere Entzweiung,
und hin und her fliegt, hin und her, die Nadel.
Ich bin es nicht, der schluchzt. John Donne, du weinst… 

Übersetzer: Ralph Dutli  
 
 

JOHN DONNE

GEISTLICHES SONNETT N° 10

Erstürme mein Herz! Dreifaltiger Gott, der scheu
Bis jetzt nur anklopft, haucht, heilsam bespricht.
O wirf mich nieder, daß ich mich aufricht!
Brauch deine Kraft, blas, brenn und mach mich neu!

Ich eine Stadt, dem Feind verpfändet, freu
Mich auf dein Kommen. All mein Mühn hilft nicht:
Vernunft, Dein Vogt, dem mich verteidigen Pflicht,
Wird bald gefaßt, da schwach und ungetreu,

Doch innigst lieb ich Dich, möcht, daß Du mich
Auch liebst. Und bin dem Feind versprochen doch!
Löse, zerhau den Knoten, scheide mich,

Reiß mich zu Dir, wirf mich ins Kerkerloch!
Ich bin ich nicht frei, außer Du bändest mich.
Ich bin nicht rein, außer Du schändest mich.

Übersetzer: Wolfgang Breitwiesers


Dienstag, 14. Februar 2012

Nochmals der Blaue Reiter, diesmal in Rot - Jawlensky und der Tänzer Sacharoff


Alexei Georgijewitsch Jawlenski
Alexei "von" Jawlensky, 1865 - 1941 russisch deutcher Maler, Expressionist und "Mitglied" des Blauen Reiters.

&

 Alexander Sacharoff, 
geboren als Alexander Zuckermann, 1886 - 1963, zusammen mit seiner künstlerischen Partnerin Clotilde von Derp (1892–1974, geboren als Clotilde Margarete Anna Edle von der Planitz), die er 1919 heiratete, schuf er eine eigene Form des modernen Tanzes, die er „abstrakte Pantomime“ nannte. Die beiden gelten als eines der berühmtesten Paare in der Geschichte des Tanzes. 
(Wiki)

Alexei von Jawlenski, Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff 1909
Alexei von Jawlenski, Tanzstudie nach Alexander Sacharoff, 1912

Marianne von Werefkin, Der Tänzer Sacharoff, 1909

androgyn aus griechisch anēr = Mann und gynē = Frau

Plakat Sacharoff

Alexej von Jawlensky ca. 1912 Plakat für Alexander Sacharoff

Im Jahr 1910 debütierte Alexander Sacharoff (1886 – 1963) im Münchner Odeon als Solotänzer. Mit seiner androgynen Erscheinung löste er beim Publikum schlicht Entsetzen aus. Seine Darbietungen wurden als "pervers und unmoralisch" empfunden.
Der in der Ukraine geborene Tanzkünstler war 1905 über Sankt Petersburg und Paris nach München gekommen. Er wurde Mitglied der "Neuen Künstler-Vereinigung München" und arbeitete mit dem Maler Wassily Kandinsky und dem Komponisten Thomas von Hartmann an der Verwirklichung eines synästhetischen Kunstwerks. Kandinsky erinnert sich an dieses Projekt: "Der Musiker suchte aus einer Reihe meiner Aquarelle dasjenige aus, das ihm in musikalischer Hinsicht am klarsten erschien. In Abwesenheit des Tänzers spielte er dieses Aquarell. Dann kam der Tänzer dazu, ihm wurde das Musikstück vorgespielt, er setzte es in Tanz um und sollte danach das Aquarell erraten, das er getanzt hatte."
Das seltene Plakat ist "vor der Schrift", das heißt ohne den Aufdruck für eine konkrete Veranstaltung. Der Entwurf wurde jüngst Alexej von Jawlensky (1864 – 1941) zugeschrieben, von dem das berühmte Porträt des Tänzers in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus stammt.



 
„… Clotilde Sacharoff und ich tanzten nicht mit Musik oder begleitet von Musik: Wir tanzten Musik. Wir machten die Musik sichtbar, indem wir mit den Mitteln der Bewegung ausdrückten, was der Komponist mit den Mitteln des Klangs ausgedrückt hat… Nichts weniger als die vom Komponisten erlebten und vermittels seiner Kunst in Klang verwandelten Seelenzustände, Eindrücke, Empfindungen… Unser Ziel war, den von der Klangmusik ausgedrückten Sinn in die Musik der Bewegung zu übersetzen.“ A.S.


Montag, 13. Februar 2012

Der blaue Winter



„Den Namen Der Blaue Reiter erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf. Beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst.“ W.K.



Wassily Kandinsky Winterlandschaft 1909



„Blau ist die einzige Farbe, bei der ich mich wohlfühle.“ F. M.


Franz Marc 1913 Bison im Winter oder Roter Bison



"Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels." W.K.


„In Wirklichkeit gab es nie eine Vereinigung ‚Der Blaue Reiter’, auch keine ‚Gruppe‘, wie es oft irrtümlich beschrieben wird. Marc und ich nahmen das, was uns richtig erschien, […] ohne sich um irgendwelche Meinungen oder Wünsche zu kümmern.“ W.K.




Sonntag, 12. Februar 2012

Wedernoch - Samuel Beckett


WEDER

hin und her im Schatten von innerem zu äusserem Schatten
von undurchdringbarem Selbst zum undurchdringbaren Nichtselbst
über weder noch
wie zwischen zwei hellen Zufluchten, deren Türen einmal
angenähert sachte schließen, einmal weggedreht
sachte wieder öffnen
gelockt zurück und vor und weg gedreht
den Weg nicht achtend, zielend auf den einen Schimmer
oder den anderen
ungehörte Schritte einziger Ton
bis endlich anhalten für immer, abwesend für immer
vom Selbst und anderem
dann kein Ton
dann sachte nichtlöschendes Licht auf das nicht beachtete
noch weder
unsägliche Heim

Übersetzung vom künstlerischen Leitungsteam "Neither" und mir


NEITHER

to and fro in shadow from inner to outer shadow
from impenetrable self to impenetrable unself
by way of neither
as between two lit refuges whose doors once
neared gently close, once away turned from
gently part again
beckoned back and forth and turned away
heedless of the way, intent on the one gleam
or the other
unheard footfalls only sound
till at last halt for good, absent for good
from self and other
then no sound
then gently light unfading on that unheeded
neither
unspeakable home

Samuel Beckett