Wir demonstrieren
- ein merkwürdiger Vorgang. Mehr oder weniger Menschen treffen sich und laufen
langsam, stockend eine lange Weile auf vorgeplantem Weg, um ihre Zustimmung,
Ablehnung, Empörung, Überzeugung durch eben dieses Bewegen zum Ausdruck zu
bringen.
Eine Demonstration (von lateinisch demonstrare, zeigen, hinweisen, nachweisen) im politischen Sinne ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende Versammlung mehrerer Personen zum Zwecke der Meinungsäußerung.
Meine ersten Demonstrations-Erfahrungen in den Tiefen der DDR waren geprägt vom jährlichen Aufmarsch der Berliner Bühnen zum 1. Mai, da bin ich als Baby im Kinderwagen mitgefahren worden, als ungeduldiges Kind, als unwillige Jugendliche und schließlich als pflichtbewußtes Mitglied des Deutschen Theaters. Mit Politik, so verdrängte ich lange, hätte das wenig zu tun, es schien mir mehr wie ein jährliches Rendezvous mit den Leuten von den anderen Berliner Theatern, ein Mini-Ferienlager.
Treffpunkt
irgendwo ums Rathaus rum, dann Latschen unter Beschallung. "Du brauchst
keine Brille, um Deinen Weg zu finden" sang, wahrscheinlich, der
Oktoberclub und ich, schwer kurzsichtig, hatte meine Zweifel. Zum offiziellen
Höhepunkt an der Tribüne auf dem Marx-Engels-Platz vorbei, vorbei an hölzern
winkenden, greisen Politikern, mysteriösen, chinesischen Delegierten und
"unser" Hans-Peter Minetti, Mitglied des ZK der SED, der ekstatisch
grinsend mit beiden Händen wild wackelte, während der Wind seine dreifach über
den Kopf gelegte Haarsträhne in ein halbmeterlanges Fähnchen verwehte. Erst
danach begann das Eigentliche, Eisbein und Erbspüree im BE. Kollegen treffen,
quatschen, ein heiterer, geselliger Tag, vorstellungsfrei.
Und es
gab auch die Luxemburg/Liebknecht Demo am 15. Januar, dem Gedenktag ihrer
Ermordung, ein, im Rückblick, surrealer Vorgang, um die zu ehren, die beim
Anblick der Realitäten der DDR, in Tränen der Wut ausgebrochen wären.
Uralter
DDR Witz. Karl Marx wird durch DNA-Cloning wieder zum Leben erweckt. Er bekommt
eine Stunde Redezeit im DDR-Fernsehen, die wird aber durch Sondermeldungen des
ZK der SED immer weiter verkürzt. Am Ende bleiben ihm fünf Minuten. Er schweigt
lange, sehr lange und sagt dann: " Proletarier aller Länder,
Entschuldigung."
1989. Im Oktober sah ich, wie friedlich Demonstrierende von der Volkspolizei brutal zusammengetrieben wurden und im November, wie ein Volk die Strasse mit Würde für sich zurückeroberte. Aber "Wir sind das Volk" verschob sich schnell zu "Wir sind ein Volk" und eine gänzlich neue, andere Zeit begann.
Zwischendurch bin ich nur einmal marschiert, was für ein grässliches Wort, für den Bau des neuen Gebäudes der Schauspielschule "Ernst Busch".
Ein neues Kapitel, so dachte ich, begann mit der "Glänzenden Demonstration" gegen die AfD-Kundgebung in Berlin, Tausende in goldener Kostümierung, meist strahlend leuchtenden Feuerschutzplanen, liefen bei der im Mai 2019 durch Berlin, später dann noch einmal. Friedliche, heitere, herrlich bunte Spaziergänge gegen Rechts.
Und
jetzt. Jetzt.
Hygienedemos.
Querfront, Unruhe, nervöse Aggression und unterschwellige Propaganda. Manche
halten das Grundgesetz in der Hand, andere tragen die silberne Querdenkerbommel
um den Hals, manche meditieren für den Frieden, manche schwafeln von jüdischen,
imperialistischen, reptiloiden Verschwörungen. Der frishgegründete
"Widerstand 2020" will viel und weiß nur nicht genau was. Alt-Nazis,
AfDler, Antifa-Anhänger, Öko-Hippies, Psychotiker, Q-Anon-Gläubige, Impfhasser,
durchschnittliche Dumpfbacken, wohlstandsverwahrloste Yuppies und verängstigte
Menschen aller Schichten, deren Sorge und Verunsicherung, sie verzweifelt nach
Erklärungen und Schuldigen suchen läßt.
Einer
vergleicht die Eindämmungsversuche der Regierung mit dem Ermächtigungsgesetz
von 1933. Eine Frau, die Impfungen ablehnt, trägt den gelben Judenstern des
Dritten Reiches, mit der Inschrift "Nicht geimpft". Schwitzige und
nervende Stoffmasken werden zu Körperverstümmelungen hochstilisiert, das Verbot
von Parties zu unmenschlicher Isolation. Und wir durften wochenlang nicht einkaufen
gehen!
Ist es
Bill Gates, der uns durch subkutane Chipeinpflanzung gleichschalten will? Ist
es die Mafia? Ist es MacDonald? Oder die Nazis, die unterirdisch am Südpol oder
auf den Mond weiterb agieren?Wird die Zwangsimpfung kommen, wenn es einst ein
Impfserum geben wird? Wird das Bargeld abgeschafft werden, um uns alle in den
Würgegriff der Banken zu zwingen? Wer will die Welt regieren?
Nur zum
Atemholen: die da über die brutalen Eingriffe in ihre Freiheit schimpfen, tuen
es, während sie nicht verhaftet, erschossen oder sonstwie verletzt werden. Es
wurden keine Parteien verboten, keine Wahlen abgesagt, keine Zeitungen
verboten.
Was ist
mit uns los? Wir haben Glück, nicht so viele Tote wie New York oder Bergamo
oder wer weiß wo. Wir haben Glück im Unglück. Ein wohlhabendes Land mit
medizinischer Versorgung für jeden, auch wenn es Privatversicherte unverdient
besser haben. Wir hatten einen bequemen Lockdown, mit Spaziergängen und der
Möglichkeit jederzeit Lebensmittel u.ä. einzukaufen. Hier wird niemand verhungern.
Das ist anderswo anders. In Indien, im Iran, in New York.
Vielleicht geht es einfach vorbei, vielleicht kommt die gefürchtete Zweite Welle. Wer weiß es.
Und das
ist der Punkt. Ich weiß es nicht. Und scheinbar weiß es niemand mit Sicherheit.
Also wasche ich brav meine Hände und stülpe eine blöde Maske über mein
Gesicht.
Und
abschließend ohne direkten Zusammenhang, zum Muttertag, ein Photo, das ich
liebe: